Читать книгу Das verlorene Paradies - Mark Greengrass - Страница 26
Das rote Pferd, das schwarze Pferd, das fahle Pferd
Оглавление1498 schuf Albrecht Dürer 15 Holzschnitte für eine Ausgabe der Offenbarung des Johannes. Diese apokalyptische Vision übte auf die Europäer des 16. und 17. Jahrhunderts zweifellos eine immense Faszination aus. Zwischen 1498 und 1650 wurden mehr als 750 Textausgaben oder Kommentare dazu veröffentlicht, viele davon in preiswerten Druckformaten. Von Dürers Holzschnitten erlangten Die vier apokalyptischen Reiter die größte Berühmtheit. Frühere Illustratoren hatten die Reiter einzeln abgebildet, Dürer aber ließ sie alle vier zusammen vor einem drohend bewölkten Himmel daherstürmen und alles niedermetzeln, was in ihren Weg gerät, während unten das Höllenungeheuer die Reichen und Mächtigen verschlingt. In der Offenbarung sitzt der zweite Reiter auf einem roten Pferd und symbolisiert den Krieg. Der dritte, der Künder von Hungersnot, reitet ein schwarzes Pferd, und der vierte mit seinem fahlen Pferd bringt Krankheit und Tod.
Wenngleich die Auswirkungen kriegerischer Konflikte schwer zu ermessen sind, waren sie in den eineinhalb Jahrhunderten zwischen 1500 und 1650 doch nicht zu übersehen. Die Größe der Heere erreichte eine neue Dimension, und die Kriegführung nahm die Züge eines Zermürbungskriegs an. Bei der Belagerung und schlussendlichen Einnahme von Maastricht durch spanische Truppen verlor ein Drittel der Einwohner das Leben. La Rochelle wurde (1627/28) 14 Monate lang belagert, was in der Bevölkerung eine Hungersnot und Krankheiten auslöste. Von 27.000 Bewohnern überlebten 5000. Als Magdeburg 1631 von kaiserlichen Truppen erobert wurde, kamen an die 25.000 Menschen (85 Prozent der Einwohner) in der brennenden Stadt um. Die gesamten militärischen Verluste im Dreißigjährigen Krieg dürften bei gut 400.000 Toten gelegen haben; bezieht man die Todesfälle durch Krankheit mit ein, könnte die Zahl durchaus das Vierfache betragen. Noch gravierender waren die Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung. Es wurde zur militärischen Praxis, die Lebensgrundlagen in einem Landstrich zu zerstören, um ein Vordringen des Feindes zu verhindern oder zu verzögern. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gehörten den Söldnern in Italien für gewöhnlich auch spezielle Einheiten an, die nicht nur Befestigungsanlagen bauten, sondern Feldfrüchte vernichteten, Weinstöcke ausrissen und Olivenbäume umhackten, um so die Landwirtschaft einer Region auf Jahre hinaus lahmzulegen. Genau dieser Taktik bediente sich auch Marschall Anne de Montmorency 1536 in der Provence, um den Vorstoß der kaiserlichen Truppen aufzuhalten. Ebenso verfuhren die Heere, die zu Beginn der 1630er-Jahre in das Herzogtum Lothringen eindrangen, und die schwedischen Streitkräfte in Bayern 1632 und erneut 1646. Unbezahlte und schlecht verproviantierte Soldaten stellten eine besondere Gefahr für die Zivilbevölkerung dar, wie es jene Städte in den Niederlanden erfahren mussten, die während des holländischen Aufstands von meuternden Truppen besetzt wurden. In seinem Kupferstich Bauernleid zeigt der holländische Künstler David Vinckboons (1576–1632) Bauern, die von Soldaten brutal behandelt werden. Doch in einem weiteren Bild stellt er die umgekehrte Situation dar: Bauern, die an Soldaten Rache nehmen. Armeen auf dem Marsch waren verhasst und gefürchtet. Bei Nürnberg wurden 1622 spanische und italienische Kontingente der bayerischen Armee, die ins Hintertreffen geraten waren, von Bauern massakriert; ebenso erging es versprengten schwedischen Einheiten nach ihrer Niederlage bei Bamberg 1631.
Flucht in die relative Sicherheit einer befestigten Stadt bedeutete, Haus und Hof zu verlassen und die Ernte der Vernichtung preiszugeben. Zudem erhöhte solche Abwanderung das Risiko, dass sich unter lauter schlecht ernährten Menschen jene epidemischen Krankheiten weiter verbreiteten, die häufig von den Armeen ins Land geschleppt worden waren. Die Quellenaufzeichnungen sind lückenhaft, doch könnte der Krieg bereits im späteren 16. Jahrhundert das Bevölkerungswachstum in Frankreich und den Niederlanden ins Gegenteil verkehrt haben. Nach 1600 waren die Verluste an Menschenleben im zivilen und militärischen Bereich, die direkt oder indirekt von den militärischen Konflikten – den Bürgerkriegen auf den Britischen Inseln und dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland – verursacht wurden, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung jedenfalls schlimmer als die Verluste im Ersten Weltkrieg. In Russland verursachte der katastrophale Livländische Krieg (1558–1583, auch „Erster Nordischer Krieg“ genannt) einen politischen und finanziellen Zusammenbruch, der die „Zeit der Wirren“ (1598–1613) zur Folge hatte. Als die Steuerlast sich verdoppelte, flohen die Bauern in die Steppengebiete, wobei (einigen Berichten zufolge) mehr als die Hälfte der Höfe verlassen zurückblieb. Dadurch kam es zwischen 1601 und 1603 zu Hungersnöten, deren Auswirkungen durch Bürgerkrieg, Bauernaufstände und ausländische Interventionen noch verschärft wurden. Um 1620 übertraf die Entvölkerung in vielen Regionen sogar noch die verheerenden Ausmaße der 1580er-Jahre. Das russische Kernland brauchte zur Erholung mehr Zeit als Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg. Mit Blick auf die menschlichen „Kosten“ seiner Konflikte stand Europa in dieser Periode unter den eurasischen Zivilisationen einzigartig da.
Die Beulenpest hatte auch weiterhin das Potenzial, Europas Bevölkerung dahinzuraffen, wobei die miteinander vernetzten urbanen Regionen der Verbreitung überaus förderlich waren. Zwischen 1493 und 1649 kam es in Amsterdam zu 24 Ausbrüchen, in Leiden zu 27, in Rotterdam zu 20 und in Dordrecht zu 18. In einem vergleichbaren Zeitraum (1485–1666) trat die Pest in 14 englischen Städten im Schnitt einmal alle 16 Jahre auf; in London kam es regelmäßig zu Ausbrüchen. Große städtische Ballungsgebiete waren dem Infektionsrisiko am meisten ausgesetzt. Da die Pest durch Ratten übertragen wurde (eine Erkenntnis, die zweifelsfrei gesichert scheint), kam es, begünstigt durch die vielfältigen Kontakte und die erhöhte Mobilität innerhalb Europas, zu immer wieder neuen Infektionen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erließen die Behörden Quarantänebestimmungen, wenngleich nicht aus wissenschaftlich-medizinischen, sondern aus pragmatischen Gründen, nämlich um die Ausbreitung der Krankheit besser unter Kontrolle zu bekommen. Immerhin folgten sie dabei dem Rat der Ärzte, indem sie die Ursachen der Sterblichkeit beobachteten, Regeln zur Frühwarnung bei Pestausbrüchen andernorts einführten und die Kontakte dementsprechend beschränkten sowie spezielle Pestkrankenhäuser einrichteten, um die Erkrankten zu isolieren und so eine Epidemie zu verhindern.
Die Pest war zu Recht gefürchtet, denn von den Infizierten starben viele sehr schnell. Der Tod war schmerzhaft und nahm keine Rücksicht auf Klasse oder Stand. Der französische Chirurg Ambroise Paré nannte die Pest einen Feind, der „die Festung oder Burg des Lebens“ im Sturm eroberte. Eine Heilung gab es nicht. Alles, was Paré anbieten konnte, war ein Palliativ, eine Mischung aus Sirup und Mithridat (ein altes, „königliches“ Gegenmittel), dazu eine Salbe, um das Gift aus dem Körper zu ziehen. Das hielt seine Kollegen nicht davon ab, einander mit Erklärungen zu überbieten, deren beliebteste dem „Miasma“, einer giftigen, die Luft verunreinigenden Ausdünstung, die Schuld an der Krankheit gab. Das beste Gegenmittel sei die Flucht – was die Krankheit nur weiter verbreiten half.
Neben der Pest gab es noch andere ansteckende Krankheiten wie Pocken, Typhus und Grippe, deren Ausbreitung den Menschen immer bewusster machte, wie eng eine Region mit der anderen verflochten war. Typhusepidemien könnten zwischen 1580 und 1620 eine Million russischer Bauern das Leben gekostet haben. Die Ärzte benannten die Krankheit nach dem griechischen Wort typhos (für „Schwindel“), weil die Erkrankten oft einen Zustand geistiger Benommenheit zeigten. Soweit man sich erinnerte, war die Krankheit vor dem letzten Feldzug gegen die Mauren in Granada 1489–1492 kaum je aufgetreten. Im Englischen war der Typhus auch als camp-fever bekannt, weil er besonders in der Armee verbreitet war. Er befiel die Truppen in den Italienischen Kriegen und dezimierte Ende des 16. Jahrhunderts in Ungarn die dort einander bekämpfenden Heere der Christen und Osmanen gleichermaßen. Auch die Truppen des Grafen Mansfeld, die nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) erst in die Pfalz und dann ins Elsass und in die Niederlande (1621) flohen, hatten den Typhus im Marschgepäck; 4000 Tote gab es dadurch allein in Straßburg. Französische Truppen, die aus dem Feldzug von Mantua (1629/30) heimkehrten, infizierten in Südfrankreich über eine Million Menschen.
Auch die Syphilis wurde von Soldaten übertragen. Zum ersten größeren Ausbruch kam es in den französischen Heeren, die 1494 in Italien einmarschierten. Sie gaben ihr den Namen „Neapolitanische Krankheit“. In anderen Gegenden Europas sprach man von den Französischen oder auch den Deutschen, Polnischen oder Spanischen Blattern. 1527 schlug ein Arzt in Rouen, Jacques de Béthencourt, eine Alternative für die abschätzige Bezeichnung morbus gallicus (Französische Krankheit) vor, nämlich „Venerische Krankheit“ (morbus venereus, nach der Liebesgöttin Venus). Drei Jahre später verfasste der Arzt Girolamo Fracastoro in Verona ein Epos in vergilscher Manier über einen Hirten namens „Syphilus“. Fracastoro stand Kolumbus’ Reise nach Amerika vor Augen, als er beschrieb, wie eine Flotte ein neues Land im Westen erreichte, wo die Entdecker die Götter beleidigten, indem sie exotische Tiere töteten. Wie die Eingeborenen selbst erklärten, hatten ihre Vorfahren irgendwann aufgehört, die Götter zu verehren, weshalb sie von ihnen mit einer Krankheit geschlagen worden seien. Der Schäfer Syphilus sei der Erste gewesen, den es getroffen habe. Mit dieser Geschichte schrieb Fracastoro den Mythos fort, die Syphilis sei amerikanischen Ursprungs und durch den Handel verbreitet worden („by Traffic brought“, wie es in Nahum Tates Versübersetzung von Fracastoros Epos heißt). Fracastoro erinnerte daran, dass internationaler Handel auch mit Nachteilen verbunden war.
Hunger trat häufig auf, und Hungersnöte waren nicht unbekannt. Chronische Nahrungsknappheit – wenn Lebensmittel kaum zu haben und deshalb für viele unerschwinglich waren – kam oft vor. In England trat solche Knappheit 1527/28, 1550–1552, 1555–1559 und 1596–1598 (der „Große Hunger“) auf. In Paris hungerten die Menschen 1520/21, 1523, 1528–1534, 1548, 1556 und 1560. Die Mittelmeerregionen erlebten 1521–1524 eine weit verbreitete Nahrungsknappheit, und der Mangel wurde dort nach 1600 ein so regelmäßiges Phänomen, dass er nicht länger Gegenstand von Aufzeichnungen war. In den baltischen Ländern und Polen grassierten 1570 und 1588 Hungersnöte, und in vielen Gegenden Europas in den 1590er-Jahren. Aber starben die Menschen vor Hunger? Auf diese schwierige Frage gibt es nur eine provisorische Antwort. Eine schwerere Infektion konnte auch bei einem wohlgenährten Menschen tödlich verlaufen. Allerdings setzte Mangelernährung die physische Widerstandsfähigkeit herab und begünstigte Erkrankungen. Der Leibarzt von König Jakob I., Théodore Turquet de Mayerne, wies den englischen Kronrat an, die Vorräte an Nahrungsmitteln zu kontrollieren, weil Hungersnot „fast unvermeidlicherweise zur Ausbreitung der Pest führt“. In Teilen von Nordengland geben die erhaltenen Pfarrregister vor allem der 1590er- und 1630er-Jahre deutliche Hinweise auf eine mit Nahrungsmangel zusammenhängende Sterblichkeit (durch einen Anstieg der Todesfälle in den späten Wintermonaten). Vergleichbare Hinweise liegen für Teile Innerkastiliens, Norditalien, den Kirchenstaat und Neapel in den 1590er-Jahren vor. Es gibt glaubhafte Berichte, wonach umherziehende Landfahrer besonders in den Wintermonaten der Jahre 1635, 1649 und 1655 nach Missernten an Hunger und Kälte starben. Eine solche mangelbedingte Sterblichkeit war noch ein relativ junges Phänomen, nämlich ein Produkt des späten 16. Jahrhunderts, und spiegelte den einschneidenden Einfluss wider, den der wirtschaftliche Wandel auf die bewährten Muster der Widerstandsfähigkeit hatte.
Nahrungsmittelknappheit war ein lokales Problem. Vor allem auf dem Land blieben die Getreidemärkte autonom, und die Preisentwicklung nahm ihren je eigenen Verlauf. Dagegen waren in den größeren Städten entschiedene Bemühungen zu verzeichnen, Preiserhöhungen durch die Einrichtung von städtischen Kornkammern zu vermeiden, denn die Stadträte fürchteten mit Recht Aufstände infolge hoher Getreidepreise. Die mittelmeerischen Küstenstädte bevorrateten sich mit polnischem Weizen, den holländische Kaufleute lieferten. Letztere hatten den Ferngroßhandel mit Getreide seit den 1590er-Jahren fest in der Hand. In den holländischen Städten selbst griffen die Behörden so gut wie nie in den Getreidehandel ein, weil die Interessen von Händlern und Magistraten allzu unterschiedlich waren. Anderenorts jedoch wurden strengere Kontrollen des Getreidehandels zum Markenzeichen einer merkantilistisch orientierten politischen Ökonomie. Insgesamt hatte es den Anschein, als würden zwei Arten von Europa entstehen: eine, die Perioden von Nahrungsmangel gut bewältigen konnte, und eine andere, die das nicht vermochte. Beide wussten voneinander und ihre Geschicke waren nicht ohne Einfluss aufeinander.