Читать книгу Das verlorene Paradies - Mark Greengrass - Страница 25

Ehe und Familie

Оглавление

Die Familie ist die Grundlage des Christentums. Was hat sich nun in der hier untersuchten Epoche in der Beziehung zwischen Mann und Frau verändert? Dass die Frau auch weiterhin dem Mann innerhalb wie außerhalb der Ehe untergeordnet blieb, kann nicht überraschen. Wohl aber die besonders schrillen Stimmen, die sich im Gefolge der religiösen Veränderungen durch die Reformation zugunsten des Patriarchats erhoben. Unterordnung konnte, je nach dem konkreten Zusammenhang, höchst Unterschiedliches bedeuten. Arrangierte Heiraten waren weit verbreitet, doch ging es nicht ohne Brautwerbung und Verhandlung. Witwen wurden von ihren Familien durchaus nicht generell zur Wiederverheiratung gezwungen, und wenn sie über eine Erbschaft verfügten, gab ihnen das sogar eine gewisse Macht. Viele Heranwachsende lebten nach der Pubertät nicht mehr im Elternhaus, sodass elterliche Autorität in ihrem Leben keine große Rolle mehr spielte. Frauen hatten nur geringe Bildungschancen, aber immerhin Beschäftigungsmöglichkeiten, und die Kirche suchte ihre Gewissensfreiheit zu schützen. Frauen waren in ihrem Verhalten vor allem sozial eingeschränkt. Im Kielwasser der Reformation waren Kirche und weltliche Gerichtsbarkeit noch stärker an einer Kontrolle des Sexualverhaltens interessiert. Voreheliche Schwangerschaft löste weithin Ängste aus, gerade weil damit die Drohung verbunden war, die patriarchale Welt des familiären Haushalts könne auf den Kopf gestellt werden. Vor allem auf dem Land hatten die Frauen ein schweres Schicksal zu tragen. Sie konnten keine Ämter übernehmen und ohne Vormundschaft zumeist kein Land pachten. Abscheuliche männliche Gewalt gegen Frauen war völlig gewöhnlich, was an den Versuchen der Opfer, rechtlichen Beistand zu bekommen, abzulesen ist. Sie riskierten dabei ihren Ruf und ihre Ehre, und konnten dem Gegenvorwurf ausgesetzt werden, eine „Zicke“ zu sein.

Auffällig ist, wie verschieden die europäischen Gepflogenheiten in Sachen Heirat und Ehe waren. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigen die Familienrekonstitutionen für England und die städtisch geprägten Regionen des Nordwestens späte Heiraten und eine beträchtliche Anzahl von „Singles“ (hauptsächlich Dienstpersonal). Das hilft zu erklären, warum es in Teilen von Europa gelang, die wirtschaftlichen Widrigkeiten des späten 16. und des 17. Jahrhunderts zu überstehen. Späte Heiraten waren eine Form natürlicher Empfängnisverhütung. Das Heiratsalter verhielt sich invers zum Reallohn: Wenn dieser fiel, stieg jenes. Der Pool von „life-cycle servants“ – geschlechtsreife Menschen, die auf eine Heiratsgelegenheit warteten und derweil in einer Anstellung verharrten – bildete ein Reservoir für den demographischen Verlustausgleich. Aufgrund dieser Anpassungsfähigkeit waren Teile des urbanisierten Europas im 17. Jahrhundert demographisch so widerstandsfähig.

In anderen Regionen sah es anders aus. Östlich der Elbe und in Dänemark wurden Heiraten von der Realität der Leibeigenschaft diktiert. Hier konnten Gutsherren eine Heirat verfügen und einen Haushalt mit weiblichem Vorstand ablehnen. In den baltischen Ländern, in Ungarn, Südfrankreich sowie Mittelund Süditalien schlugen sich in den jeweiligen Familienstrukturen verschiedene Formen sozialen und wirtschaftlichen Drucks nieder, wie er von der Bewirtschaftung des Landes, dem Zugang zu Ressourcen, dem gewohnheitsmäßigen Erbrecht und der Form der Besteuerung ausging. In Süditalien – und sonst überall, wo die Getreideproduktion in den Händen großer Landgüter (Latifundien) lag, die Tagelöhner beschäftigten – sind die Ehemuster das Abbild eines harten Lebens, in dem die Männer nicht alt wurden. Geheiratet wurde früh, bei den Frauen im Alter von 16 bis 20 Jahren. Ein zölibatäres Leben kam im Wesentlichen nur vor, wenn jemand in ein Kloster eintrat. Die Frauen arbeiteten ausschließlich zu Hause, dafür sorgten strenge Auffassungen über die Familienehre. Witwen heirateten so schnell wie möglich erneut – es gab genug Männer, die bereit waren, den Platz des Verstorbenen einzunehmen.

Überall dort, wo wie in Kalabrien, Kampanien oder Sizilien die Landwirtschaft gemischter oder spezialisiert war (Wein-, Oliven- und Obstanbau) und wo es kleinbäuerliche Hofbesitzer gab, heirateten die Frauen später (im Alter von 22 bis 26 Jahren), und junge Männer, die nicht auf dem elterlichen Hof bleiben wollten, konnten ihn verlassen. Auf Sardinien heiratete man sehr spät, und es gab viele männliche und weibliche Bedienstete, die im Haushalt lebten – Melkerinnen und Landarbeiter. Von sardischen Mädchen wurde erwartet, dass sie vor der Heirat für ihre eigene Mitgift sorgten, indem sie außerhalb ihres Zuhauses arbeiteten, und den Frauen stand hier ein Anteil am väterlichen Besitz zu. In Umbrien, der Toskana und der Romagna – besonders in Regionen, wo Formen der Naturalpacht und damit der Teilung des Ernterisikos zwischen Pächter und Besitzer praktiziert wurden – lebten die Tagelöhner mit den Hofbesitzern in deren Familien. Der Haushalt umfasste mehrere Generationen der eigenen Familie wie auch Pächter und Tagelöhner. Wo das römische Recht die Bestimmung eines einzigen Erben und Nachfolgers erforderte, benannte der Vater im Allgemeinen den ältesten Sohn, doch konnte es auch der erste Sohn sein, der heiratete. In diesem Fall übergab der Vater den Hof dem Erben und zog sich aufs Altenteil zurück, wobei bereits Vorkehrungen getroffen wurden, um die Eltern in ihren gebrechlichen Jahren zu versorgen. Die Komplexität der pekuniären und sonstigen Arrangements in einer Familie hing von ihrem Status ab. Reiche Familien, die womöglich dem Adel angehörten und über ausgedehnten Besitz und Vermögen verfügten, hatten zur Bewahrung und Mehrung desselben im Fall von Heirat und Erbschaft eben auch vielfältige Vorkehrungen zu treffen. Die Art und Weise, in der sich eine Familie organisierte, war ein individueller und zugleich kollektiver Versuch, sich beste Lebensbedingungen zu sichern in einer Welt, in der ständig wiederkehrende wirtschaftliche und demographische Krisen das Überleben der gesamten Familie bedrohten, und für solche Strategien gab es kein universell gültiges Rezept.

Wer was erbte, wurde oft von Sitte und Brauch vorgegeben. Ausgehandelt wurden die Höhe der Mitgift für Frauen und der Anteil, der den Männern bei Heirat zufiel. Noch stärker diktierte das Gewohnheitsrecht die Nachfolgeregelungen in einem Sterbefall. Auf seine Bestimmungen verwiesen auch Notare, wenn sich Leute an die herrschaftlichen Gerichte wandten. Aber in Nordeuropa gab es eine verwirrende Vielfalt an solchen Rechten, und als sich Juristen im 16. Jahrhundert daranmachten, sie zu kodifizieren, waren sie zutiefst erstaunt über die zutage tretenden Diskrepanzen. In Südfrankreich, Nordostspanien und den habsburgischen Erblanden des Heiligen Römischen Reichs bestimmte das römische Recht die Nachfolge. Im Ergebnis stärkte das die Stellung des pater familias (des Haushaltsvorstands), der frei darüber verfügen konnte, wem er sein Eigentum vermachen wollte, indem er etwa durch Schenkungen oder besondere Vermächtnisse eine bestimmte Person begünstigte. Solange Kinder im väterlichen Haushalt verblieben, bewahrten sie sich ein Anrecht auf die Nachfolge, wenn sie aber Haus und Hof verließen, konnten sie lediglich eine Mitgift beanspruchen. In den baltischen Regionen und auf den Britischen Inseln favorisierte das commmon law das männliche Erstgeburtsrecht, während in Spanien, Italien, Nordfrankreich und den Niederlanden das Gewohnheitsrecht eher darauf bedacht war, in einem Erbfall die Rechte aller Erben zu schützen. Hier wurde demzufolge die Realteilung praktiziert, bei der alle Erben anspruchsberechtigt waren. In der Normandie und Westfrankreich mussten Kinder, die Eigentum in Form einer Mitgift erhalten hatten, dieses im Fall des Todes der Eltern sogar wieder an die Familie zurückgeben, damit der Gesamtbesitz zu gleichen Teilen neu auf alle Erben verteilt werden konnte. Dieses Verfahren war von großer Bedeutung, denn eine Mitgift stellte für die Familie stets eine Belastung dar, die sie in dieser Periode zumeist in Form von Rentenzahlungen schulterte, eine weitere Form ländlicher Kredit- und Schuldvereinbarungen.

Juristen lehnten die Realteilung ab, weil sie zur Zersplitterung des Besitzes und zur Schwächung der patriarchalen Autorität führte. Ein ganzer Chor von juristischen Traktaten wies, was immer das Gewohnheitsrecht sagen mochte, nach, dass die Erfahrung der Hebräer und die gesammelte Weisheit der antiken Autoren für das männliche Erstgeburtsrecht sprächen. In einem wohl zu Beginn der 1530er-Jahre in Italien geschriebenen Dialog wollte der englische Humanist Thomas Starkey beide Seiten der Argumentation, für und gegen das Erstgeburtsrecht, darstellen. Es sei, so schrieb er, „ganz und gar grausam, [jüngere Söhne] von allem auszuschließen, so als hätten sie ein großes Verbrechen gegen die Eltern begangen“. Das Erstgeburtsrecht stehe gegen die Vernunft und natürliche Billigkeit und „scheint die natürliche Liebe zwischen denen, die die Natur miteinander verbunden hat, zu vermindern“. Doch konnte andererseits die Realteilung leicht zur Rutschbahn werden, an deren Ende die Auflösung nicht nur des Vermögens stand: „Wenn die Ländereien in allen großen Familien zu gleichen Teilen an die Brüder vererbt werden, wird schon nach wenigen Jahren der Hauptstamm der Familie verfallen und allmählich verschwinden. So sind die Menschen irgendwann ohne Herrscher und Oberhäupter … und man hat die Grundlage unserer ganzen Zivilisiertheit fortgenommen.“

Dass sich in dieser Epoche das männliche Erstgeburtsrecht bei den europäischen Eliten triumphal durchsetzte, kann mithin kaum überschätzt werden. Als Begleiterscheinung erfuhr die Genealogie erhöhte juristische und gesellschaftliche Anerkennung, da die Primogenitur durch Recherchen in Stammbäumen von Adelsfamilien und staatliche Nachforschungen zur Rechtmäßigkeit von Adelsansprüchen untermauert wurde. Schon bald war das Erstgeburtsrecht in England bei den Eliten des Landadels und der Kaufmannschaft weit verbreitet. Der französische Adel war lange Zeit an seiner Anwendung gehindert worden, und auch Bürgerliche, die einen Adelsrang anstrebten, suchten das Gewohnheitsrecht zu umgehen, um ihr Vermögen und ihren Immobilienbesitz möglichst ungeteilt dem ältesten Sohn zu vermachen. Der italienische Adel bevorzugte eine funktionale Version des Anerbenrechts – entweder fiel der Besitz an einen einzelnen Erben oder an eine Brüdergemeinschaft, von denen letztlich nur einer heiraten würde. Nur bei den deutschen Fürsten und dem Landadel in Osteuropa und Russland lebte die Realteilung fort, wie sich in dem verwirrenden Muster immer wieder geteilter Besitzungen in Deutschland eindrucksvoll zeigt.

Hieran schließt sich die Frage an, in welchem Umfang das Gewohnheitsrecht die Familienbildung beeinflusste. 20 Prozent aller Paare hatten gar keine überlebenden Kinder, weitere 20 Prozent nur Töchter. Das schränkte die Zukunftsplanungen ein. Allerdings gab es Möglichkeiten, das Gewohnheitsrecht zu umgehen, und diese wurden zunehmend genutzt, als die Menschen das Recht an ihre Bedürfnisse anpassten. Beispielsweise wuchs das nicht auf Landbesitz gründende Vermögen, was die Vererbung flexibler machte. Doch scheinen Erbfolgerechte in zweierlei Hinsicht von erheblichem Einfluss auf die Familienbildung gewesen zu sein – und damit auf die Art und Weise, in der die verschiedenen europäischen Regionen auf das demographische Wachstum reagierten. Der Vergleich zweier Gebiete in Niedersachsen lässt die Unterschiede erkennen. Im Gebiet von Calenberg forderten der Staat wie auch das feudale Gewohnheitsrecht das Anerbenrecht, sodass umfangreiche Ländereien in den Händen wohlhabender Bauern verblieben, die häufig in großen Haushalten mit mehr als einer Generation unter einem Dach lebten. Familienmitglieder, die den Haushalt verließen, erhielten eine Mitgift oder Aussteuer, die mit Darlehen auf ihren bäuerlichen Besitzanteil bezahlt wurden. Am anderen Ende des Spektrums wuchs die Zahl von landarmen Kleinstellenbesitzern, sogenannten „Brinkköttern“, die am Brink, auf der Allmende am Dorfrand, wohnten und davon abhängig waren, dass man ihnen Arbeit gab. Im Gegensatz dazu war weiter südlich, in der Gegend um Göttingen, die Realteilung möglich. Das führte zu einer wachsenden Zahl von Kleinbauern mit ihren Kernfamilien, die bisweilen die Ställe und Schuppen am Wohnhaus als Unterkunft benutzten, und zu einer zunehmenden Aufsplitterung von Eigentum – gerade als das Bevölkerungswachstum des 16. Jahrhunderts die Frage aufwarf, wie all jene wirtschaftlich überleben sollten, die Grundstücke geerbt hatten, welche ihnen in Notzeiten kein Auskommen verschafften. Partiell enterbte junge Leute, ein längeres Dienstbotendasein oder zunehmende Knechtschaft, bäuerliche Verschuldung, geringerer Landbesitz, Streit um Erbschaften – das alles verband die Erbfolge mit dem, was dem Christentum sonst noch widerfuhr.

Das verlorene Paradies

Подняться наверх