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Das „silberne Zeitalter“ und seine Folgen

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Bis 1650 waren mehr als 180 Tonnen Gold aus Ostindien und 16.000 Tonnen Silber aus der Neuen Welt nach Europa gelangt. Das war das „silberne Zeitalter“. Zunehmend wurde wichtig, ob man über Edelmetall verfügte oder nicht – und selbst wenn man es nicht tat, konnte man seinem Einfluss nicht entkommen. Der Grund dafür lag in der beispiellosen Inflation, die im 16. Jahrhundert über lange Strecken das wirtschaftliche Klima bestimmte und in einigen Teilen Europas bis ins 17. Jahrhundert andauerte. Die europäische „Preisrevolution“ (oder „Große Elisabethanische Inflation“) war tatsächlich eine Zeit stagnierenden Wachstums, sei es in monetärer oder bevölkerungsmäßiger Hinsicht. Französische Historiker sprechen vom „schönen 16. Jahrhundert“; allerdings bereitete der Krieg dem Säkulum in Frankreich ein vorzeitiges Ende, und „schön“ war es für einige Menschen, für andere aber ganz gewiss nicht. Die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen denen, die von der Inflation profitierten, und den anderen, vertiefte sich. Zu den Verlierern gehörten Personen mit festem Einkommen, das sie in Geld erhielten (zum Beispiel Renten und andere Anlageformen, aber auch Steuern). Dazu zählten auch Angehörige der europäischen Eliten – Fürsten, Landadlige und Geistliche. Inflation und Wirtschaftsexpansion wirkten sich negativ auf ihr festes Einkommen aus. Doch fanden sie zumeist andere – häufig genug umstrittene – Möglichkeiten, sich Einkünfte zu verschaffen. So führten die Fürsten etwa neue Steuern ein, der Landadel ersann neue Lasten für die Pächter. Das bedeutete ein aggressiveres Verhalten seitens der Landbesitzer, hier und da höhere Abstandssummen für Pächter, Enteignung von Waldgebieten und Allmenden, wo bisher die örtliche Gemeinschaft gewisse Nutzungsrechte besaß. Östlich der Elbe und nördlich der Saale wurden die Bauern stärker als bisher mit Herrendiensten belastet.

Im Zuge von Inflation und wirtschaftlicher Expansion verlangten immer mehr soziale Gruppen aufgrund ihres zunehmenden Gewichts und ihres gewachsenen Sozialstatus, als Notabeln in der etablierten Gesellschaftsordnung anerkannt zu werden. Zugleich mehrte sich die Zahl der Verlierer: Da war die Masse der Kleinbauern, die nur winzige Grundstücke besaßen, von deren Ertrag sie nicht leben konnten, die chronisch verschuldeten Bauern, die ihren Hof an die Gläubiger verkaufen mussten oder zu bloßen Pächtern mit winzigen Gütern herabsanken, schließlich die wachsenden Reihen der armen Stadtbewohner, die wiederum für die Kommunen stärkere soziale Lasten bedeuteten. Europa erlebte zwar keine tief greifende soziale Transformation, aber der soziale Zusammenhalt wurde schwächer. Zwar wurde der Verfall der lokalen Solidarität durch die wirtschaftliche Expansion des 16. Jahrhunderts zunächst überdeckt, doch durch die in den meisten Teilen Europas folgende Rezession umso mehr zutage gefördert und durch die Verwerfungen im Dreißigjährigen Krieg noch intensiviert.

Die Schwächung des Zusammenhalts setzte den andauernden Lokalismus in Europa unter Druck. Bis zu einem gewissen Grad war das in den Dörfern und Landstädten Europas herrschende Identitätsbewusstsein immer eine künstliche Konstruktion gewesen, durch die lokale Notabeln – seien es reiche Bauern, die häufig zu Führungspersonen in der Dorfgemeinschaft aufstiegen, lokale Adlige oder die Kaufleute und führenden Zunftmitglieder, die als korporative Elite eine Stadt verwalteten – ein Konzept von lokaler Solidarität zum Schutz von Frieden, Gerechtigkeit, guter Ordnung und, natürlich, ihren Eigeninteressen entwickelten. Doch fanden diese lokalen Führungsschichten es zunehmend schwieriger, ihre Auffassung dessen, was für das Gemeinwohl förderlich sei, als mit den Interessen eines jeden Einzelnen in den gespaltenen Gemeinschaften übereinstimmend darzustellen. Religiöse Differenzen erschwerten diese Aufgabe zusätzlich, und zugleich wirkte die Staatsmaschinerie ferner und fremder, weniger bereit, den Sorgen der Herren zu lauschen oder auf ihre Petitionen zu reagieren.

Auch die Beziehungen zwischen Stadt und Land erfuhren auf der lokalen Ebene einen Wandel. Die Städte beherrschten nun das umgebende Land stärker, während die Bauern sich in das städtische Marktleben vorwagten (und dadurch partiell von den Märkten abhängig wurden). Betuchte Bürger kauften Ländereien auf (und betrieben bei zahlungsunfähigen Pächtern die Zwangsvollstreckung). Lokale Proteste und Aufstände gehörten so sehr zum Alltag, dass ihr Auftreten bei Weitem nicht von solcher Bedeutung ist wie die Frage, in welchem Maß lokale Unzufriedenheit und Streit im Zuge der erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten über die eigene Gemeinschaft hinaus Zustimmung finden konnten und so als Protest weithin vernehmbar wurden. Der schwindende soziale Zusammenhalt und die damit einhergehenden sozialen Spannungen blieben nicht ohne Einfluss auf die lokalen Oberschichten. Sie suchten nach Erklärungen für die so unbewehrte und unkontrollierbare Welt, in der sie sich wiederfanden. Viele suchten und fanden Halt in der katholischen Gegenreformation. Andere beriefen sich auf Gottes unerforschliche Ratschlüsse oder auf die endzeitlichen Erwartungen jener, die in der Unsicherheit der Zeit ein Zeichen für den Anbruch der letzten Tage sahen. Wieder andere machten die Präsenz des Teufels in der Welt verantwortlich oder suchten in der Astrologie nach Erklärungs- und Vorhersagemöglichkeiten. Interessant an all diesen Erklärungsversuchen ist ihre Universalität und das Ausmaß, in dem sie auf lokaler Ebene von den Oberschichten übernommen wurden.

Mit der Vorstellung von einer Metamorphose ließ sich der Wandel der Zeit verstehen. Als Lucas Cranach der Ältere, der Freund von Martin Luther in Wittenberg, Die Früchte der Eifersucht (Das silberne Zeitalter) malte, schuf er eine ovidische Allegorie auf seine eigene Zeit. Jedes der Bilder dieser Werkgruppe zeigt schutzlose nackte Frauen und Kinder, die in kleinen Gruppen sich zusammendrängen, während aggressiv-eifersüchtige Männer einander umbringen. Hesiod hatte diese Metamorphose beschrieben als jene Zeit, in der „die Menschen sich weigerten, die Götter zu verehren“ und stattdessen miteinander in Streit gerieten. Für Ovid war das silberne Zeitalter der Vorläufer des bronzenen Zeitalters, als die Menschen „von schlecht’rem Wesen waren, bereit zu furchtbarem Krieg“, worauf dann das eiserne Zeitalter folgte. Cranach machte daraus eine bildgewordene Mahnung mit Parallelen zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Er wollte daran erinnern, wie schnell die Menschheit dem Niedergang und Verfall geweiht war, wenn sie den Göttern nicht mehr gehorchte.

Mit dem Jahrhundert neigte sich auch Europas „silbernes Zeitalter“ dem Ende entgegen. Der Prozess begann in den 1580er- und 1590er-Jahren, als die Silberimporte aus der Neuen Welt ihren Höhepunkt eben erreicht, Wirtschaftswachstum und Wohlstand den ihren allerdings bereits überschritten hatten. Während Frankreich und die Niederlande die blutigsten Phasen ihrer Bürgerkriege durchlitten, löste eine schleichende Wirtschaftskrise allerorten Ängste aus. Am stärksten machten sich diese bemerkbar, wo das Bevölkerungswachstum stagnierte, was besonders im südlichen Europa der Fall war. In einigen Gebieten traten Epidemien, Hungersnöte und Entvölkerung in einem Ausmaß auf, wie es die Zeitgenossen noch nie erlebt hatten. Diese Phänomene setzten sich bis ins nächste Jahrhundert fort. Auch kannte man keine Mechanismen, um die diversen politischen, sozialen und kirchlichen Verpflichtungen, die sich in den guten Zeiten herausgebildet hatten, an die veränderten Umstände anzupassen. Nun stellten sie eine Belastung und ein Hindernis für den gesellschaftlichen Wandel dar. Feudalpflichten, Formen der Naturalpacht und Leibeigenschaft waren die Mittel, mit denen die Oberschicht die bäuerliche Welt belastete. Unterdessen gelang es in Teilen von Nordeuropa den dortigen Gesellschaften, ihre Wirtschaft neu in Gang zu bringen, den Sturm zu überstehen und von den Missgeschicken anderer zu profitieren. An der nordwestlichen Atlantikküste führte die wirtschaftliche Erholung zum Aufbau von überseeischen Reichen und Wirtschaftssystemen, die ihren Vorgängern nachstrebten, aber auch neue Elemente einführten. Die unterschiedlichen Entwicklungsmuster in Europa gehörten zu den hervorstechendsten Phänomenen des Wandels.

Dank der neuen Dynamik in der europäischen Kommunikation waren die politischen Verwaltungen darüber informiert, dass die Wasserscheide der letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts die verschiedenen Regionen Europas in unterschiedlicher Weise getroffen hatte. Zu den wachsenden Spannungen innerhalb Europas trug nun auch der Versuch bei, von den erfolgreicheren Ländern zu lernen, sie, wo möglich, nachzuahmen, den Konkurrenten zuvorzukommen. Wenig hilfreich waren da die sehnsuchtsvollen Blicke zurück in eine als „goldenes Zeitalter“ verklärte Vergangenheit. Die den kriegerischen Auseinandersetzungen nach 1618 zugrunde liegenden wirtschaftlichen Rivalitäten riefen soziale Spannungen hervor, die bereits in den Jahren nach der Reformation kurz sichtbar geworden waren, aber durch erfolgreiche Verhandlungen wieder von der Bühne verschwunden waren. Jetzt war die Verhandlungsbasis schmäler, waren die Aussichten auf ökonomisches Wachstum und wirtschaftliche Expansion geringer geworden. Der Staat und besonders seine „Subunternehmer“ und ausführenden Organe (Steuereintreiber, Söldnerführer, Beamte und andere) übten stärkeren Zwang aus und stellten härtere Forderungen. Mochten chiliastische Überzeugungen oder kaufmännische Erwartungen auch manchen die Zukunft rosig erscheinen lassen, lag diese für andere eher im Himmel als auf Erden. „Glückliche Jahrhunderte, glückliches Zeitalter“, sagt Don Quijote angesichts einiger Ziegenhirten, die noch ein ganz traditionelles Leben führen, „dem die Alten den Namen des Goldenen beilegten.“ Und so zieht der in seiner Traumwelt lebende Ritter gegen die harte Wirklichkeit „in unserm eisernen Zeitalter“ in den guten Kampf.

In den späteren 1630er-Jahren beauftragte der toskanische Herzog Ferdinando de’ Medici den Maler Pietro da Cortona damit, die Wände der kleinen Sala della Stufa im Palazzo Pitti in Florenz mit Darstellungen der vier Zeitalter zu schmücken. Das Thema war ihm von Michelangelo Buonarroti (dem Jüngeren), dem Neffen des großen Künstlers Michelangelo, nahegebracht worden. Das letzte Fresko zeigt das Eiserne Zeitalter. Es wurde 1640 vollendet und ist die hyperrealistische Darstellung eines Blutvergießens. Vor den Insignien der Zivilgesellschaft wird im Vordergrund eine schutzlose Familie von Soldaten niedergemetzelt, während weiter hinten ihre Kameraden trotz der flehentlichen Bitten eines machtlosen Priesters gegeneinander kämpfen. Die Szene ist gewalttätiger, intensiver und furchterregender als Cranachs Bild der betrogenen Unschuld ein Jahrhundert zuvor. Cortonas Darstellung beschwört die Kriege und mörderischen Belagerungen, die zerstörten Landschaften und ohnmächtig dem Wüten ausgelieferten einfachen Leute des Dreißigjährigen Krieges ebenso herauf wie die Zerrissenheit der Britischen Inseln und das darniederliegende Polen. „Then, blushlesse Crimes, which all degrees surpast, the World Surround. Shame, Truth, & Faith departe, Fraud enters, ignorant in no bad Art; Force, Treason, & the wicked loue of gayne …“ (Verbrechen ohne Scham und Maß durchdringen nun die Welt. Scham, Wahrheit, Glauben geh’n dahin, eintritt Betrug, der alles Schlechte kennt; Gewalt, Verrat, die böse Lust am Gewinn …). George Sandys’ populäre Übersetzung der Metamorphosen des Ovid (ein erster Teil wurde 1621 publiziert) stellt beispielhaft dar, wie die Zeitgenossen Europas Leiden in der Mitte des 17. Jahrhunderts begriffen – es war eine Krise, die in eine Metamorphose zu münden drohte, dann aber nicht mündete, ein Paroxysmus, von dem sich Europas ancien régime erholte, und zwar auf den bereits gelegten Fundamenten.

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