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Protest wird laut

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Die Macht des Lokalen zeigte sich deutlich in den Strukturen des Protests. Die Stadt mit ihrer politischen Autonomie und ihren korporativen Loyalitäten hatte unter den Patriziern eine Tradition geschaffen (von Historikern auch „Great Tradition“ genannt), die sie selbstbewusst für ihre Stadtrechte einstehen und mit den Fürsten über den Erhalt ihrer in Gesetzen und Urkunden festgeschriebenen Privilegien verhandeln ließ. Wenn Stadträte mit anderen Obrigkeiten etwas aushandelten, beanspruchten sie, die gesamte Stadtgemeinde zu vertreten, auch wenn sie im Allgemeinen kein explizites Mandat dazu besaßen. In die Stadtmauern, die Rathäuser, die Amtssiegel und -roben schrieb sich die Geschichte einer Gemeinschaft ein. Zwar waren dieser Gemeinschaft auch Protest und Revolte nicht unbekannt, doch gingen diese in die Chronik als Phänomene eines fortwährenden Aushandlungsprozesses ein zwischen jenen, die Machtansprüche erhoben, und jenen, auf die diese Macht sich erstreckte.

Allerdings gab es neben dieser „großen“ noch eine „kleine Tradition“ des Protestes, in der städtische Handwerker und Arbeiter eine Rolle spielten und die auch in den ländlichen Raum hineinwirkte. Diese Tradition fand keinen Eingang in die historische Überlieferung und wurde auch nicht institutionalisiert, wohl aber bewahrt in der lokalen politischen Kultur, der auch der „gemeine Mann“ Ausdruck verlieh. Sie hatte ihre eigenen Feindbilder (die „Reichen“, die „Verräter“, die „Blutsauger“, kurz: alle, die dem Gemeinwohl schadeten), ihre eigenen Rituale (die oft im Kontext von Patronatsfesten oder Prozessionen ihren Platz fanden) und ihre Volkshelden (lokale Robin Hoods) und fand auch Mittel und Wege, um ihre Beschwerden vorzutragen. Von ihren Vertretern (der „better sort of people“ oder „middling sort of people“, wie sie im England des 16. Jahrhunderts manchmal genannt wurden) erwartete man, dass sie die örtlichen Bräuche und Traditionen gegen Übergriffe verteidigten, was sie, soweit möglich, durch Verhandlung und Vermittlung zu erreichen trachteten. Schlug das aber fehl, fanden sie sich an der Spitze einer Protestbewegung wieder.

Im zweiten Teil von Shakespeares Königsdrama Heinrich VI. tritt Jack Cade auf, der Anführer der Rebellion, die 1450 in Kent losbrach. In Shakespeares Darstellung, die sich auf Holinsheds Chronik stützt, verleiht Cade den Hoffnungen und Befürchtungen der „kleinen Tradition“ Ausdruck. Das gemeine Volk, sagt er, werde in Unwissenheit gehalten und mit Verachtung behandelt. Cade hatte sich mit dem Landadel auseinanderzusetzen, dem er zutiefst misstraute; auch Fremde und Ausländer waren ihm verdächtig. Er setzte seine Hoffnung auf die Wiederkehr eines mythischen goldenen Zeitalters: „Sieben Sechser-Brote sollen künftig in England für einen Groschen verkauft werden, die dreireifige Kanne soll zehn Reifen halten, und ich will es für ein Hauptverbrechen erklären, Dünnbier zu trinken. Das ganze Reich sollen alle in gemein haben …“ Die „kleine Tradition“ machte sich durch Petitionen, Verhandlungen und Vermittlungsversuche bemerkbar, aber auch durch Aufstände. Die politische Obrigkeit im Christentum hatte gelernt, damit zu leben.

Vor 1500 blieb der Protest zumeist begrenzt, weil der verbreitete Respekt vor Ordnung und Obrigkeit ein Gegengewicht bildete. Das änderte sich mit dem 16. und frühen 17. Jahrhundert. Hinzu kam, dass die Menschen in zunehmendem Maß über Feuerwaffen verfügten, weshalb die mit dem Protest einhergehende Gewalt zunahm. Wie oft solches Aufbegehren vorkam, ist schwer zu ermessen, gerade weil es so häufig und in so unterschiedlichen Formen auftrat. Auch wird es nie gelingen, sämtliche derartigen Ereignisse in einer vollständigen Liste zu versammeln, weil viele Aufstände überregional unbemerkt blieben. Allein in der Provence gab es zwischen 1590 und 1634 einer Schätzung zufolge 108 Vorfälle (2,4 pro Jahr), in der Folgezeit, zwischen 1635 und 1660, dann gar 156 (6,3 pro Jahr). In Irland kam es unter den Stuarts ebenfalls zu zahlreichen Aufständen, nachdem die gälische Herrschaft als Folge der Vernichtung des Fitzgerald-Clans in der Rebellion von Kildare 1534 zusammengebrochen war und die Engländer sich daranmachten, auf der Grundlage kolonialer Besiedlung (plantation) eine englische Thronfolge und einen protestantischen Staat zu errichten. Die organisierten Rebellionen im Irland des späteren 16. Jahrhunderts (Desmond, Kildare, O’Neill, O’Doherty) zwangen die Engländer zum Unterhalt einer Besatzungsarmee, die größer war als die Heere, die zur gleichen Zeit nach Frankreich und in die Niederlande geschickt wurden.

Die wirksamsten Proteste waren gewiss stets die passiven – wie etwa die Weigerung, Steuern und Abgaben zu entrichten –, über die uns keinerlei Berichte vorliegen. Weit verbreitet war Aufruhr, der nicht ganz den Umfang einer richtigen Revolte erreichte. Meutereien von Soldaten, Brigantenwesen und organisierte Kriminalität darf man getrost zu dieser Kategorie hinzuzählen. Dass die Briganten nun so stark ins Auge fielen, war auch eine Reaktion auf die intensivierte Bewirtschaftung der Domänen in Neapel, dem Kirchenstaat und Katalonien ab den späten 1580er-Jahren. Die Banditen machten die Weideregionen der Berge unsicher, ohne viel zu befürchten zu haben, denn sie waren berühmt-berüchtigt und von den dörflichen Gemeinschaften akzeptiert. Marco Sciarra aus Castiglione in den Abruzzen etwa war während der späteren 1580er-Jahre in der Romagna ein regelrechter Volksheld. Er nannte sich selbst „die Geißel des Herrn, von Gott gesandt gegen Wucherer und alle, die unproduktiven Reichtum besitzen“. Er sei geschickt worden, um die Reichen zugunsten der Armen zu berauben, wobei er die lokale Feindschaft gegenüber den Spaniern klug auszunutzen wusste. 1593 wurde er ermordet, doch zuvor hatte es in Neapel schon Gerüchte gegeben, dass er bald kommen und sich zum König machen werde. Allerdings wurde, in diesem wie in anderen Fällen, mehr über Revolten geredet als umgesetzt. So ängstigte sich die Obrigkeit in England, nicht ganz zu Unrecht, 1596 vor einer Rebellion in den Midlands, die jedoch nicht stattfand, auch wenn es einige Leute gab wie den Müller Roger Ibill aus Hampton Gray, die daran glaubten („es muss bald einen Aufstand geben, weil die Getreidepreise so hoch sind“).

Selbst wenn das Bild unvollständig bleibt, gibt es genügend Hinweise darauf, dass Aufstand und Revolte in West-, Mittel und Nordeuropa weit verbreitet waren. Zu manchen Zeiten traten sie in mehreren Regionen gleichzeitig auf, so in den 1530er-, 1560er-, 1590er- und 1640er-Jahren. Viele Revolten erwiesen sich als langlebig, weil sie auf lokal verwurzelter Opposition beruhten und sich in Grenznähe oder in unzugänglichen Regionen abspielten. Die „große Tradition“ der urbanen Revolte (zu der etwa die comuneros in Kastilien 1520 und die Ereignisse in Gent 1539 gehörten) fand Eingang in jenes umfassendere städtische wie auch ländliche Konfliktgeschehen, das weit über den Bereich einer einzelnen Stadt hinausging und in die politisch-religiösen Auseinandersetzungen der Reformation eingebettet war. Im Gegensatz dazu entwickelte sich die „kleine Tradition“ in Richtung einer größeren Dynamik bei Unruhen auf breiter Bevölkerungsbasis. Das gewöhnliche Volk glaubte weiterhin an sein Recht, sich selbst zu verteidigen, wenn seine „natürlichen“ Schutzmächte dabei versagten.

Der Umfang der Proteste stellte die Rebellionen des späten Mittelalters weit in den Schatten. Der deutsche Bauernkrieg (1524–1526) war die größte Mobilisierung des gemeinen Mannes in den deutschen Territorien vor dem 19. Jahrhundert. Auf seinem Höhepunkt zählte man wohl an die 300.000 Bauern unter Waffen. In Württemberg schlossen sich 1525 bis zu 70 Prozent derer, die waffenfähig waren, den Rebellen an. Der Bauernkrieg war von tief greifendem Einfluss auf die Reformation. 1536 marschierten 20.000 Menschen nach Doncaster unter Bannern, welche die fünf Wunden Christi zeigten – das Kreuzfahrersymbol dieser „Pilgrimage of Grace“ (Pilgerfahrt der Gnade). Die Rebellion der Croquants 1636/37 in Südwestfrankreich war der größte Bauernaufstand in Frankreich nach der Jacquerie von 1351; Berichten zufolge sollen im August 1636 60.000 Bauern unter Waffen gestanden haben. Der Aufstand zwang die Regierung zu Gesprächen. Die rebellischen Bauern verbündeten sich, handelten untereinander und mit den Bewohnern nahe gelegener Städte Vereinbarungen aus und fanden Anführer. Auf Versammlungen verschafften sie ihren Beschwerden Gehör, motivierten oder zwangen andere, sich ihnen anzuschließen, und suchten mit den Obrigkeiten zu verhandeln. Obwohl sie ihre Wurzeln in ganz verschiedenen Missständen hatten, vermischten sich ländlicher und städtischer Protest und wurden Bestandteil einer umfassenderen Bewegung, die auf Veränderung zielte. Solche Koalitionen spiegelten, bei aller Instabilität, die Unvorhersehbarkeit von Unruhen wider.

Der beispiellose Umfang öffentlicher Unruhe hing mit ihrer Mannigfaltigkeit zusammen und war zumindest in einem gewissen Maß den wirtschaftlichen Veränderungen und dem abnehmenden gesellschaftlichen Zusammenhalt geschuldet. Das machte sich besonders in den zahlreichen Tumulten gegen die Einhegungen im England des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in den großen Bauernerhebungen derselben Zeit in Nieder- und Oberösterreich und im Widerstand gegen die Leibeigenschaft und die feudalen Herren während des deutschen Bauernkriegs bemerkbar. Wie in den weniger zahlreichen Hungerunruhen in westeuropäischen Städten ging es bei den Bauernaufständen um handfeste Dinge – das Recht auf Land, Ressourcen, Nahrung. Doch selbst in diesen Fällen wurden die Beschwerden in einer Art und Weise vorgebracht, die es verbietet, den Protest auf eine rein ökonomische Ebene zu reduzieren. Die Protestler verstanden sich als Vertreter des „Gemeinwohls“ gegen „die Reichen“ und all jene, welche „die Armen verhungern lassen“. Sie beriefen sich auf das „alte Gesetz“ und wollten ihre „alten Rechte“ wieder in Kraft gesetzt sehen. Die berühmten Zwölf Artikel von Memmingen (1525), die am weitesten verbreiteten Forderungen der Bauern im deutschen Bauernkrieg, enthielten auch eine deutliche Wendung gegen die Leibeigenschaft. Aber sie kam daher in Form der traditionellen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, in lutherischer Sprache, respektvoll gegenüber der Obrigkeit. Der dritte Artikel beginnt mit den Sätzen: „Zum dritten, Ist der brauch byßher gewesen das man vns für jr aigen leüt gehalten haben, wölchs zu erbarmen ist, angesehen das vns Christus all mit seynem kostparlichen plutvergüssen erlößt vnnd erkaufft hat. Den Hyrtten gleych alls wol alls Den höchsten, kain außgenommen, Darumb erfindt sich mit der geschryfft das wir frey seyen vnd wollen sein. Nit diz wir gar frey wollen seyn, kain oberkait haben wellen, Lernet vnß Gott nit.“ (Drittens: Bisher hat man uns als Leibeigene [Eigenleute] gehalten, obwohl Christus uns alle mit seinem Blut erlöst hat, den Geringsten [Hirten] wie den Mächtigsten. Darum folgt aus der Heiligen Schrift, dass wir frei sind und sein wollen, nicht aber, dass wir ohne alle Obrigkeit völlig frei sein wollen.)

Unruhen entstanden zumeist im Kontext von militärischen Konflikten und ihren Folgen für die Zivilbevölkerung. Die zwangsweise Rekrutierung und Einquartierung von Soldaten, die von Truppen auf dem Marsch angerichteten Verwüstungen und Plünderungen sowie die Aktivitäten lokaler Opportunisten, die den Zusammenbruch der Ordnung für ihre Zwecke ausnutzten – das waren die Beschwerden, die in jenen Unruhen an die Oberfläche drangen, die in den 1590er-Jahren die Bürgerkriege in Frankreich begleiteten (die Gautiers in der Normandie, die Croquants im Périgord und die Campanelle in der Region südlich von Toulouse).

Unruhen schürte auch der mit der Reformation einhergehende politischreligiöse Wandel, zog er doch Rituale in Mitleidenschaft, die integraler Bestandteil lokaler Gemeinschaften waren, und ordnete das Eigentum an Grund und Boden neu. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass sich viele Proteste gegen die Reformation richteten, so die „Pilgrimage of Grace“ 1536 oder die „Prayer-Book Rebellion“ in England 1549. Aber die Unruhen richteten sich auch gegen andere Ziele wie etwa, was häufig vorkam, gegen den Zehnten, das kirchliche Äquivalent zu den grundherrlichen Abgaben. Über die passive Verweigerung der Abgabe hinaus, die bei Protestanten in Südfrankreich während der 1560er-Jahre und in den Niederlanden während der Frühzeit des Aufstands verbreitet war, spielte der ungeliebte Zehnte eine wichtige Rolle bei den Aufständen in Ungarn (1562, 1569/70), Slowenien (1571–1573) und Oberösterrreich (1593–1595, 1626/27). Unter den neuen Bedingungen des religiösen Pluralismus im 16. Jahrhundert konnten Monarch, Stadtrat oder Magnat nicht über die religiöse Zugehörigkeit entscheiden. Die individuelle Wahl ging quer durch Städte und Gemeinden und spaltete ganze Bevölkerungsgruppen samt ihren Anführern.

Als diese Spaltungen in extreme Gewalt ausarteten, hielt man sie für eine Demonstration dessen, was humanistisch Gebildete bereits wussten: dass „das Volk“ nichts anderes war als ein wüster, barbarischer und unberechenbarer Mob. Ein Beispiel aus Südfrankreich: Nach Jahren religiöser und sozialer Spannungen fassten die Einwohner der kleinen Stadt Romans 1580 während des Karnevals, am Vorabend von Aschermittwoch (15. Februar 1580), den Entschluss, sich dem Bauernaufstand anzuschließen, der sich im Umland ausgebreitet hatte („Ligue des vilains“ oder „Bund der Gemeinen“). Handwerker und Bauern tanzten in den Straßen, bedrohten die Reichen und riefen: „Keine drei Tage, dann wird Christenfleisch für sechs Sous das Pfund verkauft!“ Ihr gewählter Anführer, Jehan Serve („Capitain Paumier“), saß in ein Bärenfell gehüllt in der Bürgermeisterstube und aß Delikatessen, die als Christenfleisch ausgegeben wurden, während seine Anhänger sich als christliche Würdenträger verkleideten und riefen „Christenfleisch für sechs Sous!“ Die Reichen von Romans waren ob dieser kannibalischen Aussichten vom Grauen gepackt und rüsteten sich zur Gegenwehr. Sie fielen über die Aufständischen her und massakrierten sie. Die Schlächterei dauerte drei Tage. Anderswo ging es nicht gesitteter zu: In Neapel lynchte 1585 eine über den hohen Brotpreis aufgebrachte Menge Giovan Vincenzo Starace, den Vertreter des Volkes im Parlament von Neapel, weil er die Preise nicht unter Kontrolle gebracht hatte. Seine Leiche wurde verstümmelt und sein Fleisch in Stücken feilgeboten, die Überreste dann durch die Straßen geschleift und sein Haus zerstört. Im oberösterreichischen Aufstand von 1626/27 riss eine Frau einem der adligen Opfer die Augen heraus und trug sie im Taschentuch nach Hause. Eine andere schnitt dem Mann die Genitalien ab und verfütterte sie an ihren Hund.

Staat und politische Obrigkeit wurden in die Proteste hineingezogen, weil sie beide dadurch bedroht schienen. Der höhere Adel wollte die Unruhen zu seinem eigenen Vorteil nutzen und integrierte sie in seine Bemühungen, sich vor übermächtigen Fürsten zu schützen und den politischen Wandel zu beeinflussen. Nicht nur der französische Adel glaubte daran, ein „Recht auf Revolte“ zu besitzen, womit die legitime Pflicht gemeint war, den Protest gegen einen tyrannischen Fürsten anzuführen, der die Freiheit (natürlich die des Adels) beeinträchtigte. Auch die irischen Clanchefs fühlten sich legitimiert, die septs (die Clans) gegen die Herrschaft der Engländer mit ihrem feindseligen Staat, ihrer fremden Religion und ihren kolonisatorischen Tendenzen zu mobilisieren. Aber der Adel betrieb ein gefährliches Spiel, nicht zuletzt deshalb, weil sich unter der Oberfläche vieler Revolten gegen den Adel gerichtete Ressentiments verbargen. „Tötet alle Vornehmen, und dann haben wir die Sechs Artikel und die Zeremonien wieder, wie sie zu König Heinrichs Zeiten waren“, lautete der Slogan der englischen „Prayer-Book Rebellion“. Während eines Aufstands in Narbonne (Südfrankreich) 1632 wurden Adlige als „Jean-fesses“ (Arschhänse) tituliert. In einem Bauernlied aus dem Aufstand in Oberösterreich (1626/27) heißt es: „Jetzt wöllen wir’s ganz Land ausziehn, unsre eigen Herrn müssen fliehn.“

Regelmäßig wurde die Schweiz als Beispiel für ein Volk angeführt, das sich erfolgreich seines Adels entledigt hatte. Während des Aufstands der Croquants 1594/95 war es ein Gemeinplatz, dass die Bauern die Adelsprivilegien abschaffen und eine Demokratie nach Schweizer Muster errichten wollten. Gewitzte Fürsten wussten sich im Übrigen solcher Proteste zu bedienen, um gegen ihren rebellischen Adel vorzugehen. Ein bezeichnender Fall war der „Keulenkrieg“, der gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Finnland stattfand. Herzog Karl – damals Regent, später König Karl IX. von Schweden – ermutigte die Bauern zum Aufstand: „Wenn mit nichts anderem, dann mit Pfählen und Keulen.“ Es sollte gegen den finnischen Adel gehen, der immer noch treu zu dem abgesetzten schwedischen König Sigismund III. Wasa stand.

Auch der Staat geriet ins Kreuzfeuer von Unruhen, vor allem natürlich, wenn es gerade die staatlichen Steuerforderungen waren, die zu Streit führten. Mit der Entwicklung des Fiskalstaats (siehe unten Kapitel 16) konzentrierte sich der Unmut immer stärker auf die Rolle des Staates als Steuereintreiber, auf die „Neuheit“ seiner Forderungen und die Skrupellosigkeit seiner Agenten. In Südwestfrankreich war es die versuchte Einführung der gabelle (einer Salzsteuer), die einen Bauernaufstand auslöste, der 1548 seinen Höhepunkt erreichte. In Saintonge und Angoumois waren die Salzmarschen ein gewinnträchtiges Unternehmen. Die Gemeinden begannen damit, jene gabeleurs einzukerkern und abzuschlachten, die eingeschleust worden waren von den Syndizi privater Steuereintreiber, an die der Staat das Einkassieren gegen Gewinnbeteiligung verpachtet hatte. Solche Vorkommnisse häuften sich im Frankreich der 1630er- und 1640er-Jahre, als lokale Aufstände sich immer stärker gegen den Fiskalstaat und seine Agenten – Finanziers, Steuereintreiber, Verwalter – richteten.

Es lag in der Natur der „kleinen Tradition“ ländlicher und städtischer Revolten, dass Protest als Unterstützung legitimer Autorität und Suche nach einem verlorenen Zeitalter der Gemeinsamkeit und Billigkeit dargestellt wurde. Beharrlich glaubte man daran, dass der König der Quell der Gerechtigkeit sei und dass, würden ihm nur endlich die Leiden seines Volks (die seine Minister und Favoriten ihm verschwiegen oder falsch darstellten) enthüllt, er Abhilfe schaffen würde. „Nieder mit den gabelles“, lautete der Schlachtruf während der Revolte der Barfüßer (nu-pieds) 1639 in der Normandie. Doch im selben Atemzug riefen die Aufständischen: „Lang lebe der König!“ In ihrem anonym veröffentlichten Manifest forderten sie die Rückkehr zu der guten alten Zeit, als noch König Ludwig XII. regierte. „Tod der schlechten Regierung, und lang lebe die Gerechtigkeit!“, erklärten auch die Rebellen in Neapel 1585.

In einer Variante dieses Themas stand im Zentrum aller Hoffnungen ein Erlöser, ein „verborgener König“, der wundersamerweise zurückkehren und sein Volk von allen Plagen befreien würde. Hierin begegnet ein Echo der chiliastischen Prophezeiungen, die im städtischen Milieu vor und während der Reformation laut wurden. Der alte Kaiser Friedrich Barbarossa war jener gerechte Herrscher, in dessen Namen die Beschwerden des deutschen Volkes 1520, am Beginn der reformatorischen Konflikte, ihren Ausdruck fanden. In Portugal hielt sich hartnäckig der Mythos, dass König Sebastian 1578 in der Schlacht in Marokko nicht gefallen sei, sondern noch am Leben. Das wurde zum Gegenstand visionärer Schriften der 1630er-Jahre (zumeist von jüdischen conversos verfasst), zum Omen in der realen Welt und zum Thema gelehrter Abhandlungen von Jesuiten der Universität Évora. Der russische Bolotnikow-Aufstand von 1606/7 ereignete sich im Gefolge des dynastischen Kampfes zwischen Zar Boris Godunow und einem Thronprätendenten, dem falschen Dimitri, einem jungen Mann, der der wahre Thronerbe zu sein behauptete und als Gegner Godunows die Wiederherstellung von Frieden und Gerechtigkeit versprach. Diese Versprechungen waren so attraktiv, dass der falsche Dimitri 1605, nach Godunows Tod, tatsächlich auf den Thron gelangte, was er einer loyalistischen, von Bojaren angeführten und von Polen und Kosaken unterstützten Rebellion verdankte. Bolotnikow gelangte mit seinem Heer im Oktober 1606 bis vor die Mauern von Moskau, musste sich aber zurückziehen, nachdem er gerade diejenigen Leute in der Hauptstadt verprellt hatte, die er auf seine Seite hatte bringen wollen.

Wenn die Proteste „loyal“ waren und das Ziel hatten, konservative Werte zu verteidigen, warum wurden sie dann als neuartige Provokation behandelt und so brutal unterdrückt? Denn mit wenigen Ausnahmen wurden die Proteste gewaltsam niedergeschlagen. Die Städte, die sich, wie Gent (1539), Bordeaux (1548) oder Neapel (1585), gegen ihre Oberherren erhoben, bezahlten teuer für diese Widerständigkeit. Den Anführern wurde der Prozess gemacht, sie wurden gefoltert und öffentlich hingerichtet. Die betreffende Stadt verlor ihre Privilegien, die Mauern wurden geschleift und den Bürgern Strafgelder auferlegt. Nach dem Aufstand in Neapel 1585 wurden über 800 Personen vor Gericht gestellt, doch 12.000 flohen aus der Stadt aus Angst vor der drohenden Unterdrückung. Bauernheere wurden von den besser ausgebildeten und bewaffneten Armeen ihrer Gegner fast unweigerlich besiegt. Doch nach der Niederlage kam es durch systematisches Gemetzel erst recht zu großen Verlusten an Menschenleben. In der Schlacht von Frankenhausen (15. Mai 1525) verloren mehr als 5000 Bauern das Leben. Auf der Gegenseite hatten die Landsknechte nur sechs Mann Verluste zu beklagen, und zwei davon waren lediglich verwundet. Insgesamt ließen im deutschen Bauernkrieg binnen zwei Jahren wohl an die 100.000 Bauern ihr Leben. Beim ungarischen Aufstand vor der Schlacht von Mohács (1526) starben Zehntausende Bauern, und nach der „Pilgrimage of Grace“ wurden bewaffnete Bauernrotten „wie Hunde“ abgeschlachtet, berichtete einer ihrer Anführer, Hauptmann Cobbler, der im Gefängnis von Lincoln auf sein Schicksal wartete. „Was für Hurensöhne waren wir doch, dass wir die Vornehmen nicht umgebracht haben, wusste ich doch immer, dass es Verräter sind“, überlegte er. Über 5000 Bauern starben bei den diversen Gefechten, mit denen die „Prayer-Book Rebellion“ im August 1549 ihr Ende fand. Allein während der Schlacht von Clyst Heath wurden 900 gefesselten und geknebelten Gefangenen binnen zehn Minuten die Kehlen durchtrennt. Als er 1573 den Aufstand kroatischer Bauern gewaltsam beendete, brüstete sich Kaiser Maximilian II. mit dem Tod von 4000 slowenischen und kroatischen Bauern. Nach der Niederschlagung des Aufstands von 1626/27 in Oberösterreich sollen mehr als 12.000 Bauern umgebracht worden sein. In der Schlacht von Sauvetat bei Périgueux 1637 blieben 1000 Bauern tot auf dem Schlachtfeld liegen. Auf jeden Fall starben während der Aufstände Tausende Menschen mehr, als in den religiösen Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts als Märtyrer ihr Leben gaben oder gerichtlich wegen Hexerei zum Tode verurteilt wurden.

Die Rädelsführer wurden besonders brutal bestraft, um andere abzuschrecken. Der Szekler György Dózsa, ein Söldnerführer, wurde zum Anführer des ungarischen Bauernaufstands. Nach der Niederlage von Temeswar 1514 nahm man ihn gefangen und verurteilte ihn dazu, auf einem glühenden Eisenthron mit einer erhitzten Eisenkrone auf dem Kopf und einem rot glühenden Zepter in der Hand zu schmoren, während seine Mitrebellen sein Fleisch mit rot glühenden Zangen herausreißen und hinunterschlingen mussten. In Oberösterreich begehrten bei Frankenburg am Hausruck lutherische Bauern gegen Graf Adam von Herberstorff auf, der versucht hatte, ihnen einen katholischen Priester aufzuzwingen. Trotz erlassener Amnestie ließ der Graf die Anführer des Aufstands verhaften und sie (wie damals beim Militär üblich) in zwei Gruppen teilen, die gegeneinander um ihr Leben würfeln mussten. 36 Männer wurden gehängt, ein Ereignis, das den oberösterreichischen Bauernaufstand von 1626 auslöste.

Die harten Strafen für Rebellenanführer sollten nicht nur andere potenzielle Rebellen abschrecken, sondern auch die lokalen Notabeln einschüchtern. Dasselbe Ziel verfolgte der von den Fürsten (und Gott) so obsessiv geforderte absolute Gehorsam. Er war das Leitmotiv in königlichen Erlassen und in der Ratgeberliteratur für Magistrate. Mit großer Beharrlichkeit wurde auf die gefährlichen Folgen von Rebellion hingewiesen, doch die meisten Ausführungen richteten sich mit ihrer Rhetorik gar nicht an die Bevölkerung selbst. „Wenn jeder regieren will, wer soll dann noch gehorchen?“, fragte ein Traktat, der im Gefolge der „Pilgrimage of Grace“ entstand. „Nein, nein, nehmt den Reichtum an der Hand und gebt ihm den Abschied, sagt Adieu Reichtum, wo die Lust geschätzt und das Recht verlacht, wo das Oben nach unten und das Unten nach oben verkehrt wird. Es muss eine Ordnung her, und es muss ein Weg gefunden werden, damit die regieren, die es am besten vermögen, und die regiert werden, denen es am ehesten zukommt.“ Ganz ähnlich spiegelt sich in den strengeren Formulierungen der Literatur über politischen Gehorsam der Versuch, die lokalen Führungsschichten, auf die der Staat angewiesen war, zu erziehen. Dahinter stand noch eine tiefere Sorge. Zum humanistischen Projekt gehörte, dass die Ausübung von Ämtern an die Verfolgung des Gemeinwohls gebunden sein sollte. So bestand immer die Gefahr, dass Magistrate, lokale Amtsträger und Angehörige des niederen Adels verkannten, wem gegenüber sie loyal zu sein hatten – dem Volk oder dem Staat. Und gerade den „geringeren Magistraten“ (und fast jeden, der ein öffentliches Amt bekleidete, konnte man als solchen ansehen) war von einflussreicher protestantischer Seite die Pflicht gegenüber Gott und dem Volk eingeschärft worden, einer höheren Obrigkeit den Gehorsam zu versagen, falls diese ihre Pflichten gegenüber Gott vernachlässigte. Die Regierenden waren daher in Sorge, sich der Loyalität jener wachsenden Gruppe von kleineren Amtsinhabern zu versichern, von denen gerade in schwierigen Zeiten ihre Autorität abhing.

So konnte ungeachtet der harten Unterdrückungsmaßnahmen und der Ermahnungen zu absolutem Gehorsam der Protest oftmals etwas von seinen Forderungen durchsetzen. Der deutsche Bauernkrieg endete mit einer völligen Niederlage der Aufständischen, doch der darauf folgende Reichstag zu Speyer (Juni bis August 1526) stimmte Vorschlägen zur Entlastung der Bauern zu. Nach dem Tiroler Aufstand räumte die Landesverordnung von 1526 Besitzrechte am Land ein, beschränkte die Arbeitsdienste auf königlichem Grund und Boden und modifizierte die Gesetze, die das Jagen und Fischen regelten. Neu geplante Steuerbelastungen wurden gestrichen oder verschoben, und nach sozialen Protesten wurde versprochen, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen – nicht, weil das Volk gewonnen hatte, sondern weil die Herrschenden die Macht der lokalen Führungsschichten respektieren mussten. Ihre Bemühungen, die Auswirkungen des wirtschaftlichen Wandels in Stadt und Land zu mildern – durch Preiskontrollen, Verordnungen gegen das Horten von Getreide, Unterstützung der Armen und den Ankauf von Nahrungsmittelvorräten zur Freigabe zu subventionierten Preisen –, machen begreiflich, warum es trotz bröckelnden sozialen Zusammenhalts in Westeuropa nicht zu noch größeren Aufständen gekommen ist.

Dennoch war ein neuer, aufrührerischer Ton leicht aus dem Protest herauszuhören, was zum Teil daran lag, dass die Stimmen des Protests jetzt eine weitere Öffentlichkeit erreichten und leichter manipuliert und missverstanden werden konnten. Auf der anderen Seite entwickelte sich im Gefolge der Reformation eine neue, nervöse Aufmerksamkeit für aufrührerische Reden, die nun sehr viel entschiedener untersucht und verfolgt wurden. Als der Zimmermann Bartholomew Steere aus Oxfordshire 1596 äußerte, dass „die Gemeinen in Spanien schon vor langer Zeit sich erhoben und alle Vornehmen in Spanien umgebracht und seitdem dort glücklich gelebt haben“, war er falsch informiert, was indes die englische Regierung nicht daran hinderte, ihn wegen aufrührerischer Reden hinzurichten. Die Fortschritte im öffentlichen Aufbegehren ließen sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts anhand der Mitteilungsblätter verfolgen, die das Augsburger Bankhaus der Fugger vertrieb. Flugschriften, die von den Protestlern oder in deren Namen veröffentlicht wurden, machten ihre Beschwerden und Forderungen einem breiteren Publikum bekannt. Dass Revolten sich auf diese Weise ausbreiten könnten, drang vor allem in den 1640er-Jahren ins Bewusstsein der Herrschenden. Im September 1647 schrieb Battista Nani, der venezianische Botschafter in Paris, über den zwei Monate zurückliegenden Aufstand in Neapel: „Die gängigste Vorstellung, die sich hier in der Bevölkerung ausbreitet, ist, dass die Neapolitaner klug gehandelt haben und man, um Unterdrückung abzuschütteln, ihrem Beispiel folgen sollte. Allerdings ist klar, dass es zu großen Unannehmlichkeiten geführt hat, als den Leuten gestattet wurde, auf der Straße ihrer Begeisterung für den Aufstand von Neapel lauthals Ausdruck zu geben. Es wurden also Maßnahmen ergriffen, um die Gazetten an der weiteren Berichterstattung über derlei Vorfälle zu hindern.“ Dieselben Kräfte, die den technologischen Wandel verbreiteten, der das Christentum umgestaltete, streuten auch das Wissen über jene Proteste, die ihrerseits ein Zeichen für den schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalt waren.

Das verlorene Paradies

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