Читать книгу Das verlorene Paradies - Mark Greengrass - Страница 24
Seitenweise Namen
ОглавлениеVor der Französischen Revolution gab es in Europa keine Volkszählungen moderner Art, wohl aber zensusähnliche Erhebungen, vor allem in Städten und stärker urbanisierten Regionen. Der Zweck dieser Zählungen war kein demographischer. Europas Herrscher wollten damit vielmehr ihre Bevölkerungen besteuern, zum Militärdienst einziehen oder neu Eingewanderte erfassen. Die Humanisten schätzten Volkszählungen aus anderen Gründen. Niccolò Machiavelli befürwortete die 1427 in Florenz eingeführte Vermögenssteuer, weil er meinte, sie folge römischem Vorbild und verhindere die Tyrannei. Sein Zeitgenosse Francesco Guicciardini sah in Vermögenssteuern zwar einen Angriff auf die Notabeln, trat aber für andere progressive Steuern ein, die auf dem Zensus beruhten. Der französische Humanist Jean Bodin empfahl die Volkszählung in seinen Six livres de la république (Sechs Bücher über den Staat, 1576), weil er sie als Grundlage für ein Steuersystem ansah, das die geometrischen Proportionen der Welt in ihrer Gesamtheit (die „Harmonien“) widerspiegelte. Trotz dieses Messeifers herrschte die stille Überzeugung, dass die Bevölkerung seit der Antike zahlenmäßig abgenommen habe und sich weiter verringere. In den Utopien jener Zeit (Thomas Morus’ Utopia erschien 1516, Tommaso Campanellas Sonnenstaat 1602, Francis Bacons Neu-Atlantis 1624) fiel dem Staat die Aufgabe zu, die Anzahl seiner Bürger zu vermehren, denn zu viele Untertanen oder Bürger konnte es laut Jean Bodin gar nicht geben – weil nämlich ohne Menschen weder Reichtum noch Macht zu gewinnen seien.
Mit der Etablierung des „Steuerstaats“ wurde die Bevölkerung häufiger gezählt. In dieser Hinsicht waren die politischen Gemeinwesen in Italien Vorreiter – Venedig, Mailand, die Toskana, Genua, Rom, die Königreiche von Neapel und Sizilien. In den südlichen Niederlanden beruhte die Besteuerung auf der Zählung der Herdfeuer, im Languedoc auf dem geschätzten Reichtum, der in Aufstellungen des Land- und Vermögensbesitzes festgehalten wurde. Vor dem frühen 17. Jahrhundert fand keine systematische Registrierung der Zivilbevölkerung statt. Doch nach Papst Pauls V. Rituale Romanum von 1614 begannen diverse italienische Diözesen damit, jährliche Kongregationslisten zu führen, in denen Alter und Familienangehörige einer jeden Person, die die Osterkommunion empfing, verzeichnet waren. Im Norden war die lutherische Geistlichkeit ab 1628 angewiesen, Jahresregister zu führen, die Auskunft über den Bildungsstand und die religiöse Unterweisung der Gemeindemitglieder gaben.
Diese Dokumente sind bisweilen nichts weiter als seitenweise Namen. Steuerverzeichnisse listen Herdstellen, kirchliche Dokumente Kommuniongänger auf. Das bedarf der Interpretation. In dieser Epoche ist Demographie Schwarzkunst. Zwar wird allgemein angenommen, es habe damals einen bedeutenden Bevölkerungsanstieg gegeben, doch wann er begann und endete, bleibt unklar. Jedenfalls war er im späten 15. Jahrhundert noch sehr verhalten und vor 1520 mancherorts kaum zu bemerken. In England wurde das Wachstum erst ab etwa 1510 registriert und verdoppelte sich dann in den folgenden 100 Jahren. In den Niederlanden setzte es früher ein und währte in den nördlichen Provinzen bis 1650, während es im Süden ins Stocken geriet.
In den deutschen Territorien begann das Bevölkerungswachstum schon recht früh, und zwar stärker im Westen als im Osten. Ob es sich bis 1618 verlangsamte, ist umstritten, doch wurde es zweifellos durch den Dreißigjährigen Krieg zunichte gemacht. In Frankreich entwickelten sich die Wachstumsrhythmen von 1500 bis 1545 stark und gleichmäßig, von 1545 bis 1560 unregelmäßig, danach mit neuer Kraft, die in Unsicherheit überging. Von 1580 bis zum Ende des Jahrhunderts fand ein Niedergang statt, der mit dem schlimmsten aller damaligen Bürgerkriege zusammenfiel. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war wieder ein – wenn auch ungleichmäßiges – Wachstum zu verzeichnen, mit dem es ab 1630 zu Ende ging, wobei die Entwicklung je nach Region verschieden ausfiel. Die Pestepidemien der Jahre 1628–1632 und 1636–1639 machten häufig das zunichte, was die vorherige Generation an Zuwachs erbracht hatte. In Teilen von Norditalien begann das Wachstum schon vor 1500 und setzte sich in den meisten Regionen bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, hier und dort bis in die ersten Jahre des 17. Jahrhunderts fort. Doch die Pestepidemien der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (in der Lombardei 1628–1632, 1635 und 1649) fraßen die meisten Zugewinne des vorherigen Jahrhunderts wieder auf.
Auf der Iberischen Halbinsel wuchs die Bevölkerung Kastiliens während des ganzen 16. Jahrhunderts, am schnellsten vielleicht in den 1530er-Jahren. Dann gab es, wie in Frankreich und Italien, Epidemien (und möglicherweise auch steigende Sterberaten infolge von Hungersnöten), wodurch der Bevölkerungszugewinn binnen weniger Jahre dahinschmolz. Die Pest von 1599/1600 war von erschreckender Intensität. Im Zeitraum zwischen 1596 und 1614 fielen ihr wahrscheinlich 750.000 Spanier – ein Zehntel der Bevölkerung – zum Opfer. Einige Orte scheinen sich davon nicht mehr erholt zu haben, während andere zwar zunächst wieder Anschluss fanden, doch späteren Ausbrüchen der Krankheit, insbesondere denen von 1647 und 1650, zum Opfer fielen. Eine Untersuchung, die sich auf die Anzahl der Taufen in 64 Pfarrgemeinden quer durch Kastilien konzentriert, lässt auf einen starken Rückgang im Inneren der Halbinsel (in Altkastilien und der Extremadura) schließen. In anderen Regionen hatte die Vertreibung der Morisken (zwangskonvertierte Moslems) katastrophale Folgen. 1609 wurden an die 275.000 des Landes verwiesen, wodurch Valencia ein Viertel seiner Einwohner verlor. In Kastilien und Andalusien waren die Auswirkungen nicht so dramatisch, aber, vor allem in den Städten, durchaus spürbar. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, den allgemeinen Aufschwung des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Hinweisen auf eine Stagnation in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu begreifen, denn dabei handelte es sich nicht um eine generelle Krise in der Größenordnung von Pestepidemien. Aber sie wirft Fragen hinsichtlich der grundlegenden Schwächen auf, die dem Wachstum im 16. Jahrhundert innewohnten.
Ein Gesamtbild ergibt sich aus diesen Trends nicht auf den ersten Blick. Die Zahlen, auch wenn sie vorsichtig zu interpretieren sind, geben die Perspektive auf das Bevölkerungswachstum im „langen 16. Jahrhundert“ frei. Irgendwann gegen 1600 hatte Europa 75 bis 80 Millionen Einwohner. Das entspricht in etwa dem unteren Ende der Schätzungen für die Bevölkerungszahl im frühen 14. Jahrhundert, am Vorabend der Epidemien. Europa nivellierte im 16. Jahrhundert die Verluste durch die Pest also, mehr aber auch nicht. 1340 entfielen auf Europa vielleicht 17 Prozent der Weltbevölkerung (74 von 442 Millionen), 1650 waren es nur 15 Prozent. Um 1600 könnte Chinas Bevölkerung, die womöglich schneller wuchs als die europäische, 175 bis 200 Millionen Einwohner betragen haben. Trotz Verlusten im Zeitraum bis 1650 blieb sie mehr als doppelt so groß wie die europäische. Europas demographische Entwicklung im „langen 16. Jahrhundert“ war, bezogen auf den Weltmaßstab, mithin nicht spektakulär, sondern aus moderner Sicht eher bescheiden (ein Prozent pro Jahr) und ungleichmäßig – träge im Mittelmeerraum, dynamischer im Nordwesten. Frankreich beherrschte das europäische Kerngebiet, mit fast 20 Millionen Einwohnern stellte es ungefähr ein Viertel der Gesamtbevölkerung Europas.
Es war die Zeit der Pfarrregister, wobei einige Diözesen, vor allem in Italien und Spanien, damit besonders früh begannen. Einige der frühesten Beispiele stammen aus der Umgebung von Nantes: Der dortige Bischof hielt seine Pfarrgeistlichen schon ab 1406 dazu an, Taufregister zu führen. Die Motive waren allerdings nicht demographischer, sondern religiöser Natur – es sollte „spiritueller Inzest“ vermieden, sprich verhindert werden, dass ein Pfarrkind in die Familie seines Paten einheiratete. Nach und nach fanden solche lokalen Initiativen Eingang in kirchliche und staatliche Verordnungen. Auf der letzten Sitzung des Konzils von Trient (24. November 1563) wurde beschlossen und verkündet, dass die Gemeindepriester Geburts- und Heiratsregister zu führen hätten. Aber auch die weltliche Obrigkeit wollte gerne Mittel an der Hand haben, um nachweisen zu können, dass Menschen an einem bestimmten Tag geboren, verheiratet und begraben worden waren. In Frankreich rechtfertigten die Verordnungen von Blois (1579) solche Register damit, dass sie zur Vermeidung von Betrug dienten. Die Reformation zog die Grenzen zwischen Kirche und Staat neu, was in Teilen der Schweiz (seit den späteren 1520er-Jahren), in England (ab 1538) und andernorts zur Anlage von Registern in den Pfarrgemeinden führte. In Zürich wurden sie 1526 eingeführt, um die Ausbreitung des Wiedertäufertums zu kontrollieren. In Genf verordnete Calvin ihre Erstellung 1541, weil er befand, ein wohlgeordnetes Gemeinwesen könne ohne sie nicht auskommen.
Schon in einem einzigen französischen Departement (Loire-Atlantique) haben sich aus dem 16. Jahrhundert an die 100.000 Blätter kirchlicher Gemeinderegister im Folioformat erhalten, in denen Tausende von Knaben mit dem Namen „Jean“ (einer von vieren) und von Mädchen mit dem Namen „Jeanne“ (eine von fünfen) auftauchen. Theoretisch lässt sich durch Familienrekonstitution – die Rekonstruktion der Genealogie einer ausreichenden Anzahl von Familien über einen langen Zeitraum – eine demographische Entwicklungskurve erstellen. Realiter ist der Prozess jedoch kompliziert, vor allem, was die Periode vor 1650 angeht. Frühe Taufregister verzeichnen die Geburt von Kindern, die vor der Taufe verstarben, nur höchst unregelmäßig. In manchen Gegenden von Europa (etwa im Baskenland und in Estland) war es nicht üblich, Patronyme zu verwenden, und in Holland gaben die Angehörigen der unteren Klassen bei Taufen häufig ihre Familiennamen nicht an, obwohl sie es bei anderer Gelegenheit durchaus taten. Namen wurden gemäß der Aussprache niedergeschrieben, und viele Leute waren unter ihrem Rufnamen bekannt. Überdies macht die Migration die Familienrekonstitution zu einem Puzzlespiel, bei dem wichtige Teile fehlen und weitere zu einem ganz anderen Bild gehören.
Gelingt jedoch eine solche Rekonstitution, gleichen die Resultate dem Abhören einer Lunge durch das Stethoskop, wobei Leben die Systole und Sterben die Diastole ist. Gestorben wurde in hohen Raten während und nach der Schwangerschaft: Vielerorts erreichte ein Viertel der Kinder nicht einmal das erste Lebensjahr, und nur die Hälfte konnte den zehnten Geburtstag feiern. Das Tagebuch des Jean Le Coullon, eines Landmanns aus der Gegend um Metz, berichtet in dieser Hinsicht nichts Ungewöhnliches. Er stammte aus einer Familie mit 13 Kindern, von denen zehn vor der Heirat starben. Er selbst heiratete im Januar 1545; im Jahr darauf gebar ihm seine Frau den ersten Sohn, Colignon, zwei Jahre später den zweiten Sohn, 1549 den dritten, mit Namen Jean, und 1552 den vierten. 1553 starb seine Frau an der Pest, und auch zwei Kinder waren bereits gestorben. Jean verheiratete sich elf Monate später erneut und hatte mit seiner zweiten Frau weitere Kinder, doch von den insgesamt 19 Nachkommen, die er im Tagebuch nennt, erreichten nur sechs das 20. Lebensjahr. Er berichtet davon, so wie er das Wetter und das Gedeihen der Feldfrüchte erwähnt. Man könnte nun meinen, dass ihm das Sterben nicht besonders naheging, doch als sein erster nach ihm benannter Sohn, Jean, 1549 starb, schrieb er: „Ich spürte so großen Schmerz, dass ich untröstlich war.“
Großfamilien kamen also nicht häufig vor. Die Lebenserwartung bei der Geburt war gering (vielleicht 25 Jahre). Sie verbesserte sich zwar mit zunehmendem Alter, doch hatte Glück, wer sein 55. Jahr erlebte. Wer so alt geworden war, wusste oft gar nicht mehr, wie alt er war. 1566 erklärte Wiriot Guérin, Bürgermeister des Moseldorfs Gondreville, er sei 44 Jahre alt. Ein Jahrzehnt später machte er gegenüber den Beamten des lothringischen Herzogs die Angabe, er sei „sechzig oder älter“. Tödliche Krankheiten – Beulenpest, Typhus, Scharlach und Grippe – konnten ganze Familien auslöschen und sich in manchen Gegenden verheerend auswirken. Unser demographisches Stethoskop erfasst die Zuckungen eines sozialen Organismus, der Sterberaten zu verkraften sucht, die plötzlich auf 6–10 Prozent, bisweilen gar auf 30–40 Prozent hochschnellen. Zu diesen Zuckungen gehört aber auch der natürliche oder vielleicht besser: soziale Drang, die Verluste wieder wettzumachen. Erst geraten die Taufzahlen ins Stocken, um sich dann schnell wieder zu erholen, damit der Organismus sein Gleichgewicht zurückgewinnt; kleine Babybooms waren eine normale Reaktion auf demographische Einbrüche. Heiratsregister zeigen, wie Witwen und Witwer ihre Familien rekonstituieren und ihre Erbschaften konsolidieren.
Wie also konnte Europas Bevölkerung ihre Verluste ausgleichen? Wo längere Serien von Pfarrregistern erhalten sind, lassen sie Zyklen lokalen und regionalen Wachstums erkennen, periodisch unterbrochen von einer größeren Sterblichkeitskrise, die ihre je eigenen Höhe- und Tiefpunkte in den Familien- und Alterskohorten der Zukunft zeitigte. Über diese Dinge hatten die Menschen zumeist keinerlei Kontrolle. Die Antwort auf die oben gestellte Frage liegt also nicht in jenen Elementen, die das Bevölkerungswachstum verhinderten, sondern darin, wie es der Bevölkerung trotz aller negativen Einflüsse gelang, eine relativ hohe Fruchtbarkeitsrate aufrechtzuerhalten. Hier geht die Demographie (im wahrsten Sinn des Wortes) mit ebenso viel Fragen wie Antworten schwanger. Wie viele Männer und Frauen es vorzogen, unverheiratet zu bleiben, ist nicht bekannt, doch könnten es 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung gewesen sein. Bei den Verheirateten entsprach die Fruchtbarkeit der Frau der modernen biologischen Uhr: Am stärksten war sie zwischen dem 20. und 24. Lebensjahr ausgebildet, um danach abzunehmen, zuerst langsam, doch desto schneller, je näher das 40. Jahr rückte. In diesem Alter wurden die meisten Frauen zum letzten Mal in ihrem Leben schwanger. Die Rate der außerehelichen Geburten war dabei auf einem Niveau, von dem moderne Vertreter familiärer Werte nur träumen können. Zwischen vier und zehn Prozent der Frauen, die das Eheversprechen abgaben, waren schwanger – doch mehr als die Hälfte befand sich noch in einem frühen Stadium und konnte ihren Zustand rechtfertigen. Von allen Kindern wurden nur vier Prozent außerehelich geboren, häufig waren es nicht einmal zwei Prozent, und auch diese Zahl sollte sich noch verringern. Deutet dies auf eine größere soziale und sexuelle Disziplin hin, die mit der Reformation im 16. Jahrhundert einherging? Das mag sein, doch die Raten außerehelicher Geburten folgten in ihrer Bewegung in etwa dem Trend der Eheschließungen. Im frühmodernen Europa waren außereheliche Geburten keine Alternative zu den ehelichen, sondern ergänzten sie.
Die Geburtenraten in Europa fielen regional sehr unterschiedlich aus. Vor 1650 gibt es keine Hinweise auf die Existenz einer weiter verbreiteten künstlichen Geburtenkontrolle. Eine solche zu verhindern, war gleichermaßen das Anliegen von religiösen Vorschriften wie von sozialen Normen. Zwar blieb den Paaren die Möglichkeit unbenommen, auf Sex zu verzichteten, um weitere Schwangerschaften zu vermeiden, doch scheint ein derartiger Verzicht nicht eben häufig der Fall gewesen zu sein. Somit liegt die Erklärung für das Bevölkerungswachstum in Europa in der komplexen sozialen Institution namens Ehe.