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Sex wird erfunden

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Die geschlechtliche Fortpflanzung ist nicht nur wegen der damit verbundenen sinnlichen Erfahrungen von Vorteil. Eigentlich sind diese auch nur ein biologischer Trick, um Lebewesen dazu zu bringen, sich der biologisch vorteilhaften Arterhaltungsmethode zu bedienen.

Der eigentliche Witz der sexuellen Fortpflanzung besteht darin, dass die durch sie entstehenden Nachkommen nicht mit einem Elternteil identisch sind, sondern sich sowohl untereinander als auch von den Eltern unterscheiden. Bei Menschen ist das äußerlich gut zu erkennen. Bei anderen Lebewesen, deren Aussehen uns nicht vertraut ist, fällt es oft nicht auf. Wenn wir solche Tiere, zum Beispiel Fische, einem Test unterziehen, können wir deren Unterschiede aber trotzdem feststellen, zum Beispiel mit einem »genetischen Fingerabdruck«.

Betrachten wir eine einbrechende Eiszeit: Sinkt die Wassertemperatur eines Meeres dabei zum Beispiel um zehn Grad Celsius, so droht den meisten darin lebenden Fischen der Erfrierungstod. Einige Fische jedoch überleben den andauernden Kälteeinfluss. Sie tragen eine Eigenschaft in sich, die mit bloßem Auge nicht sichtbar ist: die Fähigkeit, ein Gefrierschutzmittel herzustellen. Die Frostschutzflüssigkeit ist anders zusammengesetzt als die Mittel, die im Winter dem Kühlwasser von Autos zugesetzt werden. Solche technischen Flüssigkeiten enthalten Verbindungen, die Alkohol ähneln, während der tierische Frostschutz durch ein Eiweiß (Protein) funktioniert. Man nennt es einfach Frostschutzprotein, abgekürzt FSP. Die Natur hat tatsächlich gefriergeschützte Fische hervorgebracht. Sie leben in den Eismeeren der Welt und zeugen Nachkommen, die sich immer noch voneinander unterscheiden. Es findet aber eine begünstigende Auswahl der Gefrierschutzeigenschaft statt. Kältefeste Fischeltern vererben das Gen für das Gefrierschutzmittel (meist) an ihre Kinder. Die Kinder sind deshalb besonders kältefest.

Gelegentlich besitzen aber einige Abkömmlinge der »Frostschutzeltern« keinen oder einen anders zusammengesetzten Frostschutz. Wäre es in diesem Moment nicht praktisch, wenn alle Nachkommen völlig gleich wären, so wie die Nachkommen der unsterblichen Räder- und Kugeltiere? So würde doch sichergestellt, dass der erwünschte Schutz nicht verloren ginge.

Nein, es wäre nicht praktisch. Eine Zeit lang könnten sich die gefriergeschützten Tiere auf diese Art zwar schnell vermehren. Aber die nächste Umweltveränderung kommt bestimmt, und an sie könnten sich die identischen Tiere ohne Sex nicht mehr anpassen. Deshalb ist es wichtig, dass stets einige Nachkommen genetisch ein wenig abgewandelt sind. Nur so können Erbeigenschaften auf Probe entstehen, die vielleicht – irgendwann einmal nützlich sein werden. Das gilt auch für Menschen.

Als Erste erkannten Charles Darwin und Alfred Russel Wallace diese Zusammenhänge. Am 1. Juli 1858 ließ Darwin vor der Königlichen Linne-Gesellschaft in London (Linnean Society of London) die Grundzüge der Evolutionstheorie vorlesen, die auf zwei Erkenntnissen beruht. Erstens: Alle Arten neigen zur Bildung leicht abgewandelter Einzeltiere, das heißt Mutanten (entweder durch Sex oder, bei unsterblichen Tiere in viel geringerem Maß, durch die in allen Lebewesen auftretenden, plötzlichen, kleinsten chemischen Veränderungen der Erbsubstanz). Zweitens: Auf Mutanten wirken im Laufe vieler Generationen auslesende Umwelteinwirkungen. Dadurch passen sich Arten der Umwelt an. Jedes neue Lebewesen einer Art kann dieser biologischen Fortentwicklung etwas Neues hinzufügen und ist damit die kleinste Einheit der natürlichen Auslese. Nur weil sich manche Mitglieder einer Art von anderen unterscheiden, kann sich das Leben fortentwickeln, an veränderte Umweltverhältnisse anpassen und neue Lebensräume für sich erschließen.

Sexuelle Tätigkeit ist dazu im Grunde nicht zwingend notwendig: Mutanten können auch, wie beschrieben, bei nichtsexuellen Zellteilungen durch plötzliche Mutationen entstehen. Der große Vorteil der Sexualität liegt aber darin, dass ständig und häufig neue Zusammenstellungen verschiedener Erbeigenschaften erprobt werden. So bleibt die Umweltanpassung auch bei Wesen erhalten, die nur wenige Nachkommen haben. Aber auch Tiere mit nach wie vor hoher Nachkommenzahl nutzen den Vorteil sexueller Vermehrung: Wasserflöhe etwa schalten bei für sie schlechten Umweltbedingungen von der Jungfernzeugung (nichtsexuell, identische Nachkommen) zeitweise auf die sexuelle Fortpflanzung um. Hier wird die Idee des Sex besonders klar: Umweltanpassung.

Sogar manche Bakterien bedienen sich der aktiven Vermischung von Erbgut als geeigneten Mittels zur genetischen Zukunftsvorsorge. Die scheinbar einfache Form des Bakteriensex besteht darin, über kurzerhand gebildete Zell-zu-Zell-Brücken kleine DNA-Stücke mit einem anderen Bakterium derselben Art auszutauschen und sich später mit der so veränderten Erbinformation zu vermehren.

Mehrzellige Lebewesen haben es da schwerer. Sie können einzelne ihrer Zellen nicht mit denen anderer Mitglieder ihrer Art durch Brücken verbinden. Daher setzen Mehrzeller auf ihre Nachkommen und kombinieren die Erbsubstanz von Spermien und Eizellen.

Um die Art mit genügender genetischer Vielfalt auszustatten, werden manche mehrzelligen Organismen, beispielsweise manche Fadenwürmer und Schnecken, sogar zu Zwittern, die sowohl Eizellen als auch Spermien in sich bilden. Diese nutzen sie zur gegenseitigen Befruchtung (und damit vorbeugender Neukombination von DNA), in Notfällen aber manchmal auch zur Selbstbefruchtung.

1 Erste Zellen sind vor etwa drei Milliarden Jahren entstanden, was deren versteinerte Abbilder belegen. In der Zeit davor, also in höchstens einer Milliarde von Jahren, entstanden Biobausteine. Wenn man die gesamte Zeit, seit es lebende Zellen gibt, einem Jahr gleichsetzt, sind menschenähnliche Wesen erst an Silvester um Viertel nach drei nachmittags auf der belebten Erde erschienen. Vor ihnen, im Oktober dieses einen Jahres, gab es bereits alle großen Gruppen wirbelloser Tiere, und um den 17. Dezember herum starben die Dinosaurier aus.

2 Dekker, H. (1913) Alexis Carrelund die Züchtung von Geweben erwachsener Warmblüter außerhalb des Organismus, Kosmos Handweiser für Naturfreunde 10 (1), S. 57.

3 Ebd., S. 61.

4 Nemilow, A. W. (1927) Leben und Tod, Leipzig, S. 99.

5 Die Beobachtung, dass Zellen das Alter des sie umgebenden Körpers kennen, hat man nicht nur an Fibroblasten, sondern auch bei Lungen-, Haut-, Leber-, Arterienwand-, Augenlinsen- und T-Zellen (einer bestimmten Zellsorte des Immunsystems) gemacht. Man benutzte sicherheitshalber Gewebe von abgetriebenen Föten bis hin zu Zellen neunzigjähriger Greise. Es bestätigte sich, dass alle Zellen – auch losgelöst von ihren ursprünglichen Nachbarzellen – ihr Zellalter kennen. Zellen aus jungen Körpern vollführten bis zu sechzig Teilungen, Gewebe von älteren Menschen teilte sich mit zunehmendem Lebensalter der Spender immer seltener.

6 Meine Rechnung: Ein Zuckerwürfel wiegt drei Gramm, das entspricht 1022 Zuckermolekülen (Zuckerteilchen). Die Meere enthalten insgesamt 1021 Liter Wasser. Das verrührte Würfelchen ergibt für jeden Liter Meerwasser zehn und damit pro Tasse zwei Zuckerteilchen.

Aus einem 1933 gehaltenen Vortrag des deutschen Chemikers Otto Hahn, des Mitentdeckers der Kernspaltung, stammt ein weiterer schöner Vergleich, der die Größenordnungen in der Botenstoff- und Teilchenwelt veranschaulicht: »Stellen Sie sich eine gewöhnliche Glühbirne vor. In dieser herrscht ein Vakuum. Würde man ein so winziges Loch in die Glühbirne bohren, dass pro Sekunde eine Million Luftmoleküle in das Vakuum gesaugt würden, so würde es mehr als 100 Millionen Jahre dauern, bevor im Inneren der Glühbirne derselbe Luftdruck (und damit dieselbe Luftteilchenzahl) herrschte wie auf der übrigen Erde.«

7 Sparke sind Adler-Blumenpflanzen (Spergulaceen), eher kleine, oft krautförmige, zweikeimblättrige Pflanzen. Die Samen sind kreisrund und ringsum geflügelt.

8 Die vermutlich älteste lebende Pflanze ist laut dpa eine Huon-Kiefer im tasmanischen Bergland, die möglicherweise dreißigtausend Jahre alt ist.

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