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Merkmale sozialer Distinktion

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Europas stratifizierte Gesellschaften standen vor der schwierigen Aufgabe, Gefühle wie Hass oder Groll im Zaum zu halten. Familienfehden und Sozialneid wirkten sich zerstörerisch aus, wenn in einer Gesellschaft der Reichtum begrenzt, allseits begehrt und nur auf Kosten anderer zu erwerben war. Der potenzielle Schaden wurde durch den religiösen Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken noch verschärft. Ein Umgang damit waren rituelle Gesten und sonstige kulturelle Ausdrucksformen, die der sozialen Distinktion dienten. In einer ständisch gegliederten Gesellschaft waren solche Unterscheidungsmerkmale die tägliche Manifestation dessen, was das Christentum zusammenhielt.

1580 begab sich der polnische Magnat Stanisław Siecienski von Masuren in das südostpolnische Grenzgebiet um Przemyśl, eine Stadt, die inmitten von Adelslatifundien an der Straße durch die Karpaten nach Ungarn lag. Dort errichtete er einen Palast um einen Innenhof. Dessen vier Flügel standen für die vier Weltgegenden, und die Ecktürme erhielten ihre Namen nach den tragenden Säulen der Ständegesellschaft: der „Göttliche“, der „Päpstliche“, der „Königliche“ und der „Adlige“. Vor dem Palast lag ein See, über den eine Brücke zum Eingangstor führte, das ein viereckiger Glockenturm zierte. Hier wurde 1608 das polnische Königspaar begrüßt: Sigismund III. und Constanze von Österreich. Begrüßungs- und Abschiedszeremonien waren wichtige Rituale einer Ständegesellschaft, und nirgendwo waren sie ausgefeilter als in dem „Paradies“ des polnisch-litauischen Edelmanns. Zur Begrüßung waren diverse Arten des Verbeugens, Händeschüttelns, Küssens und Knicksens vorgesehen. Der Turm über dem Tor diente dem Zweck, dass Bedienstete die Straße beobachten und hochwohlgeborenen Besuch rechtzeitig melden konnten, um ihn am Tor standesgemäß zu begrüßen. Hüte spielten bei der Zeremonie eine wichtige Rolle: Sie wurden im Moment der Verbeugung so tief gezogen, dass sie den Boden streiften. Bei offiziellen Feierlichkeiten in Polen wurden sie bei jeder Erwähnung von König oder Papst gelüftet. Die körperliche Umarmung, die man zunächst als eher plebejischen Brauch betrachtet hatte, wurde zum unverzichtbaren Element in den Zeremonien der Adligen. Bauern waren verpflichtet, ihren Herren die Hände zu küssen, und der niedere Adel sollte dasselbe bei höhergestellten Magnaten tun, die je nach dem Rang des betreffenden Individuums die Handschuhe auszogen oder nicht.

Wie man ging, sich kleidete, sprach und ritt – all das zeigte an, wer man war. Benimmbücher unterwiesen darin, wie man die Körpersprache einsetzte, um die eigenen Emotionen zu zügeln und den Raum um sich herum zu beherrschen. Einige Gesten oder Haltungen wurden nicht gebilligt, so etwa das männlich-adlige Imponiergehabe, das wir auf vielen Bildern aus dieser Zeit sehen. Diese Körperhaltung – der Porträtierte steht da, in der einen Hand einen Kommandostab, eine Peitsche oder Lederhandschuhe, die andere Hand auf der Hüfte und das Gewicht auf dem Standbein – konnte staatsmännische Zurückhaltung oder auch Pfaueneitelkeit signalisieren. Jedenfalls wirkte es auf anmaßende Weise raumgreifend, in moralischer wie politischer Hinsicht. Frans Hals’ Lachender Kavalier (1624) lacht uns nicht an, sondern stößt uns den Ellbogen ins Gesicht.

Wie sich Adlige zu benehmen und verhalten hatten, wurde ihnen von Tutoren eingeimpft – und ab 1600 zunehmend von Akademien, die sich auf die Vermittlung der Reit- und Fechtkünste spezialisiert hatten. Der Tanz war dabei ein wichtiges Element: Der polnische Adel lernte die „Polonaise“, von der Reisende gern berichteten. Für die Angehörigen der Oberschicht wurde es zunehmend schwieriger, die Grenzen der sozialen Konvention zu überschreiten; König Sigismund III. wurde vom polnischen Landadel verspottet, weil er eine Schwäche für das Fußballspiel hatte. Familienbücher des polnischen Adels verzeichnen die gewundenen Höflichkeitsformeln, derer man sich bediente, wenn man einen Nachbarn zur Jagd einladen, ihm zu einem Trauerfall kondolieren oder zu einer sicheren Heimreise gratulieren wollte. Die stille Revolution, die sich im europäischen Kommunikationsdurst ereignete, sorgte auch für ein größeres Bewusstsein der feinen sozialen Unterschiede und der diversen Möglichkeiten, für Distanz zwischen sozialen Gruppen zu sorgen. Wie die vier Türme des Palastes von Krasiczyn bei Przemyśl andeuten, hatten Königshof und katholische Kirche viel mit der Verfeinerung von Ritualen zur sozialen Distinktion zu tun, ebenso jedoch der Ehrgeiz, ein gottesfürchtiges Gemeinwesen zu schaffen, in dem die Menschen wussten, wo sie hingehörten, und dementsprechend handelten. Damit beschäftigten sich die Schriften von Szymon Starowolski, der selbst aus einer verarmten litauischen Adelsfamilie stammte und sein Leben damit verbrachte, die Söhne von Magnaten zu unterrichten. In seiner Schrift Reformacja obyczajów polskich (Reform der polnischen Sitten) stellte er eine idealisierte Welt dar, in der soziale Abstufungen durch je verschiedene Pflichten bestimmt sind.

Träume von gesellschaftlicher Harmonie auf der Grundlage sozialer Distinktion waren in Polen nicht neu. Mikołaj Rej, Autodidakt, Protestant und Adliger von bescheidenen Mitteln, schaffte es aus eigener Kraft, zum Magnaten aufzusteigen, dem mehrere Dörfer und eine neue Stadt namens Rejowiec gehörten. Zu seinen Schriften zählt ein in Versen geschriebener Dialog mit dem Titel Krótka rozprawa między trzema osobami: panem, wójtem i plebanem (Kurze Unterhaltung zwischen einem Edelmann, einem Schulzen und einem Pfarrer, 1543), worin er die gesellschaftlichen Übel der damaligen Zeit – unwissende Geistliche, gierige Anwälte, korrupte Politiker – einer näheren Betrachtung unterzieht. Für Rej wurde die Welt zunehmend komplizierter. Immer schwieriger war es, den Idealen von Tugend und sozialer Harmonie entsprechend zu leben. Gern hätte er geglaubt, dass jene Harmonie im Haushalt des Adligen zu finden sei, wo Rechtschaffenheit durch Treue seitens der Dienerschaft belohnt wurde. Doch in seinem Versdrama Kupiec (Der Kaufmann, 1549) stellte er die konventionelle Moral auf den Kopf. Der Kaufmann ist ein Sozialschmarotzer, der seine erste Frau („Gewissen“) verlässt und mit seiner zweiten („Fortuna“) einen Sohn („Gewinn“) zeugt. Am Tag des Jüngsten Gerichts aber, mit dem das Stück endet (die Parodie eines polnischen Adelsgerichts), berufen sich die Fürsten, der Bischof und der Schulze vergeblich auf ihre Tugenden, während der Kaufmann durch seinen Glauben an Christi Gnade gerettet wird. Kurz gesagt ist nichts einfach, wenn das Ideal mit der Wirklichkeit in Einklang gebracht werden soll.

Dennoch versuchten die europäischen Oberschichten genau das. Sie bemühten sich um Aufwandsgesetze, die ein breites Spektrum sozialer Verhaltensweisen von Kleidervorschriften bis zu Tischsitten, vom Weinen bei Beerdigungen bis zu unangemessenem Verhalten bei Hochzeiten abdeckten. Diese gegen den Luxus gerichteten Gesetze wurden geradezu zu einer Hauptbeschäftigung der europäischen Gesetzgeber; doch war ihre Zunahme vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass sie sich der Tatsache bewusst waren, eine verlorene Schlacht zu schlagen. Nun waren zwar die Verordnungen keine Scheingefechte, das Problem bestand jedoch darin, dass die Gesetzgebung nicht der richtige Weg war, um die Übertretung sozialer Grenzen zu verhindern. Der Luxus kannte kein Gesetz, und wachsende Ängste vor schwindendem sozialen Zusammenhalt schlugen sich in neu verabschiedeten Aufwandsgesetzen nieder. Die Gesetzgeber standen vor einem Dilemma, denn schließlich demonstrierte der Luxus auch die Macht der herrschenden Elite. Eines der Paradoxe der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zeigte sich darin, dass einerseits die komplexeren Umgangsformen der Ständegesellschaft in den oberen Rängen zunehmend Fuß fassten, während andererseits die Bemühungen, ihnen durch Gesetze Schlagkraft zu verschaffen, nachließen. Einige Länder (wie etwa England 1604) setzten die Luxusgesetze außer Kraft, andere (die Mehrzahl) ließ sie stillschweigend in der Versenkung verschwinden.

Die ständisch geordnete Gesellschaft brauchte den sozialen Wetteifer. Doch genau das führte zu einem weiteren Dilemma, denn dadurch wurde die Überschreitung von Grenzen ebenso wahrscheinlich wie ihre Verhärtung. Ein Gentleman zu sein, hieß, und so hatte es auch die Familie Cervantes verstanden, sich wie ein Gentleman zu benehmen und zu kleiden. Francesco Sansovino etwa idealisierte die venezianische Gesellschaft, der er angehörte, als eine Welt gesellschaftlicher Harmonie, in der die Patrizier in der Öffentlichkeit lange schwarze Gewänder trugen – als Zeichen für das geordnete Leben in der Republik. Dennoch registrierte er auch die ostentative Zurschaustellung von Kleidung als Merkmal aufwendiger Lebenshaltung. Schließlich war Venedig eine Stadt, in der ein einfacher Ruderhersteller 1633 neben seinem sonstigen Besitz sechs Truhen mit 43 Hemden hinterließ; eine Stadt, in der Stoffe aller Art zu haben waren und in der es einen Markt für Kleidung aus zweiter Hand gab. Die Venezianer warfen sich nicht nur zur Karnevalszeit in Schale. In dem Gemälde Der Schneider von Giovanni Battista Moroni (entstanden etwa 1565) trägt der abgebildete Handwerker ein schönes Seidenwams und eine üppige rote Pluderhose, während er sich gerade daranmacht, mit der Schere in den Samt für eine Patriziertoga zu schneiden. Wer ist da der Gentleman? Überall in Europa wurden die Distinktionsmerkmale, die vornehme Herkunft definierten, immer ausgefeilter. Es ist ein verständliches Paradox, dass den leitmotivischen Idealen der Ständegesellschaft gerade in dem Moment immer stärker Ausdruck verliehen wurde, als der rissiger werdende soziale Kitt die Bemühungen, diesen Idealen zu gesetzlicher Geltung zu verhelfen, zunichte machte.

Das verlorene Paradies

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