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Infrastrukturen in Handel und Kreditwesen

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Einige der größten Transformationen dieser Epoche vollzogen sich, ohne dass die Öffentlichkeit viel davon mitbekam. In Teilen von Mittel- und Westeuropa wurden die Finanzgeschäfte immer vielfältiger und komplexer. Die Haltung zu Krediten entspannte sich, Schulden spielten im privaten und öffentlichen Leben eine größere Rolle. Vor allem fielen die Transaktionskosten des Handels. Es wurde leichter, Güter zu befördern, einfacher, Geld zu leihen, und preiswerter, damit Geschäfte zu machen. Man konnte ein Schiff und seine Ladung in großen Häfen versichern (in Antwerpen kostete das pro Monat ein Prozent des Werts von Schiff und Ladung), wobei die Kosten in Friedenszeiten fielen. Risiken verminderten sich auch durch die Verbreitung von zuverlässigeren und öffentlich zugänglichen Informationen. Um 1600 konnte sich ein Kaufmann über die Warenpreise und Wechselkurse in vielen europäischen Handelszentren informieren. Bei den Zinssätzen fand eine „stille Revolution“ statt. Sie fielen dort, wo der Markt von der Stabilität der politischen Verhältnisse profitierte. Neue Finanzinstrumente ermöglichten es den Leuten, überschüssigen Reichtum breiter gestreut anzulegen. Die Handelsaktivitäten wurden vielschichtiger und stärker diversifiziert. Auch der Einzelhandel, insbesondere der für Luxusgüter, spezialisierte sich. Begünstigt durch das Aufkommen von Einzelhandelsgeschäften nahm der Konsum in den europäischen Großstädten zu. Die Belieferung der Märkte mit Waren und deren Verfügbarkeit gewannen folglich ebenso an Bedeutung wie die dazu passenden Kreditverhältnisse. Doch bei all dem generierten die mit Krieg und politischer Instabilität verbundenen Unwägbarkeiten weiterhin die hauptsächlichen Transaktionskosten.

Dass sich die Einstellung der Menschen gegenüber dem Geldverleih in dieser Zeit veränderte, ist schwer zu belegen. Fast jeder benötigte irgendwann in seinem Leben einen Kredit. Selbst in Regionen, wo die Wirtschaft nicht voll monetarisiert war, musste man mit jeder Menge Schulden umgehen. Auf dem Land konnte die Mitgift ebenso zu Verschuldung führen wie etwa eine Missernte. Eine Rezession im Handel machte Handwerker arbeitslos und belastete die lokalen Mechanismen für das Schuldenmanagement. Unvorhergesehene Risiken führten zu geschäftlichen Schulden unterschiedlicher Art. 1582 saßen in Rom sechs Prozent der Bevölkerung wegen Schulden im Gefängnis. Im Jahrhundert nach 1550 häuften sich vor Londoner Gerichten die Streitfälle in Schuldsachen. Die venezianische Gerichtsbehörde für geringfügige Forderungen (die justicia vecchia) verhandelte gleichfalls viele Fälle von Schuldstreitigkeiten gewöhnlicher Leute. Fast 40 Prozent klagten, weil sie für ihre Arbeit nicht bezahlt worden waren. In etwas mehr als 20 Prozent der Fälle ging es um Kaufschulden. Hier waren vor allem Weinhändler und Apotheker betroffen, die ihren Kunden Kredit einräumten. Weitere 20 Prozent hatten Dienstleistungen der einen oder anderen Art zum Gegenstand. „Wann aber“, fragt Pantagruel den Panurg in Rabelais’ Roman Gargantua und Pantagruel, „werdet ihr ausser Schulden seyn? – Im griech’schen Neumond, antwort Panurg, wann alle Welt vergnügt seyn wird, und jeder sein eigner Leibeserbe.“

Je höher jemand auf der sozialen Stufenleiter stand, desto tiefer war er wahrscheinlich in Schulden verstrickt. Im elisabethanischen England verpfändeten der Herzog von Norfolk, die Grafen von Shrewsbury und Essex und andere Aristokraten regelmäßig ihr Tafelsilber, den Schmuck und gelegentliche Einkünfte, um ihren Lebensstil halten zu können. Das Einkommen des englischen Hochadels dürfte sich 1642 auf etwa 730.000 Pfund belaufen haben, seine Schulden waren doppelt so hoch. Die Paläste der europäischen Oberschichten waren Stein gewordene Zeugnisse einerseits von einem aufwendigen Lebenswandel, der zum Erhalt des sozialen Staus zwingend nötig war, und andererseits von einem durchaus erfolgreichen Schuldenmanagement. Und Europas Fürsten, die weitaus höher verschuldet waren als ihre Vorgänger, taten dabei ganz an der Spitze mit.

Schulden und Kredit spielten im Leben der Menschen auch deshalb eine solche Rolle, weil sie moralisch konnotiert waren. Bankrott wurde weitgehend als Folge von Betrug angesehen, und der Umfang der dazu erlassenen Gesetze scheint für häufiges Vorkommen zu sprechen. Durch Zinsen erhielt der Kredit eine Dimension moralischer Bedenklichkeit, galt er doch nun als Wucher. Man war sich darin einig, dass Wucher eine Sünde sei, und die meisten Leute betrachteten ihn auch als Verbrechen. Keine Einigkeit herrschte indes darüber, wann genau von Wucher gesprochen werden konnte. Im kanonischen und weltlichen Recht war Wucher definiert als Geldverleih gegen eine garantierte Rückzahlung über die verliehene Summe hinaus und ohne Risiko für den Verleiher. Humanisten und Theologen machten sich nun daran, diese Definition aus biblischen wie logischen Gründen in Zweifel zu ziehen. Sollten die Vorschriften des Alten Testaments auch für Christen gelten? Wenn ja, dann wurde eine Sünde nur begangen, wenn der Handlung auch die Absicht, Wucherzins zu erheben, zugrunde lag. Im Fall eines Annuitätendarlehens – einer Art von Hypothek – auf einen Besitz konnte man behaupten, das Geld kaufe die Rechte an den Früchten, die von dem geborgten Geld produziert wurden. Das Darlehen sah vielleicht aus wie ein Kreditgeschäft, doch war sie der Verkauf eines Rechts, eingekleidet in Land oder sonstige reale Vermögenswerte.

Typischerweise wurden diese Themen im Spiegel der Religion diskutiert, in dem die ganze reale Welt betrachtet, beurteilt und gelebt wurde. Die Debatte ging quer durch die religiösen Spaltungen hindurch; die protestantischen Theologen waren ebenso uneinig wie ihre katholischen Gegner. Luther neigte zu konservativen Auffassungen und misstraute Argumenten, die für den Zins sprachen. Nicht nur bei diesem Thema kreuzte er mit seinem katholischen Opponenten, dem Prediger und Polemiker Johannes Eck, die Klingen. Doch akzeptierte er, dass es Umstände gab, in denen es legitim war, Zinsen zu nehmen (zum Beispiel bei Krediten für Studenten). Jean Calvin war von dem klugen französischen Juristen Charles Dumoulin beeinflusst, der die Erhebung von Zinsen abhängig machte von den Umständen, unter denen das Geld verliehen wurde. Die zentrale Frage war, ob die Höhe des geforderten Zinssatzes vernünftig war. Es sei nichts grundsätzlich Falsches daran, meinte er, wenn Geld gegen Zinsen an Personen verliehen werde, die das Geld produktiv verwendeten. Calvin übernahm diese Sichtweise, brachte sie aber nur in einem Privatbrief 1545 zum Ausdruck, in dem er den Empfänger bat, die Sache für sich zu behalten.

Martin Bucer, der Reformator aus Straßburg, trat ebenfalls für den Geldverleih gegen Zinsen ein. Seine Ansichten wurden in einer Flugschrift verspottet, die 1550 in England unter dem Titel The Market, or Fayre of Usurers (Der Markt, oder die Wucherermesse) erschien. Die Schrift gibt einen erfundenen Dialog zwischen Pasquil (was in etwa „Spötter“ bedeutet) und Usurer („Wucherer“) wieder, wobei Letzterer (Bucer selbst) zu beweisen sucht, dass Wucher nicht notwendigerweise eine Sünde ist: „Ich spreche nicht, wie du denkst, von besonders hohen Zinsen, sondern nur von einem vernünftigen und anständigen Gewinn.“ In Pasquils Antwort begegnen uns die traditionellen Auffassungen jener Zeit über Wucher. Es gibt demnach nur zwei Arten von Geldverleih: den aus christlicher Nächstenliebe und den aus Gier. Wer Zins nimmt, begeht Diebstahl. Sollten aber schließlich doch Zinssätze gesetzlich festgelegt werden, musste die Welt, so wie sie nun einmal war, Berücksichtigung finden. Als das englische Parlament 1545 in dieser Sache tätig wurde, gestattete es jedenfalls Zinssätze bis zu zehn Prozent. In der Republik der Vereinigten Niederlande ging der Staat nur gegen unsozialen Wucher vor. Doch die dortige reformierte Kirche verfügte 1581, dass Geldverleiher mitsamt ihren Familien und Hausbediensteten nur dann am Abendmahlsgottesdienst teilnehmen durften, wenn sie öffentlich ihre Abneigung gegen den Bankiersberuf kundgetan hatten.

Obschon der Geldmarkt noch nicht voll entwickelt war, wurde er komplexer und raffinierter. Die Kreditlinien konnten durch Rentenpapiere erweitert werden, und aus Landbesitz ließ sich Geld herausschlagen, indem man eine Erbrente aufnahm. Noch attraktiver waren Annuitäten auf öffentliche Einnahmen. Dabei versah ein Kreditgeber eine Stadt- oder Staatsregierung mit einer großen Summe Geldes und erhielt im Gegenzug eine immerwährende oder lebenslange jährliche Zahlung. Diese Renten waren sehr beliebt und für beide Parteien von Nutzen. 1520 erklärte der Papst sie für rechtens; sie fielen also nicht unter die Gesetzgebung gegen den Wucher. Bald machten sich viele Regierungen und auch das Papsttum selbst die dadurch eröffneten Möglichkeiten zunutze. Am Ende der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts hatte das Papsttum zehn Millionen scudi Außenstände in Form von Annuitätendarlehen (monte), wobei die jährlichen Zinszahlungen etwa die Hälfte der regulären Einkünfte auffraßen. Der Stadtstaat Genua verzeichnete im Jahr 1600 den Gegenwert von 391,65 Tonnen Silber an ausstehenden Zinszahlungen für Renten, eine gewaltige Last angesichts seiner bescheidenen Ressourcen.

In den Niederlanden begann mit der Ausgabe von Rentenpapieren eine finanzielle Revolution, durch die zuerst die holländischen Städte – Amsterdam, Dordrecht, Gouda, Haarlem und Leiden – und dann sogar die Provinzen zum Bürgen für die Schulden der Habsburger Oberherren wurden. Diese Revolution definierte die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten in den Niederlanden neu und öffnete den Provinzen die Tür zur finanziellen Unabhängigkeit, dank derer sie sich im folgenden Freiheitskampf behaupten konnten. Einer Schätzung zufolge mussten die ordentlichen Einkünfte Kastiliens (530 Millionen maravedís im Jahr 1559) zur Zeit des Bankrotts von Philipp II. im Juni 1557 für jährlich 542,7 Millionen maravedís an Zinszahlungen auf juros aufkommen. Jeder Bankrott führte zu immer noch mehr juros, weil kurzfristig rückzahlbare Schulden im Zuge von Übereinkünften mit den Kreditgebern in langfristige Renten umgewandelt wurden. Da also die jährlichen Einkünfte des Königshauses von den Zinszahlungen auf die juros aufgefressen wurden, blieben nur noch die Reichtümer von den Westindischen Inseln, gelegentliche kirchliche Subsidien und die alle drei Jahre fälligen Abgaben von den kastilischen Landgütern.

Ab 1522 gab auch die französische Monarchie Rentenpapiere aus, die offiziell über die angeblich unabhängige Stadtverwaltung von Paris liefen (rentes sur l’hôtel de ville de Paris). Bedient wurden die Renten mit Zinszahlungen aus besonderen Einkünften. Während der Regierungszeit Heinrichs II. (1547–1559) wurden Rentenpapiere im Umfang von etwa 6,8 Millionen livres verkauft. Gegen 1600 beliefen sie sich auf insgesamt 297 Millionen livres, ungefähr das 15fache der jährlichen Kroneinkünfte. Je mehr rentes die französische Monarchie verkaufte, desto häufiger geschah dies mit einem Abschlag, desto höher wurden die Zinsforderungen auf Einkünfte der Krone und desto größer folglich die Schulden (de facto ein verschleierter Staatsbankrott). Nach den Kriegen mit der Heiligen Liga sichtete Sully, Finanzminister Heinrichs IV., die aufgelaufenen Schulden und schrieb all jene rentes, die mit Abschlag oder zu Zeiten der Heiligen Liga ausgegeben worden waren, einseitig ab. So diskutierte ganz Frankreich nach 1600 darüber, wie – wenn denn überhaupt – man einen souveränen König dazu verpflichten könne, das zurückzuzahlen, was er seinen Untertanen schuldete.

Wer in der Stadt lebte und einen Kredit brauchte, konnte sich an eine Vielzahl von mehr oder weniger professionellen Pfandleihern und Geldverleihern wenden. Das Konsumwachstum vergrößerte die Anzahl und Vielfalt der Waren, die als Pfand hinterlegt werden konnten. An vielen Orten waren auch Goldschmiede, Silberschmiede und Juweliere als Verleiher tätig, Sie wurden außerhalb Italiens als „Lombarden“ bekannt (was sich in manchem Straßennamen niederschlug). Besonders in Deutschland und Osteuropa boten jüdische Kaufleute ein breites Spektrum an Finanzdienstleistungen an. Dagegen wurden vor allem in Südeuropa zunehmend karitative Einrichtungen mit der Aufgabe betraut, die Armen vor Wucherern zu schützen. In Italien nahmen diese frommen Institutionen (monti di pietà), ein Nebenzweig der religiösen Reformbewegungen, im Laufe des Jahrhunderts an Zahl und Umfang immer weiter zu. Die meisten bezogen ihr Kapital aus karitativen Stiftungen, die bisweilen als Gründungsziel festlegten, dass die Einrichtung lediglich dem einen Zweck dienen solle, den Armen Geld gegen geringe Zinsen zu leihen. Die größeren monti verfügten über beeindruckende Mengen an Kapital (in Rom, Verona oder Turin über mehr als eine halbe Million Dukaten) und boten auch Einlagengeschäfte an. Aus nicht ganz ersichtlichen Gründen war dieses Modell nördlich der Alpen nur wenig erfolgreich, was sicher nicht an mangelndem Interesse lag. 1571 beschäftigte sich das englische Parlament mit entsprechenden Vorschlägen, und der flämische Chronist und Unternehmer Pieter van Oudegherste unterbreitete 1576 Philipp II. einen Plan, der Banken und Pfandhäuser im ganzen spanischen Reich vorsah, aber nie verwirklicht wurde. Allerdings gab es einige solcher Pfandleihen in holländischen Städten – das berühmteste war das 1614 gegründete Leihhaus (huis van lening) in Amsterdam – und einige mehr in den Spanischen Niederlanden nach 1600.

In den großen Städten gab es auch private Depositenbanken, die zumeist von Handelsbankiers oder ihren Kommissionären betrieben wurden. Erst allmählich kamen, zunächst in den 1570er-Jahren in Italien, übertragbare Schecks (polizze) in Umlauf. Das war Teil einer – wenngleich begrenzten – Entwicklung von Girobanken, die Depotüberträge (girata) gestatteten. Im Allgemeinen betrieben diese Privatbanken den Geldverleih auf der Grundlage eines Mindestreservesystems, was für ihre Stabilität hätte sorgen sollen. Tatsächlich aber gingen viele von ihnen bankrott, und die Leute verloren ihr deponiertes Sparguthaben. Das verstärkte die Auffassung, Banken seien nur dazu da, leichtgläubige Menschen um ihr Geld zu bringen.

Sehr viel mehr Bedeutung unter den Kaufmannseliten hatte der Wechselbrief. Er war längst ein gängiges Instrument, um Zahlungen über Distanzen hinweg zu gewährleisten. Als er größere Rechtsverbindlichkeit und Glaubwürdigkeit am Markt gewonnen hatte, wurde er auch das Mittel der Wahl, um Gelder von einer Währung in eine andere übertragen, Schulden im Ausland begleichen und Handel treiben zu können. „Ohne Wechsel läuft kein Handel“, erklärte ein Kaufmann aus Antwerpen, „so wie ohne Wasser kein Segelschiff fährt.“ Gewitzte Kaufleute konnten daraus Profit schlagen, denn vom Ausstellen des Wechsels bis zu seiner Einlösung verging Zeit. Und wenn sich währenddessen der Wechselkurs änderte, erzielte einer der Beteiligten einen völlig legitimen Gewinn. Gerichte akzeptierten – zunächst im englischen Common Law, dann bald europaweit –, dass Wechselbriefe übertragen und zwischen verschiedenen Parteien gehandelt werden konnten. Damit hatten Kaufleute die Möglichkeit, sich selbst längerfristige Kredite durch Rück- oder Weitergabe (Indossament) oder durch Diskontierung zu sichern. Mitte des 17. Jahrhunderts war der Wechsel zu einem wesentlichen Bestandteil eines ausgeklügelten multilateralen Zahlungssystems für den Handel geworden.

Handel und Finanzen brauchten Nachrichten, um zu florieren; die neuesten Tipps aus anderen Handelszentren waren entscheidend für die eigenen Geschäftsentscheidungen. Die Archive der europäischen Kaufmannseliten quellen über von Rundschreiben, Mitteilungsblättern und Briefwechseln, in denen sich Familienklatsch neben Warenpreisen findet. Die 16.000 Mitteilungsblätter aus den Jahren 1568 bis 1605 in den Archiven der Augsburger Fugger erlauben uns, ein Auge darauf zu werfen, wie eine Familie, die den Finger am Puls des Geschehens hatte, sich ihre Nachrichten besorgte. Ihre Kommissionäre saßen in den großen Handelszentren – Antwerpen, Köln, Venedig und Rom – und schrieben von Hand Mitteilungsblätter, die eine Vielzahl von Nachrichten aus Europa, der Neuen Welt, Indien und dem Mittleren Osten enthielten. Man las darin detaillierte Berichte über alle möglichen Ereignisse, von Königskrönungen bis zu gewöhnlichen Straßenverbrechen. Eine Ausgabe enthält die Geschichte eines Schuldners, der in einem Festspiel den Christus mimte und von seinem Gläubiger in der Rolle des Judas festgenommen wurde. 1582 beschäftigte sich eine ganze Folge dieser Blätter mit Beschreibungen des 51 Tage währenden Festes in Konstantinopel anlässlich der Beschneidung des 15-jährigen Mehmed, Sohn des regierenden Sultans Murad. Allerdings wurden auch Warenpreise und Wechselkurse regelmäßig veröffentlicht; die frühesten bekannten Exemplare solcher Nachrichtenblätter lassen schlaglichtartig erkennen, welche Orte Europas führende Handelszentren um 1600 waren.

Derzeit verfügten die meisten großen Handelsstädte bereits über eine Börse, also ein Gebäude, in dem Kaufleute das ganze Jahr über Handel treiben konnten und das zusätzlich mit Ladengeschäften ausgestattet war. In Neapel befand sich die von den Kaufleuten genutzte Loggia an der Piazza del Mercato, in Venedig spielte sich der Handel am Campo di Rialto ab, dem Herzen des Kaufmannsviertels. In Hamburg eröffnete die Börse 1558; man orientierte sich dabei an der Antwerpener Börse, die 1531 ihre Pforten geöffnet hatte. Die Londoner Börse wurde 1569 erbaut und hatte im Obergeschoss Läden (einige davon wurden von Frauen geführt). Ladengeschäfte führten eine friedliche Koexistenz mit Märkten und Messen als Teil der wachsenden Komplexität des Einzelhandels in Europa. Londons Cheapside war im 16. Jahrhundert die längste und breiteste Durchgangsstraße der Stadt und zugleich das Zentrum des Marktviertels. Auf der einen Straßenseite breitete sich ein Lebensmittelmarkt aus, während die andere von Verlegern und Buchhändlern eingenommen wurde. Im Erdgeschoss der Gebäude entlang der Straße konnten Läden gemietet werden. Thomas Platter, ein Medizinstudent aus Basel, betrachtete 1599 fasziniert die Auslagen und staunte über die großen Schätze und Geldmengen, die er in „The Naked Boy“, „The Frying Pan“ oder „The Grasshopper“ (so die Namen von einigen Läden in Cheapside) zu Gesicht bekam. Warenhäuser boten eine Art Bühne für den Einzelhandel. In Venedig entstand auf dem Rialto gegenüber dem Canal Grande 1550–1554 mit den Fabbriche Nuove ein brandneuer Gebäudekomplex für Speicher und Büros. Kleinstädte in Norditalien – Imola, Pomponesco, Carpi und Gazzuolo – zeigen immer noch das Muster von Hauptstraßen und Plätzen, die damals neu gestaltet und mit Läden gesäumt wurden. Der Buchvertrieb sei hier als charakteristisches Beispiel für allgemeinere Trends angeführt. Um 1600 hatten Verlagsdruckereien Großhandelstechniken entwickelt, um ihre Produkte auf den Markt zu bringen. Dazu gehörten Anzeigen, Kataloge, die auf den internationalen Messen verteilt wurden, Agenten und Fachhändler. Zunehmend aber gab es daneben auch Buchhändler, die Läden betrieben und den lokalen Markt am besten kannten.

Zu dieser Zeit bedeutete „Kapital“ den konsolidierten Reichtum eines Kaufmanns oder einer Institution, wobei andere Begriffe, die dasselbe meinten, gebräuchlicher waren. Europas Kapitalismus war in dieser Zeit noch nicht auf das Wachstum von Finanzstrukturen (wie Banken oder Kreditbriefe), von Industrieproduktion und Lohnarbeit fokussiert. Kredit, Handel und sonstige Transaktionen beruhten stets auf persönlichen Beziehungen, und die europäischen Kaufleute waren mehr daran interessiert, in Ländereien, Eigentumsrechte, Ämter oder karitative Unternehmen zu investieren als in die industrielle Produktion. Insofern ließen sich ihre Investitionen auch nicht einfach in flüssiges Vermögen umwandeln. Persönliche Bindungen, wie etwa die Einschätzung der Kreditwürdigkeit einer Person auf individueller Basis, waren wesentlich. Europas große Kaufmannshäuser waren Netzwerke von Familien, häufig mit ethnischen oder religiösen Verbindungen untereinander. Diese Familienunternehmen sorgten für ein gewisses Maß an Stabilität in den Handelsbeziehungen, obwohl die meisten opportunistisch agierten, keine Profitgelegenheit ausließen und selten mehr als drei Generationen Bestand hatten.

Europas Finanzsystem gedieh aufgrund einer Vielzahl von Gegebenheiten. Es benötigte keine repräsentativen Institutionen, allerdings waren stabile Staatswesen eine Hilfe. Mit Regierungen, die ihre Schulden nicht zurückzahlten, wusste es notfalls zu leben; verheerende Auswirkungen konnte es jedoch haben, wenn Regierungen durch Wertminderung an der Währungsschraube drehten. Es war bei Krediten nicht besonders preisempfindlich, und es bot Agenten, Kommissionären und Zwischenhändlern reichlich Gelegenheit, ihre Dienste anzubieten. Um 1650 waren Finanzmakler allerorten so wichtig wie nie zuvor. Bei so vielen Finanziers und ihren Agenten und so viel Verschwiegenheit nahmen die Geschäfte immer mehr Tempo auf, doch sah das System stabiler aus, als es tatsächlich war.

Das verlorene Paradies

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