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Städtische Räume

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Städte waren in verschiedener Weise von Bedeutung für die Zeitgenossen: als militärische Bollwerke, als Orte der Rechtsprechung, als Handelszentren, als Aufenthalt von Eliten und als Treffpunkte für kulturellen Austausch. Es waren Knotenpunkte einer konzentrierten Präsenz, die miteinander wetteiferten und für die Welt um sie herum ein Zeichen setzten. Ihr Einfluss war ambivalent, ja paradox: Einerseits belebten sie ihre Umwelt, andererseits wuchsen sie auf Kosten anderer. Sie vergrößerten die Ungleichheit und das Risiko.

Dass der städtische Raum in neuem Licht erschien, geht aus dem Genre der „Chorographie“ hervor, das sich damals entwickelte. Diese Form der Darstellung von Städten, die einen Blick aus der Vogelperspektive gestattete, wurde zunächst dem Stadtplan vorgezogen. Sebastian Münsters Cosmographia (1544) und Guillaume Guéroults Épitomé de la corographie d’Europe (1552/53) enthalten solche Stadtansichten, die öffentliche Gebäude, Befestigungsanlagen und kirchliche Bauwerke im Detail zeigen. Der Betrachter konnte die Umgebung der Stadt in Augenschein nehmen. Es war so, als würde man einen Besucher auf das höchste Gebäude einer Stadt führen und ihn von dort den Blick schweifen lassen – was der Florentiner Humanist Antonio Francesco Doni als die beste Möglichkeit empfahl, Besucher mit seiner Stadt bekannt zu machen. Stadtansichten gehörten zur Kunst des Reisens, in die Humanisten ihre Leser einführen wollten.

1567 veröffentlichte Lodovico Guicciardini seine einflussreiche Descrittione … de tutti i Paesi Bassi (1581 auch auf Deutsch unter dem Titel Beschreibung … der ganzen Niederlande), womit der Autor, selbst Bewohner einer stark urbanisierten Region, sich eine vergleichbare Gegend zum Gegenstand nahm. Seine „Beschreibung“, illustriert mit chorographischen Stichen, war ein Meisterwerk der Stadtgeographie des 16. Jahrhunderts. Fünf Jahre danach erschien der erste Band von Civitates orbis terrarum (Die Städte der Welt) als Begleitband zum Weltatlas von Abraham Ortelius. Dieser Band enthielt 132 Stadtansichten; weitere fünf Bände folgten. Sie wurden hauptsächlich in Köln veröffentlicht. 1619 war die Sammlung vollendet und umfasste nun 546 prachtvolle Stadtansichten aus der Vogelperspektive inklusive Begleittext. Viele Ansichten entstammten der Feder von Frans Hogenberg, dem eigentlichen Initiator dieses Projekts. Schon bald war es für eine Stadt eine Art Statussymbol, in dieser Sammlung abgebildet zu sein. Die Ansichten waren am Rand mit figürlichen Darstellungen von Menschen und mit Wappen verziert, was einem doppelten Zweck diente: Zum einen sollte lokales Brauchtum illustriert werden, und zum anderen glaubte man, dass die Personendarstellungen die Türken davon abhalten würden, sich die Stadtansichten zunutze zu machen, da ihre Religion die Betrachtung des menschlichen Abbilds verbot.

Allerdings fiel das Wachstum der Städte nicht einheitlich aus. In Italien war Mailand um 1500 eine Großstadt mit 91.000 Einwohnern, doch nach einer schrecklichen demographischen Krise im Jahr 1542 schrumpfte diese Zahl um ein Drittel. Erst gegen Ende des Jahrhunderts hatte die Stadt ihre ursprüngliche Einwohnerzahl wieder erreicht. 1520 besaß Florenz 70.000 Einwohner, fand aber erst 1650 zu dieser Größe zurück. Bologna (55.000 Einwohner 1493, 36.000 im Jahr 1597), Brescia (48 500 Einwohner 1493, 1597 weniger als 37.000) und Cremona (40.000 Einwohner 1502 und dann erst wieder 1600) hatten es schwer, mit kleineren Nachbarn (Padua, Verona, Vicenza), die schneller expandierten, mitzuhalten. Venedig wuchs gar um 50 Prozent (105.000 Einwohner 1509, 168.000 im Jahr 1563, 150.000 im Jahr 1600). Neapel vergrößerte sich fast um das Doppelte und rang mit Paris um den Titel der größten Stadt Europas (150.000 Einwohner 1500, 275.000 im Jahr 1599). Auch Siziliens Städte – Palermo und Messina – wuchsen in außergewöhnlichem Maß. Zur Zeit des Sacco di Roma, 1527, war Rom eine mittelgroße regionale Hauptstadt mit 55.000 Einwohnern, doch 1607 waren es 109.000.

Auch nördlich der Alpen war die Entwicklung uneinheitlich. Paris war die große Metropole der Christenheit, die einzige Stadt mit mehr als 200.000 Einwohnern im Jahr 1500. Und sie wuchs weiter: Um 1560 dürften es 300.000 Einwohner gewesen sein. Danach aber gingen Glück und Reichtum der Stadt in den französischen Bürgerkriegen unter; erst nach 1600 setzte neues Wachstum ein. London dagegen wuchs und gedieh ungeachtet aller demographischen Unglücksfälle (die Große Pest sollte 1665 erst noch kommen), was ein Schlüsselelement der politischen Ökonomie Englands darstellte. Lyon könnte seine Bevölkerung zwischen 1500 und 1560 von 40.000 auf 80.000 verdoppelt haben, doch musste die Stadt danach kämpfen, um den Status quo zu halten. Und das galt auch für andere französische Städte wie Rouen und Toulouse; nur Marseille konnte seine Bevölkerung zwischen 1520 und 1600 verdreifachen (von 15.000 auf 45.000). In den Niederlanden mussten die Ballungszentren (Brügge, Gent und Brüssel) kämpfen, um gegenüber kleineren Städten (Lüttich, Namur und Amsterdam) zu wachsen, während Antwerpen seine Größe zwischen 1498 und 1568, als es schließlich 100.000 Einwohner besaß, verdreifachte. Aber im niederländischen Aufstand wurde der Stadt übel mitgespielt: Sie wurde von meuternden Truppen geplündert (1576 und 1583) und belagert (1584), wodurch sich die Bevölkerungszahl halbierte. Antwerpen erholte sich davon nur langsam.

Einige größere Städte in Mitteleuropa (Köln, Lübeck) hatten Mühe, ihre Größe zu bewahren, während andere (Danzig, Hamburg) wuchsen. Nürnberg wurde die größte Stadt der Christenheit östlich des Rheins. Auf der Iberischen Halbinsel konnten Lissabon und Sevilla ihre Bevölkerung mehr als verdoppeln. Andere spanische Städte (Valencia, Toledo, Granada) erlebten beträchtliches Wachstum, und Madrid stieg von einer Kleinstadt mit 5000 Einwohnern im Jahr 1500 zu einer Großstadt auf, die einhundert Jahre später mehr als 35.000 Einwohner besaß. Städte mit einer Einwohnerzahl von mindestens 10.000 bildeten den Maßstab für urbane Größe vom Mittelmeerraum bis nach Nordwesteuropa.

Dennoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Reisender die Nacht in einer Kleinstadt (unter 10.000 Einwohner) verbrachte, fünfmal höher. In England gab es mehr als 700 Kleinstädte, in Frankreich über 2000, im Heiligen Römischen Reich mehr als 3000 und in Polen über 800. Auch die Städtedichte war höchst unterschiedlich. In Süd- und Westdeutschland kam im Durchschnitt eine Kleinstadt auf zweieinhalb Quadratkilometer, während die Städte in den Ausläufern der Vogesen so nahe beieinander lagen, dass man, wie Sebastian Münster schrieb, „mit der Armbrust von einer zur anderen schießen konnte“. Mehr als durch die Bevölkerungszahl definierten sich Kleinstädte durch funktionale Vielfalt und urbanen Ehrgeiz. In Schweden und Finnland hatten sie zumeist einen Schuster, einen Schneider, einen Schmied und einen Zimmermann. Das Streben nach Urbanität zeigte sich an der Infrastruktur – Mauern, Tore, Rathaus, Marktplatz und Brunnen.

Neue Städte blühten auf, weil Adlige den Wert ihrer Besitzungen maximieren wollten und Fürsten die Stadtentwicklung förderten. Nach 1500 wurden in Schottland 270 neue freiherrschaftliche Stadtgemeinden (baronial burghs oder boroughs) gegründet, und in Litauen entstanden im späten 16. Jahrhundert fast 400 private Adelsstädtchen, mit deren Hilfe der Adel aus dem Wachstum der Landwirtschaft in den Ostseegebieten durch Vermarktung Kapital zu schlagen gedachte. In den 100 Jahren nach 1580 gewährte die Wasa-Dynastie in Schweden im Zuge der Kolonisierung noch unkultivierten Landes 30 neue Freibriefe für Städte. In Irland wurden die neu privilegierten Städte – zum Beispiel Philipstown (Daingean) und Maryborough (Portlaoise) – Vorreiter der englischen Besiedlung unter den Tudors und Stuarts. Spanien erlebte fast jedes Jahr eine Stadtgründung, weil die an Geldknappheit leidende Monarchie bereitwillig Privilegien verkaufte.

Kleine Städte konnten nur gedeihen, wenn die wirtschaftliche Lage im Umland günstig war, anderenfalls fiel das Überleben schwer. Ambleside und Shap im englischen Lake District beispielsweise konnten ihren Status als Marktstädte nicht halten und wurden wieder zu Dörfern. Etwa drei Viertel der neuen burghs in Schottland und der frisch privilegierten Städte in Norwegen endeten als „Schattenstädte“, die realiter Dörfer waren. Hondschoote, eine kleine Gemeinde östlich von Dünkirchen, wuchs sehr rasch zu einer Stadt mit mehr als 15.000 Einwohnern heran, weil man dort ein leichtes Tuch, bestehend aus einem Gemisch von Wolle und Leinen, herzustellen wusste. Als aber in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Flandern vom Krieg heimgesucht wurde, war es mit dem Wohlstand vorbei. Das südlich von Gent gelegene Oudenaarde verdoppelte seine Einwohnerzahl in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, war indes um 1600 auf weniger als die Hälfte seiner ursprünglichen Größe geschrumpft, weil die Bevölkerung während der Kriege massenhaft das Weite suchte. Die Urbanisierung war kein Maßstab für ein endlos fortgesetztes Wachstum.

Um den urbanen Ballungsraum zogen sich konzentrische Kreise, in denen sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Stadt und Land entfalteten. Im Mittelpunkt stand der binnen eines Tages zu erreichende Wochenmarkt, wo die Bauern leicht verderbliche Produkte in großen Mengen verkauften; hier wurden 75 bis 90 Prozent der lokalen Produktion angeboten. Zum Markt, der einmal im Monat oder alle Vierteljahre stattfand, wurden Waren aus einem weiteren Umkreis gebracht. Hier ging es um Getreide und Vieh, das manchmal von Orten, die zwei oder drei Tagesreisen entfernt lagen, herbeigeschafft wurde. Der Umfang des Einzugsgebiets hing von der Größe der Stadt ab: Nürnberg bezog sein Getreide aus einem 5000 Quadratkilometer großen Gebiet, und seine Kommissionäre operierten in einem Radius von etwa 100 Kilometern. Ein solcher Raum entsprach einer ganzen ländlichen Wirtschaftsregion und stimmte keineswegs zufällig oft mit den lokalen Rechts- und Verwaltungsgrenzen überein. In wirtschaftlicher Hinsicht war dieser Raum für die übrigen 10 bis 25 Prozent der lokalen Produktion besonders relevant, wobei der konkrete Anteil von den Transportkosten für Massenware abhing. 1559 erhöhten sich die Transportkosten für Getreide zum Markt nach Valladolid mit jeder legua (der Strecke, die ein Karren in einer Stunde zurücklegte – weniger als sechs Kilometer) um zwei Prozent pro Sack. Am größten war die Ausdehnung der dritten Sphäre, des Einzugsgebiets für den jährlich stattfindenden Markt. Auf ihm wurde mit Wolle, Tuch und Garn gehandelt – Waren, die oftmals aus einer Entfernung von 40 Kilometern herbeigeschafft wurden. Diese wirtschaftlichen Einflusszonen waren von besonderer Bedeutung, wenn im Mittelpunkt Großstädte standen, die dazu neigten, den kleineren umliegenden Gemeinden die Luft abzuschnüren. Bäuerlicher Protest mochte in einer Metropole Gehör finden, doch verfügten die Patrizier in solchen Fällen die Schließung der Tore und die Bewachung der Mauern. Das gegenseitige Misstrauen, das Bürger und Bauern füreinander hegten, war zu groß, als dass sie längerfristig gemeinsame Sache hätten machen können.

Das verlorene Paradies

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