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Landbesitz und Landnutzung

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Selbst für Institutionen wie Städte, Hospitäler oder Klöster war der Besitz von Land zu vollem Recht ungewöhnlich. 1515 fasste der Theologe Silvestro Mazzolini da Prierio (Sylvester Prierias), ein italienischer Dominikaner, die seit Langem geführte Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen ius (Recht) und dominium (Besitz, Eigentum) zusammen. Er schrieb, es sei falsch anzunehmen, dass ius und dominium dasselbe wären und dass, wer das ius habe, auch das damit einhergehende dominium besäße und umgekehrt. Idealerweise, räumte er ein, sollte das so sein, aber die Welt war komplizierter. So konnte jemand ein ius haben, der kein dominium besaß. Mazzolini führte das Beispiel von einem Vater und seinem noch unmündigen Sohn an. Der Vater besaß das dominium über den Sohn, doch dieser hatte das ius, nämlich das Recht, im väterlichen Haushalt versorgt zu werden. Die rechtliche Unterscheidung zwischen dem Besitzanspruch auf eine Sache (dominium directum, Obereigentum, nannten das die römischen Rechtsgelehrten) und dem Nutzungsrecht daran (dem dominium utile oder nutzbarem Eigentum) wurde allgemein verstanden, weil sie in der Wirklichkeit wurzelte.

Was die meisten Menschen lebhaft interessierte, war die konkrete Nutzung der verwertbaren Ressourcen des Landes. Sehr häufig lag sie nicht bei dem eigentlichen Besitzer des Bodens selbst. Das Recht, in einem Fluss zu fischen, ein Stück Land zu überqueren oder in einem Wald Holz zu schlagen – dies alles war Gegenstand unterschiedlicher Besitztitel, die von dem unmittelbaren Besitz des Bodens selbst getrennt werden konnten. Hieraus erwachsende Streitfälle wurden, wenig verwunderlich, besonders häufig und kontrovers vor den Gerichten verhandelt. Viele Nutzungsrechte für wirtschaftliche Güter lagen noch bei den Kommunen und wurden gegen eine Prämie vergeben. In weiten Teilen Europas gab es noch Gemeindeland, und die Gemeinden vor Ort mussten über dessen Nutzung entscheiden, wobei es galt, Risiken für die bäuerliche Gemeinschaft zu mildern, den organisatorischen Aufwand und Streit zwischen den Beteiligten zu minimieren und die strukturelle Verfasstheit der Gesellschaft, der man angehörte, zu berücksichtigen.

In vielen Regionen Europas herrschten auf dem Land weiterhin die feudalen Gutsbesitzer. Selbst wenn sie das meiste Land an Kleinbauern verpachtet hatten, behielten sie sich oft das Prärogativ vor, über strittige Nutzungsrechte durch eigene Gerichte zu entscheiden. Abgesehen davon zeigten sich die Oberherren zunehmend hartleibig, wenn es um die Abgaben und Pflichten ging, die von den Bauern zu leisten waren. Dazu gehörte eine Art Lehngeld, das beim Tod eines Bauen oder Herrn fällig wurde. Es betrug 5 bis 15 Prozent vom Wert des bäuerlichen Besitzes (in manchen schwäbischen Territorien wurde daraus eine Strafgebühr von 50 Prozent). In einigen Teilen von Südwestdeutschland kürzten die Grundherren die Laufzeit von Pachtverträgen, um die Erträge aus den Anerkennungsgebühren zu erhöhen, die bei Abschluss eines neuen Vertrags anfielen. Derlei Lasten vervielfältigten sich, wenn ein Bauer einer Vielzahl von Herren für unterschiedliche Teile seines Grund und Bodens oder einer Vielzahl von Herren für dasselbe Stück Land verpflichtet war. Die Grundherren ergriffen auch die Offensive, wenn es darum ging, Nutzungsrechte für Wälder, Flüsse, Seen und Gemeinweiden einzuschränken. Das geschah im Zeichen landwirtschaftlicher Intensivierung.

Aber die Kleinbauern waren gewitzt und gut genug organisiert, um ihre dörflichen Institutionen zu mobilisieren. Dorfversammlungen nahmen repräsentative, organisatorische und begrenzt auch juristische Funktionen wahr. Im westlichen Europa waren vielerorts die Bauern mit dem größten Besitz und Ansehen die Hauptstützen solcher Versammlungen, wobei sie in Deutschland und vielleicht auch anderswo von dem lokalen Herrn bestätigt oder sogar ernannt wurden. Dennoch wussten sich die Dorfversammlungen erfolgreich auf das Gesetz zu berufen, um Schutz vor (wirklichen oder vermeintlichen) Beeinträchtigungen ihrer Nutzungsrechte zu suchen. Zwar waren die Oberherren darauf aus, die Macht dieser Institutionen zu beschränken, doch trafen sie dabei oft auf Bauern, die in ihrer Funktion als Steuereintreiber und lokale Amtmänner sowie durch das wachsende Wohlstandsgefälle gegenüber ihren Nachbarn höchst einflussreich geworden waren. Diese ländlichen Honoratioren konnten, bisweilen unterstützt durch Priester oder Notare, durchaus Widerstand mobilisieren und über seine konkrete Ausgestaltung entscheiden. Die Politik auf dem Land drehte sich um diese Leute und ihr Verständnis von Recht und persönlicher Verantwortlichkeit. Sie spielten eine entscheidende Rolle bei Verhandlungen mit übergeordneten Instanzen (Grundherren, kirchliche und weltliche Obrigkeit). Schlugen die Verhandlungen fehl, organisierten sie passiven Widerstand oder offenen Aufstand. Zur Rebellion kam es zumeist dann, wenn verschiedene Faktoren zusammentrafen: Kleinbauern oder anderweitig wirtschaftlich abhängige Produzenten, eine starke Tradition kommunaler Selbstorganisation und Repräsentation, die Eintreibung neuer Forderungen durch Grundherrschaft, Kirche und Staat.

Inflationäre Entwicklungen konnten die Bauern hart treffen. Sie boten ein begrenztes Spektrum an Produkten auf einem Markt an, auf dem sie oftmals für ihre Teilnahme bezahlen mussten, ohne genau zu wissen, ob sie lohnende Geschäfte machen würden. Die Produkte, die sie verkauften, bildeten zugleich die Nahrungsgrundlage für ihren Haushalt und dienten zur Aussaat im nächsten Jahr. 1622 wurden im Herzogtum Württemberg die Getreidereserven der einzelnen Haushalte erfasst. Das Ergebnis zeigte den Umgang mit den Ängsten vor Nahrungsmangel, die der Dreißigjährige Krieg auslöste. Mit Ausnahme einer Minderheit von größeren Bauern hielten die Kleinbauern ihre Ernteerträge an Dinkel zurück und handelten damit nur untereinander im Tausch gegen andere Naturalien. Dagegen brachten sie den Hafer auf den Markt, wenn die Preise annehmbar waren und der Handel nicht ihre eigene Versorgungssicherheit infrage stellte. Hafer war preiswerter und wurde als Futter für Pferde und anderes Nutzvieh sowie als Nahrungsmittel für die Armen stark nachgefragt. Auf diese Weise variierte die Interaktion zwischen Kleinbauern und Markt von Jahr zu Jahr und von Produkt zu Produkt. Die Bauern benötigten starke Anreize, damit sie ihre Produkte auf den Markt brachten, ohne sich in ihrem eigenen Wohlergehen beeinträchtigt zu fühlen.

Die ländliche Verschuldung war allgegenwärtig, selbst in Zeiten der Geldknappheit. Kreditlinien wurden von wohlhabenden Städtern, kirchlichen Institutionen und Juden zur Verfügung gestellt, von Gruppen also, die ihrerseits zu Zielscheiben bäuerlicher Unruhen wurden. Schulden wurden von Notaren beurkundet, die häufig zusammen mit Kaufleuten und größeren Landbesitzern selbst die Hauptkreditgeber waren – eine weitere Interaktion zwischen Stadt und Land. Konnten die Bauern ihre Schulden nicht zurückzahlen, ging das auf Kosten der Besitzsicherheit: Es kam zu Besitzverlust oder – immer häufiger – zur Einführung von Formen der Naturalpacht, im angelsächsischen Bereich share-cropping genannt, bei denen die Bauern statt Geldes einen Anteil am Ernteertrag, der oft bei der Hälfte lag, an den Grundherrn als Pachtzins entrichteten.

Wen das Unglück einer Insolvenz traf, musste alles verkaufen. Fast überall in Frankreich erwarben Kaufleute, Anwälte und Adlige Land von verschuldeten Bauern – es fand ein gewaltiger Besitztransfer statt, der in Hunderttausenden von notariellen Verträgen beurkundet ist und von den Zeitgenossen nicht übersehen werden konnte. So beschrieb etwa der Chronist von Lyon, Guillaume Paradin, im Jahr 1573, wie die reichen Kaufleute der Stadt Bauernland zu günstigen Preisen erwarben. Ging das Land nicht an Kaufleute, königliche Offiziere und Adlige, wurde es von den reicheren bäuerlichen Nachbarn der Betroffenen erworben, die so ihren Besitz konsolidierten. Auf diese Weise entstand allmählich eine kleinbäuerliche Elite einerseits und eine verarmte, abhängige Unterschicht von Häuslern und landlosen Arbeitern andererseits. Diese Tendenzen riefen in den Gemeinden Spannungen hervor und schwächten zugleich ihr Potenzial zum Ausgleich.

1650 war die Zahl der praktisch landlosen Arbeiter beträchtlich angestiegen. Fast alles, was sie aßen, mussten sie sich erst verdienen, und immer wieder neu sehen, wie sie sich durchschlugen. Ihre Fähigkeit, mit widrigen Bedingungen zurechtzukommen, war bemerkenswert. Im toskanischen Altopascio (bei Lucca), einem Dorf auf dem Landbesitz der Medici, bauten die Armen ihre Hütten in dem sumpfigen Land am Fluss, aus dem sie ihren Lebensunterhalt bestritten. In Ossuccio, einem Dorf oberhalb des Comer Sees in der Nordlombardei, schleppten die Landlosen auf ihrem Rücken Holz zu Tal nach Domodossola. Doch bei Hungersnot zeigte sich ihre Schutzlosigkeit mit aller Brutalität. Dann blieb ihnen nur noch die Flucht in die Stadt und die Hoffnung auf bessere Zeiten. Der von zunehmender ländlicher Verarmung ausgehende Druck manifestiert sich auch in den Beschwerden städtischer Obrigkeiten über den Zustrom von Armen. Die Gemeinde von Codogno bei Lodi mitten in der wohlhabenden Lombardei richtete 1591 eine Petition an den Herzog von Mailand: „Das Dorf … liegt so nahe dem Territorium von Piacenza, dass es fast als offene Tür für jene dient, die von dort kommen. Im Augenblick ist das ein Haufen übler Bettler, die, vom Hunger getrieben, von den Bergen herabsteigen und hier Zuflucht finden … und es sieht so aus, als ob das Dorf in kurzer Zeit mit Menschen überfüllt ist.“

Insofern erschien es vielen Bauern keine schlechte Sache, einen Oberherrn zu haben. Ein Gutsherr garantierte sozialen Zusammenhalt, vermittelte bei Streitigkeiten, schützte die Gemeinschaft vor Außenseitern, sorgte für die Anstellung eines Geistlichen und übernahm die Interaktion mit der größeren, fremden Welt des Staats. Als man Kleinbauern aus dem Umland von Cremona in den 1640er-Jahren befragte, ob sie unter einem Feudalherrn leben wollten, antwortete einer von ihnen: „Ja, das würden wir, denn wir haben so viel Zerstörung erlitten, und ein Herr würde uns helfen in unseren Nöten.“ Vor diesem Hintergrund muss man das Wachstum und die Konsolidierung der Gutswirtschaft in Mittel- und Osteuropa sowie die Zunahme der Leibeigenschaft bewerten.

Die Leibeigenschaft war zu Beginn des 16. Jahrhunderts östlich der Elbe, nördlich der Saale sowie in Böhmen und Ungarn zum Teil bereits institutionalisiert. Im Zuge der Kolonisierung neuer landwirtschaftlicher Flächen erlangte der Adel ausgedehnte juristische und wirtschaftliche Rechte über die Arbeitskräfte auf seinen Gütern. Verstärkt wurden diese Prozesse durch lebhaft steigende Preise für landwirtschaftliche Produkte auf den lokalen Märkten. Groß war aber auch die Nachfrage der mitteleuropäischen Märkte nach Vieh und nach Getreide, das in Ostseehäfen verschifft wurde. Unternehmerisch denkende adlige Gutsbesitzer und Verwalter fürstlicher oder kirchlicher Domänen zielten auf den Betrieb großer Landflächen mittels unbezahlter bäuerlicher Arbeit. Es war ein Modell, das allen Beteiligten etwas zu bieten schien. Wer große Ländereien besaß, verfügte nicht über das Kapital, um in Pfluggespanne und all die nötige Feldarbeit zu investieren. Die Bauern verfügten über beides, doch wurden Gespanne und Arbeit nicht das ganze Jahr über genutzt. Da der Pachtzins stieg, waren die Bauern bereit, ihn in Arbeit umzuwandeln. In jedem Fall gesellte sich damit wirtschaftliche Abhängigkeit zur örtlichen Gerichtsgewalt, die der Adel bereits innehatte. Und selbst wenn die Bauern zum Bau der wuchtigen Herrenhäuser und der für die Gutswirtschaft charakteristischen riesigen Scheunen herangezogen wurden, hatten sie doch den Trost, dass eine starke Herrschaft sie vor der Außenwelt beschützte und im Inneren für Zusammenhalt sorgte. Vor 1600 wurden dörfliche Bauernstellen im Verbund einer Gutsherrschaft so behandelt, als wären sie dem Herrn untertan, das heißt, sie konnten mitsamt dem Grundbesitz einem anderen Herrn überschrieben werden, doch waren die Bauern selbst, die die Höfe bewirtschafteten, nicht persönlich unfrei.

Wie schwer die Arbeitsdienste ausfielen, hing von der Größe der bäuerlichen Flurstücke, von der Pachtsicherheit und schließlich auch von der Fähigkeit der Bauernschaft ab, den herrschaftlichen Dienstanforderungen gewisse Grenzen zu setzen. In Brandenburg waren die bäuerlichen Flure groß – oftmals 24 Hektar oder mehr – und vor dem Dreißigjährigen Krieg wurde noch der überwiegende Teil der Gesamtfläche bäuerlich bewirtschaftet. Die Bauern mussten in der Woche vielleicht eine Arbeitsleistung von zwei oder drei Tagen mit Pflug und Ochsengespann für den Gutsherrn erbringen, doch konnten sie einen Sohn hinschicken oder jemand anheuern, der für sie die Arbeit erledigte. Unverheiratete Söhne und Töchter konnten zu häuslicher oder anderer Arbeit auf dem Gutshof herangezogen werden, doch hatten alle an den steigenden Marktpreisen für landwirtschaftliche Produkte ihren Anteil, indem sie beim Transport und Verkauf mit der Gutswirtschaft zusammenarbeiteten. Die Bauern gehörten Dorfgemeinden an, deren Status rechtlich anerkannt war, und konnten ihren Herrn vor Gericht bringen. Sie waren an der lokalen Wirtschaft beteiligt und zutiefst ortsgebunden.

In Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Pommern dagegen, wo Vieh und Getreide auf den Märkten besonders stark nachgefragt waren und wo die öffentlich-rechtliche Gewalt in den Händen der am stärksten unternehmerisch orientierten Gutsherren lag, verschlechterte sich das Besitzrecht der Dorfbewohner am Boden. Für die Juristen gehörten sie damit nicht mehr der Kategorie der Freisassen (im römischen Recht: emphyteutae) an. Sie waren nun unfreie Pächter (coloni) und an die Scholle gebunden (ad glebam adscriptus). Sie waren keine Sklaven oder „Eigenleute“ (homines proprii), aber Leibeigene (servi) und persönlich unfrei. Als Dorfgemeinschaft hatten sie mit Blick auf Repräsentation, Petition oder Rechtsbehelfe nur wenige Rechte.

Weiter östlich, in Polen, waren die Grundstücke der Bauern kleiner und die Arbeitsdienste umfangreicher. Doch konnten sie zuweilen feste Quoten aushandeln und eine gewisse Pachtsicherheit erreichen. Zwar verloren die polnischen Dörfler 1518 das Recht, gegen ihre Herren vor königlichen Gerichten zu klagen, aber immerhin wahrten sie das Recht, Dinge selbstständig kaufen und verkaufen zu dürfen. Wurden sie enteignet oder drangsaliert, konnten sie sich auf den Weg machen und unter den Schutz eines anderen Herrn stellen, wozu es etwa in der Ukraine oder in Litauen vielfache Gelegenheit gab. In Litauen hatten 20 Magnatenfamilien (die Radziwills, die Sapieha und andere) ein Viertel aller bäuerlichen Haushalte unter sich, doch lebten und arbeiteten die Bauern hier unter guten Bedingungen. Die polnische Krone förderte die Entwicklung der Domänenwirtschaft durch Reformen auf ihren eigenen Besitzungen. Üblich war ein nach dem Reißbrett angelegter Bauernhof von 18 Hektar, mit auf die Hofgröße abgestimmten bäuerlichen Verpflichtungen. Wer so einen Hof besaß, hatte kein schlechtes Leben. Etwa 130 Tage im Jahr waren für die Arbeit auf der Domäne vorgesehen, die übrige Zeit blieb den Bauern für die Bewirtschaftung ihres eigenen Landes. Als sich aber die Siedlungen vermehrten, wuchsen die Arbeitsdienste ebenso wie der Pachtzins, da es den Grundherren jetzt um Gewinnmaximierung ging. Die Eroberung des Raums und die allmähliche Überführung der Bauern in die Leibeigenschaft entsprachen in dieser Hinsicht der europäischen Kolonisierung der Neuen Welt.

In Böhmen und Ungarn existierten große Gutswirtschaften oft neben unabhängigen Bauern mit eigenem Landbesitz. Vielfach gehörten solche Ländereien zum Kronbesitz, wurden jedoch an adlige Vertragsnehmer oder kirchliche Einrichtungen verpachtet oder verpfändet. Die königlichen Domänenverwalter forderten, dass die Besitzungen in dem Zustand zurückgegeben wurden, in dem sie ursprünglich verliehen worden waren. Aus dieser Motivation heraus machten sich die Habsburger in Österreich daran, Normen für die Arbeitsdienste, die sonstigen Verpflichtungen und den Status der Bauern auf ihren verpachteten Ländereien zu entwickeln. Die zahlreichen bäuerlichen Proteste und Aufstände in diesen Regionen zielten darauf ab, den Kaiser und seine Beamten zum Einschreiten zu bewegen, wenn lokale Grundherren ihre Befugnisse missbräuchlich verwendeten. 1515 begann ein größerer Aufstand mit der Ermordung eines Gutsherrn, und 1523 revoltierten die Bauern in Tirol gegen die jüngst von Erzherzog Ferdinand eingesetzten Herren. Als der deutsche Bauernkrieg der Jahre 1524–1526 nach Tirol, Salzburg und Oberösterreich vordrang, forderten die Bauern auch dort unter anderem das Ende der Verpachtung von Domänen an Adlige und die Entfernung eines der führenden Herren. In den Nachwehen des Krieges war Ferdinand (damals König von Böhmen) 1527 bereit, alle bäuerlichen Pachtverhältnisse registrieren zu lassen, damit sie eine rechtliche Grundlage bekamen. Nach weiteren Aufständen in Nieder- und Oberösterreich in den Jahren 1594–1597, die sich gegen Arbeitspflichten und andere Zwangsmaßnahmen richteten, erließ Kaiser Rudolf II. eine Interimsverfügung (1597), die den Dienst auf den Domänen begrenzte und den Bauern das Recht auf Wiedergutmachung bestätigte, wenn diese Grenzen nicht eingehalten wurden. Zwar schritt die Leibeigenschaft auch in den habsburgischen Landen voran, doch quasi unter staatlicher Aufsicht und ohne die dörfliche Solidarität in Mitleidenschaft zu ziehen.

Die hauptsächlichen Triebkräfte für die Verschärfung der Leibeigenschaft in Osteuropa waren nicht die gewinnorientierte Gutsherrschaft und die Verlockungen des Marktes, sondern die Zwillingsübel Krieg und Entvölkerung. In Russland führten der Livländische Krieg und die darauf folgende Zeit der Wirren zu einer massiven Landflucht. 1580 verbot Zar Iwan IV. („der Schreckliche“) den Bauern jeglichen Ortswechsel. Ab 1603 war jedes Jahr bis 1649 ein „verbotenes Jahr“; von da an waren die Bauern samt ihren Familien per Gesetz dauerhaft an die Scholle gebunden. Wagten sie die Flucht, konnte der Grundherr ihre Rückkehr einfordern. Die Zahl derjenigen, die zuvor vielleicht einen eigenen Hof besessen hatten, nun aber abhängige Häusler und Landarbeiter waren, wuchs dramatisch an. Von 1560 bis 1620 stieg die Zahl der landlosen Arbeiter in der Region um Nowgorod um das Sechsfache und betrug schließlich ein Viertel der Bevölkerung. Im russischen Kernland machten solche Arbeiter sogar an die 40 Prozent der Bevölkerung aus. So wie die Wurzeln der russischen Leibeigenschaft in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu suchen sind, hatten im ostelbischen Deutschland und in Polen der Dreißigjährige Krieg und die polnischen Kriege ähnliche Auswirkungen. Die Bauern flohen aus den Kriegsgebieten, und die Gutsherrschaft brach zeitweilig zusammen. Mit der Wiederkunft des Friedens stellten die lokalen Herren ihre Autorität wieder her und machten die Verluste wett, indem sie die Herzöge von Brandenburg und das polnische Reich dazu drängten, die persönliche Leibeigenschaft zu legalisieren. Die langfristig schmerzhafteste Folge jener Krise, welche die Mitte des 17. Jahrhunderts kennzeichnete, war mithin das Anwachsen der Leibeigenschaft in Osteuropa.

Das verlorene Paradies

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