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Adlige Stammbäume

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Der europäische Adel war eine stark binnendifferenzierte, gut etablierte und resiliente Gruppe. Um sich Reichtum, Macht und Status zu sichern, bedurfte es der ständigen und bisweilen rücksichtslosen Anpassung. In einigen Teilen Europas stellte Landbesitz die grundlegende Ressource des Adels dar, anderswo streute er seine Investitionen und Aktivitäten breiter. Es ging dabei um nichts anderes als das „Survival of the fittest“, denn in der europäischen Gesellschaft gab es keine potenziell gewalttätigere Kraft als den Adel. Die schwächsten Mitglieder – arme Adlige, die vielleicht über eine lange Ahnenreihe, aber wenig Ressourcen verfügten – blieben auf der Strecke und konnten kein ihrem Status entsprechendes Leben mehr führen. Sie wurden durch frisches blaues Blut ersetzt, das aus zwei Quellen sprudelte: Zum einen konnten Familien als Lohn für die ihrem König oder dem Staat geleisteten Dienste in den Adelsstand erhoben werden, zum anderen bestand die Möglichkeit der Hypogamie, der Heirat „nach unten“, die den europäischen Adel lange vor dem Aussterben bewahrte. Hinter der Ideologie, die den adligen Stand und seine Privilegien rechtfertigte, stand nicht der adlige Dienst am Christentum, sondern sein Stammbaum.

Weil die Bibel Christi Abstammung auf die Patriarchen des Alten Testaments zurückführte, hatte die Genealogie eine starke religiöse Legitimation. Sie war patrilinear, weil schon in der Bibel die Abfolge von Vater und Sohn im Vordergrund stand. Abstammung war im Übrigen nicht auf den Adel, ja, nicht einmal auf die Menschheit beschränkt. Sie war individuell und kollektiv zugleich, Bestandteil einer langen Kette des Seins, die bis ins Tierreich führte. Die Genealogie hatte unmittelbare und praktische Bedeutung (wer erbte, wer war Rechtsnachfolger?), doch sie war auch auf allgemeinere Weise der Schlüssel zu Patrimonium und Legitimität. Im Gewohnheitsrecht aller europäischen Länder ging es stets um die Kontinuität der Abstammung, wie auch immer diese im Einzelnen gesichert werden mochte. Anspruch auf Legitimität ließ sich am besten durch Abstammung erheben. Die Verehrung der Vorfahren war ein Mittel, den Status quo zu rechtfertigen, und zugleich Ansporn, sich ihrer als würdig zu erweisen. Eine in eher bescheidenem Wohlstand lebende Familie des Landadels in Devon mit dem unglücklichen Namen „Suckbitches“ war sich ihres Standes gerade deshalb bewusst, weil es, wie ein Familienmitglied im späteren 16. Jahrhundert sagte, „Gott gefallen hatte, einem Namen [nämlich dem der Familie] unter tausend anderen solche Dauer zu verleihen, dass er so viele Menschenalter an einem Ort erhalten blieb.“ Somit konnten die Suckbitches auf ihre reicheren Adelsnachbarn, die Courtneys, mit Fug und Recht herabblicken.

Es war wichtig, über einen Familienstammbaum zu verfügen. George Owen Harry, ein walisischer Altertumsforscher aus dem frühen 17. Jahrhundert, riet jedem Waliser Gentleman „von gemeinerer Art“, sich einen Familienstammbaum anfertigen zu lassen. Wenn der Gentleman nicht dazu in der Lage sei, sich an die Namen seiner vier Urgroßväter und deren Ehefrauen zu erinnern, sei er wohl „mit sich selbst nicht im Reinen“. Christoph von Zimmern, ein Adliger aus Schwaben, sparte jedenfalls keine Mühe bei der Zusammenstellung seiner Familienchronik mitsamt kolorierten Wappen. Die Abstammung hatte reale Bedeutung, da es in Streitigkeiten um Eigentum und Privilegien häufig darum ging, das eigene Erbrecht nachzuweisen. Zudem konnte man dank der Geburt Anspruch auf einen Platz im Gefolge eines Adligen, eine Kirchenbank, ein Familiengrab, ein College oder eine Universität erheben. Die Humanisten verkündeten zwar, echter Adel beruhe auf Tugend und Bildung, doch wusste jeder, dass in der Realität ein Stammbaum wichtiger war, weshalb große Anstrengungen unternommen wurden, um einen solchen zu Papier zu bringen und stichhaltig zu belegen.

So wurde Abstammung zur Schau gestellt, farbig gestaltet, mit Emblemen versehen und dokumentiert. Als der französische König Franz I. 1515 mit allem Prunk und Pomp in Lyon einzog, wurde ihm ein Gemälde in der Art der Wurzel-Jesse-Darstellungen, das die Valois-Dynastie abbildete, präsentiert. Als Erzherzogin Isabella 1615 in Brüssel einzog, begleitete sie ein Wagen mit einem schmiedeeisernen Gitter, auf dem ihre Vorfahren zu sehen waren. Kirchenschiffe und -chöre, Kamine und karitative Institutionen boten Gelegenheit zur genealogischen Selbstdarstellung. Wappen und heraldische Motive überzogen Europas Bauten und materielle Besitztümer. Durch Totenschilde und Denkmäler, farbige Glasfenster und Keramik, Silbergeschirr und Möbel prägte der Adel seine Zeichen der Umwelt auf. Es war die Aufwertung der Vergangenheit zugunsten der Gegenwart.

Was da so zirkulierte, war kreativ, wenn nicht gar erfunden; neues Adelsblut in alten Familienschläuchen, falsche Ansprüche, die genauer zu untersuchen die aggressive Vorherrschaft von Familien wie Russell, Howard, Cecil, Sidney oder Holles (um nur englische Beispiele zu nennen) den Zeitgenossen verbot. Einige Ansprüche beruhten lediglich auf mündlichem Zeugnis. Der aus Yorkshire gebürtige Sir Thomas Wentworth, bei König Karl I. in hoher Gunst, sah seine altehrwürdige Vorrangstellung dadurch bestätigt, dass sein Vater erklärt hatte, er habe „gehört, dass unser Name und unsere Nachkommenschaft schon lange vor der Eroberung verehrt worden sei und sich eines guten Rufs erfreut habe.“ Vage erinnerte er sich daran, dass es „bis zum heutigen Tag in irgendeiner Stadt in den Niederlanden darüber Aufzeichnungen gibt“. Doch musste der Adel sich auf die zunehmende Bedeutung schriftlicher Aufzeichnungen einstellen. Die Herrscher wollten in Wappenrollen registriert wissen, wer tatsächlich zum Adel gehörte. In England war das die Aufgabe der Herolde, die 1555 in das königliche Wappenamt (College of Arms) aufgenommen wurden. Thomas Benolt führte als Erster von ihnen in seinem Zuständigkeitsgebiet eine Visitationsreise durch, um vor Ort die Ansprüche all derer zu prüfen, die Wappen im Schilde führten. Ausgenommen blieb der Hochadel (Peerage), während der gewöhnliche Landadel (Gentry) mit entsprechenden Dokumenten vor dem Herold zu erscheinen hatte. Den Herrschenden ging es dabei weniger darum, die Zahl möglicher Neu-Adliger zu beschränken, als vielmehr darum, die Adelsprivilegien zu regulieren und von ihnen zu profitieren.

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals, wo der Anspruch auf einen Adelstitel mit Steuerbefreiung einherging, begegnete man Parvenüs mit Ablehnung. Untersuchungen durch spezielle Beauftragte wurden anberaumt, in denen die adligen Familien ihren Titel über drei Generationen zurück nachweisen mussten. Der Adel der Basse-Normandie wurde zwischen 1500 und 1650 achtmal einer solchen Untersuchung unterzogen, und die Ergebnisse standen keinesfalls von vornherein fest. Die 1634/35 in der Region von Caen durchgeführten Nachforschungen ergaben, dass von den 994 Familien 114 keine Nachweise über ihren Titel erbringen konnten. In anderen Gegenden von Europa wurden solche Untersuchungen etwas summarischer durchgeführt. 1626 entzog König Gustav Adolf von Schweden drei Vierteln derer, die den Adelsrang beanspruchten, den Titel, sodass von 400 Familien nur 126 übrig blieben. Er begründete diese Maßnahme damit, dass die betreffenden Familien zu arm seien, um adligen Rang beanspruchen zu können.

Das Aufheben um die Stammbäume führte dazu, dass Altertumsforscher damit beauftragt wurden, Abstammungslinien zu erforschen und zu veröffentlichen. John Lambert von Kirkby Malham, Großvater des gleichnamigen Generals unter Cromwell und Amateur-Genealoge, entdeckte einen Mitstreiter von Wilhelm dem Eroberer namens Ranulph de Lambert, von dem abzustammen er behauptete. Er veröffentlichte entsprechende Urkunden, die er wahrscheinlich selbst gefälscht hatte. William Cecil, Staatssekretär unter Elisabeth I., finanzierte Nachforschungen, um zu beweisen, dass er von walisischen Fürsten abstamme, die Gefährten von König Harald gewesen waren. Sein Sohn Robert fand das allerdings langweilig und sprach von seines Vaters „unsinnigen Spielereien“ und „Absurditäten“. Anfang des 17. Jahrhunderts gab es dennoch keine Zweifel mehr an der Herkunft eines Cecil. 1650 war der Adel vollends auf dem Weg zu einer klar klassifizierten und definierten Elite, die von ihrer Abstammung das Recht auf Besitz und Herrschaft ableitete.

Genealogien wurden auf unterschiedliche Weisen dargestellt, doch die Schwierigkeit lag stets darin, sowohl Abstammung als auch Blutsverwandtschaft abzubilden. Das war nicht zuletzt deshalb wichtig, um Heiraten zwischen nahen Verwandten zu verhindern. Im römischen Recht bewanderte Juristen fanden einen Weg, doch trat die Abstammungslinie zugunsten der Verwandtschaften mit anderen Familien in den Hintergrund. Indem die Darstellungen den Akzent auf die Verheiratung von Individuen legten, ließen sie außerdem erkennen, dass Abstammung nicht notwendigerweise patrilinear zu sein hatte. In deutschen Stammbäumen wurde die familiäre Linie bisweilen als aus dem Bauch der Frau kommend dargestellt. In England war es üblich, Heiraten als Händedruck zwischen zwei Wappenschilden zu kennzeichnen, wobei die Nachkommen den vereinten Händen entsprangen. Wie dem auch sei, die Heirat stand im Brennpunkt.

Wie aber schaffte man es, eine gute Partie zu arrangieren? Es war eine ebenso heikle Angelegenheit wie Bridge mit einem unzuverlässigen Partner. Viele Punkte waren zu bedenken: das Alter der potenziellen Gattin, ihre Fähigkeit, einen Erben zu gebären, ihre Verwandten und Verbindungen, inwiefern ihr Besitz den eigenen ergänzen konnte, wie es um ihre Aussichten als potenzielle Erbin stand. Unter solchen Umständen war gegenseitige Zuneigung in der Regel nicht die Grundlage für Heirat und Ehe (obwohl sie aus der Eheschließung resultieren konnte). Häufig fiel die Wahl auch auf das Zölibat, was die Fortsetzung der Abstammungslinie gefährdete. In manchen Gegenden von Norditalien (etwa in der venezianischen terra firma und im Herzogtum Mailand) war es üblich, die Heirat auf einen männlichen Vertreter pro Generation zu beschränken, um die Entstehung von Seitenlinien zu vermeiden. Bei Heiratsabsichten konnte der Adel sich an den Fürstenhöfen als ergiebigen Heiratsmärkten umtun und sich dabei auf die Mittlerdienste der Diplomaten, Beamten und Finanzräte am Hofe verlassen, die allesamt erfahrene Eheanbahner waren. Allerdings konnten die Fürsten ihr Veto einlegen. Die französischen Könige intervenierten regelmäßig, indem sie Verbindungen verhinderten oder unwilligen Familien eine Heirat aufzwangen. In England nutzte eine extra zu diesem Zweck eingerichtete Behörde (der 1540 etablierte und nach dem Ende des Bürgerkriegs 1646 zusammen mit allen anderen feudalen Institutionen abgeschaffte „Court of Wards and Liveries“) intensiv das Prärogativrecht der Monarchie, für die verwaisten Erben der Aristokratie zu sorgen, was Gelegenheit bot, ihren Besitz auszuplündern und auf ihre Heiratsverbindungen Einfluss zu nehmen. Immerhin konnten die vornehmsten Familien erwarten, auf dem Heiratsmarkt den Preis davonzutragen, was indes nicht für die mittleren und unteren Ränge des Adels galt, von denen das Schicksal der Klasse als Ganzer abhing. Die stark steigenden Mitgiftkosten machten es ihnen noch schwerer (obwohl deren Anstieg sich in allen adligen Schichten bemerkbar machte), den Anschluss nicht zu verlieren.

Das verlorene Paradies

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