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2. Ressource Mensch Die materiellen Grundlagen des Christentums

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Als im 16. Jahrhundert Beamte in Europa die Bevölkerung zählten und besteuerten, geschah das häufig anhand des „Herdfeuers“. Dieser Ausdruck lässt an eine um ein offenes Feuer versammelte Familie denken. Ein Loch im Dach sorgt für den Abzug; der bewohnte Raum besteht aus einer Diele, in der gekocht, gegessen und Hausarbeit verrichtet wird, und einer Schlafkammer. Vorratshaltung hatte Vorrang, Komfort und Privatheit mussten zurückstehen. Wohlstand zeigte sich an der Existenz von Keller, Vorratsraum und Scheune. In den kalten Winternächten holte man das Vieh herein (ins „Langhaus“), um mehr Wärme zu haben.

Aber diese Vorstellung ist ein Klischee. Tatsächlich fielen die materiellen Grundlagen des Christentums regional höchst unterschiedlich aus. Das zeigte sich schon im Hausbau, dessen Stil von den lokal verfügbaren Materialien ebenso abhing wie von sozialen und kulturellen Eigenarten. Die Art zu wohnen hatte sogar Einfluss auf die demographische Entwicklung Europas. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich in den Städten und bei größeren Bauernhäusern eine bauliche Neuerung durchgesetzt: der in eine Wand eingelassene Kamin. Er erzeugte (dank besseren Abzugs) sehr viel mehr Hitze, die zwar nur zum geringen Teil genutzt werden konnte, doch hielt er die Räume weitgehend rauchfrei. Besser noch waren geschlossene Öfen aus Lehm und Kacheln. Ein Italiener, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts Polen bereiste, berichtete, dass ganze Familien, in Felle gewickelt, auf Bänken rund um den Ofen schliefen. Bei Descartes lesen wir (im Discours de la méthode), wie er im Winter 1619 bei Ulm an einem poêle (einem Kaminofen) zu einer Einsicht gelangte, die zum Ausgangspunkt für seine Suche nach einer neuen Methode zur Ordnung und Bewertung menschlichen Wissens werden sollte. Von einem zeitgenössischen Chronisten erfahren wir, dass es sage und schreibe 74 Öfen im Palast von Böhmisch Krumau (Český Krumlov) gab. Ihre geschwungenen Formen und farbig glasierten Kacheln verliehen den Räumen einen zusätzlichen visuellen Reiz. Kunsthandwerker versahen die Kacheln vor dem Brennen mit biblischen Szenen, die sie von Altären oder aus Stundenbüchern übernahmen, und machten daraus eine Art „Ofenreligion“. Solche Veränderungen der Heizkultur wirkten sich direkt auf das Leben der Menschen aus – auf die Räumlichkeiten, die Privatheit, die Kleidung, sogar auf ihren Glauben und auf die Präsenz von Nagetieren.

Holz, Steine, Ziegel – wenn es um den Hausbau ging, standen die verwendeten Materialien in enger Beziehung zum sozialen Status. Der Hausbau war für die lokale Wirtschaft von größerer Bedeutung als die Weberei. Allerdings lässt sich nur schwer einschätzen, wie viel es kostete, ein Haus zu errichten oder zu erhalten. Vieles beruhte auf menschlicher Arbeit und wurde in Naturalien bezahlt. Selbst bescheidene Cottages wurden aus Stein erbaut, wo dieser reichlich verfügbar war, wie zum Beispiel in Cornwall, der Bretagne, im Burgund und im Pariser Becken. In den Mittelmeerregionen – Katalonien, Languedoc, Provence – waren die Wohnsitze oftmals von beeindruckendem Umfang: Bis zu drei Stockwerke hoch wurden Steine mit einem Gesamtgewicht von einigen hundert Tonnen verbaut. Im Parterrebereich wurden Weintrauben und Oliven gepresst und anschließend Wein und Öl gelagert. Die Familie bewohnte die oberen Stockwerke. Der Dachboden unter den (im Mittelmeerraum weit verbreiteten) Hohlpfannen diente der Lagerung von Getreide. Wichtig war in Anbetracht des warmen Klimas die Belüftung; im Winter sorgten Kohlebecken für Wärme. Diese Häuser wurden für eine Lebensdauer von bis zu 300 Jahren gebaut, ihre Erhaltung und Pflege kostete fast nichts. Dafür waren sie aber auch bis zu 15-mal teurer in der Errichtung als ein Holzhaus. Holz war in den waldreicheren Gebieten Nordeuropas das bevorzugte Material für den Hausbau, in Stadt und Land gleichermaßen. Doch fanden sich komplett aus Stämmen errichtete Blockhäuser nur in Teilen der Alpen. Die meisten Gebäude bestanden aus einem das Dach tragenden Rahmenwerk aus behauenem Holz; die Zwischenräume wurden mit Flechtwerk gefüllt, das man dann mit Lehm bewarf. Holz war preiswert, hatte gute thermische Eigenschaften und konnte stückweise ausgebessert oder ersetzt werden. Die Bandbreite dieser Bauweise reichte von der typisch polnischen Holzrahmenkonstruktion auf einem Steinfundament, mit einem Lehmboden und einem Dach aus Stroh oder Schindeln, und Erde und Stroh an der Außenwand als Isoliermaterial, bis hin zu den massiveren Fachwerkhäusern Mittel- und Nordeuropas mit oberen Wohngeschossen und Speichern. An den Küsten und Flüssen Nordeuropas und in den größeren Städten des Südens waren Ziegel das bevorzugte Baumaterial. Deren Herstellung erforderte jedoch Transportmöglichkeiten, Produktionsstätten, gelernte Arbeitskräfte und Investitionskapital. Für haltbaren Mörtel benötigte man Kalkstein, der teuer war. So wurden zwar die städtischen Wohnhäuser aus Prestigegründen gern aus Ziegeln errichtet, doch bediente man sich ansonsten, häufig gleich außerhalb der Stadt, verschiedener Mischbauweisen aus Ziegeln und Fachwerk oder Holz, wenn stabile größere Gebäude mit guter Wärmedämmung und ohne allzu großes Gewicht gefragt waren.

Funktion und sozialer Status bestimmten die Art und Weise, wie gewohnt wurde. Die Behausungen der Tagelöhner boten bestenfalls Schutz vor dem Wüten der Elemente; in Deutschland lebten Klein- und Kleinstpächter ohne eigenen Landbesitz ebenfalls in elenden Baracken gleich neben den Höfen der wirtschaftlich besser gestellten Bauern, deren Land sie bearbeiteten. Minenarbeiter in der Auvergne waren in Hütten untergebracht, die aus einem einzigen Raum bestanden. In Ungarn und auf leichten, trockenen Böden in Mittelund Osteuropa lebte die Landbevölkerung bisweilen in Häusern aus Torf- und Grassoden, die halb in die Erde gebaut waren. Einer Erhebung aus dem Jahr 1564 zufolge wohnten in der Hafenstadt Pescara an der Adria etwa drei Viertel der Bewohner, bei denen es sich um Wanderarbeiter handelte, in Gerberhütten. In der bäuerlichen Lebenswelt war das Haus Bestandteil des Lebensunterhalts. Platz für die Verarbeitung und Lagerung von Getreide, Oliven und Weintrauben war wichtiger als Wohnraum. Waren die einfachen Unterkünfte von Tagelöhnern nicht mehr als eine Zuflucht, so stellten die Höfe der bäuerlichen Oberschichten, wie die erhaltenen Inschriften an Holzhäusern in mitteleuropäischen und alpinen Gebieten zeigen, ein Statussymbol und zugleich eine Geldanlage dar. Die Gebäude, die aus jener Zeit auf uns gekommen sind, zeigen, wie gut sich die Handwerker mit den Materialien auskannten und mit welchem statischen Gespür sie das Gewicht der Obergeschosse gleichmäßig zu verteilen wussten. Im 16. Jahrhundert tauchten in Italien und Frankreich zum ersten Mal „Architekten“ auf. 1564 publizierte der Humanist Charles Estienne La maison rustique (Der Meierhof). Es war ein Musterbuch für die Anlage eines Gehöfts, an dem sich die französischen Handwerksmeister fast zwei Jahrhunderte lang orientierten. Europas demographische Lebenskraft ließ einen bemerkenswerten Teil an Kapitalinvestitionen in den Gebäudebestand fließen.

Das materielle Leben des Christentums offenbart sich in Nachlassinventaren, wie sie von Auktionatoren, Notaren und Landschreibern angefertigt wurden, die mit einem Blick wussten, was Gegenstände wert waren. Die Erstellung eines Inventars war der erste Schritt, wenn eine Generation die vorangegangene beerbte, und sie lohnte sich nur, wenn es tatsächlich etwas zu erben gab – was auch auf dem Land und in bescheideneren Lebensumständen der Fall war. Derartige Dokumente waren, wie Testamente, nicht auf die Reichen beschränkt, sondern im Gegenteil für jeden Erblasser wichtig, der das Erbe unmündiger Kinder gesichert wissen wollte. In der Gemeinde Willingham im Marschland von East Anglia verfügten die Dorfbewohner mit großer Sorgfalt über ihr Vieh und die Gerätschaften für die Käsezubereitung. 1593 bestimmte William Pardye, ein Bootsführer, dass sein einziger Sohn John zwei Kühe, „mein ganzes Haus, so wie es dasteht … mit dem Viehfutter, das im nämlichen Haus gelagert ist, mein Boot in der Marsch, meine Stiefel und ein Paar Knöchelschuhe“ erhalten solle. In Burgund waren die am häufigsten in den Inventaren genannten Gegenstände Dreifüße, Kochtöpfe, Kochgeschirr und Brotbretter (zum Schneiden oder Teigkneten), öfters erwähnt wurden auch verschließbare Truhen, Holzbetten und Matratzen. Bereits im 15. Jahrhundert war die Gewohnheit, auf einem strohgefüllten Sack zu schlafen, der auf dem Boden oder auf Brettern lag, anderen Formen der Bettung gewichen. Betten, die aus einem Holzrahmen bestanden, in dem die Matratze auf einem Kreuzgeflecht aus Lederriemen oder Tauwerk ruhte, waren nun eine wichtige Mitgift bei der Heirat. Himmelbetten mit ihren vier Pfosten gar waren beeindruckende Möbelstücke und ein deutliches Zeichen für familiären Wohlstand. William Shakespeare vermachte in seinem Testament (vom 25. März 1616) seiner Frau Anne sein „zweitbestes Bett“. Matratzen, gefüllt mit Federn oder Wolle (Stroh war ein billiger Ersatz), konnten mit Samt, Seide und Borten reich verziert sein. Armut war freilich weit verbreitet; viele Menschen besaßen kaum etwas. Auf dem Bild La Chanson à boire (1605–1606) stellte der holländische Maler Adriaen Brouwer das Innere einer Hütte dar, die vielleicht in den Dünen nördlich von Antwerpen liegt. Drei Bauern singen dort ihr Trinklied, umgeben von nichts außer den nackten Wänden, einfachen Schemeln und den Krügen, aus denen sie trinken.

Wie die Siedlungen Europas angelegt waren, hing von einer Mischung aus historischer und sozialer Geographie ab. Vor dem geistigen Auge entsteht als vorherrschendes Muster das Dorf mit der Kirche als Mittelpunkt, um die herum sich die Häuser gruppieren, ihrerseits umgeben von Feldern und Allmenden. Diese Siedlungsform war typisch für die Ebenen und Flussniederungen wie auch für die Küstenregionen des Mittelmeers und die Randgebiete, in denen Europa Land rekolonisiert hatte – auf der Iberischen Meseta oder in der Großen Ungarischen Tiefebene. Unterschiedlicher gestalteten sich die Siedlungsformen in den Regionen mit Nutztierhaltung, in den Heide- und Marschgebieten, den bewaldeten und gebirgigen Zonen. Vielfach verbreitet in Ost- und Mitteleuropa war das Straßendorf, bei dem sich die Ansiedlung zu beiden Seiten der Straße hinzog. Typisch für die nordeuropäischen Atlantikküsten war das Küstendorf, das sich um eine Bucht oder einen Hafen gruppierte.

Diese Siedlungstypen können im Detail auf Grundbesitzkarten der damaligen Zeit studiert werden. Sie waren die Frucht zunehmender Vermessungsaktivitäten. Eines der ersten in deutscher Sprache verfassten Vermessungshandbücher ist Jacob Köbels Geometrey von 1535, die beispielsweise folgenden Praxistipp gibt: „Es sollen sechtzehn mann/klein vn groß/wie die ungefehrlich nacheinander aus der Kirchen gehen/ein ieder vor dem andern einen Schuh stellen/vnnd damit ein Lenge/die da gerad sechtzehn derselben Schuh begriffet/messen.“ Dann wird die „Lenge“ an beiden Enden markiert, und fertig ist der 16-Schuh-Stab für die Feldvermessung. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts erwartete man von Landvermessern den Einsatz von Geometrie und Kompass, um Oberflächen, die aus unregelmäßigen Vielecken bestanden, durch Triangulation zu bestimmen. Neue Instrumente halfen dabei, wie etwa Philippe Danfries graphomètre (angezeigt in einer Pariser Publikation von 1597) und „Messräder“ zur Entfernungsmessung. Dennoch blieb das Erstellen genauer Karten eine schwierige Aufgabe. Paul Pfinzings 1598 in Nürnberg veröffentlichtes Vermessungshandbuch empfahl: „Wenn nun einer wider zu Hauß kömbt/so kann er solch gemessen Feldt/auß seinen Täfelein … auff ein Pappir/so auff einem Tisch angehefftet werden muß/eintragen/und den Thailer 10 Schrit sein lassen.“ Seine Grundbesitzkarten zeigen Besiedlung und Landnutzung in bemerkenswerter Detailgenauigkeit. Die Karte seines Geburtsortes Hennenfeld von 1592 listet die Felder und Grundstücke der 79 Einwohner auf. Weiter südlich legte Johann Rauch, ein Vermesser aus Vorarlberg, eine Reihe von Karten für das Ostufer des Bodensees und für Oberschwaben an. Auf seiner Karte des Dorfes Rickenbach (die er um 1628 zeichnete) ist jedes Haus nummeriert und inklusive der dazugehörigen Felder mit dem Namen des Besitzers versehen. In Bayern kartographierte Peter Zweidler gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Ländereien des Bischofs von Bamberg mitsamt Straßen und Dörfern, Fischteichen und sogar den Grenzsteinen.

Europas Siedlungsmuster erlebten in dieser Epoche keine gravierende Veränderung. Ein den (infolge der Pest) „verlorenen Dörfern“ des Mittelalters entsprechendes Phänomen ist nach 1600 in den Mittelmeergebieten zu beobachten, und dort insbesondere in Zentralspanien, wo in den trockenen Hochebenen die Entvölkerung der ländlichen Regionen bedrohliche Ausmaße annahm. In seinem Testament von 1642 vermachte der Graf von Olivares acht religiösen Stiftungen Geldsummen zur Wiederbesiedlung verlassener Ortschaften. Für das Verschwinden von Dörfern und Weilern nach 1500 gibt es noch weitere Gründe: bewusste Landschaftsgestaltung (ehrgeizige Aristokraten bauten oder erweiterten Parks), Rache (die Vernichtung der waldensischen Gemeinschaften im südfranzösischen Lubéron 1545 oder in Kalabrien 1558), Plünderung (im Kielwasser der türkischen Offensive zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der Südslowakei und in Teilen von Ungarn) oder Klimawandel. Im Gegenzug wurden neue Gemeinschaften ins Leben gerufen, als man in West- und Südeuropa Sumpf- und Marschgebiete urbar machte. Es entstanden Dörfer, bewohnt von Gruben- und Salinenarbeitern, Steinbrechern und Fischern. Im Norden und Osten gab es noch unberührte Waldgebiete und unkultiviertes Land. So war die Anzahl der Bauernhöfe in Norwegen seit circa 1300 stabil geblieben – im Jahr 1665 waren es dann an die 57.000. In Norrland (Nordschweden) und Savolax (Ostfinnland) machte sich um 1570 eine neue Siedlungsbewegung bemerkbar, auch wenn es immer noch weite Landstriche gab, die vom Menschen kaum berührt waren. Deutsche und Slawen ließen sich in Ostmitteleuropa nieder. Weiter südlich, in Böhmen und Mähren, wurden im 15. Jahrhundert verlassene Dörfer wieder besiedelt. Das Land wurde neu belebt.

Das verlorene Paradies

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