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Die protestantische Reformation

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Im Zentrum der Bewegung für einen religiösen Wandel stand die protestantische Reformation, ein Bruch im westlichen Christentum, der so spektakulär und dauerhaft war wie die Spaltung zwischen West- und Ostkirche im 11. Jahrhundert. Kompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass sich der schmerzliche Bruch gewaltsam vollzog. Martin Luther war der Überzeugung, das Christentum müsse wegen der Flegel und Huren in Rom zugrunde gehen. Im Mai 1520 veröffentlichte der Leipziger Franziskaner Augustin von Alveld eine Flugschrift in deutscher Sprache, um die Behauptung zu verteidigen, der Papst genieße durch göttliches Recht die Oberhoheit über die Christenheit. Luther wetterte gegen den „Alvelder Esel“ mit der Bemerkung, dass der Papst und seine „Romanisten“ das Papsttum zur „roten Hure zu Babylon“ gemacht hätten und der päpstliche Antichrist die Schuld am Zustand des Christentums trage. Zu dieser Zeit war Luther durch das Studium von Bibel und Kirchengeschichte zu der streitbaren Auffassung gelangt, er wisse von Gottes Wahrheit und wie sie zu beweisen sei. „Allein durch den Glauben“ (sola fide) gelange man dorthin, und „allein durch die Schrift“ (sola scriptura) werde die Wahrheit erwiesen. Die Autorität des Papstes aber war menschlichen, nicht göttlichen Ursprungs, und die letztendliche Autorität kam nicht den Päpsten, den Konzilen oder den Kirchenvätern zu, sondern allein der Bibel. Nur auf diese Weise, so Luther, könne das Christentum zu seinen Wurzeln – dem Evangelium Christi – zurückkehren. Die Bibel verzeichnete Gottes Versprechen an die Menschheit seit Anbeginn der Welt. Dieses Versprechen wurde im Alten Testament erneuert und schließlich in Christus erfüllt. Nichts konnte in wortwörtlicherem Sinn wahr sein als dies Versprechen, da Gott selbst im Glauben vertraut werden muss.

Dieser reduktionistische und nachdrückliche Wahrheitsanspruch hatte weitreichende Folgen, einschließlich des unwiderruflichen Bruchs mit der katholischen Kirche und einer großen Uneinigkeit der protestantischen Theologen darüber, wie wortwörtlich man die Schrift denn nun nehmen solle. Für Luther waren die Ausdrücke „Christentum“, „Kirche“ und „christliche Gemeinschaft“ Synonyme. Sie alle bezeichneten ein virtuelles Gemeinwesen, nämlich jene Gemeinschaft der Heiligen, auf die Christus sich bezog, als er sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Es sei eine Lüge, zu behaupten, das Christentum befinde sich in Rom oder überhaupt an einem bestimmten Ort. Die wahre Kirche kannte keine äußeren Formen, keine besonderen Gewänder oder Gebete, keine Bischöfe oder Bauwerke. Damit schrumpfte die Landschaft des Heiligen beträchtlich. Luther zufolge war es allein der Glaube, der aus allen Gläubigen wahre Priester machte und die Welt, die sie zufällig bewohnten, in eine christliche Ordnung brachte.

Luther gelang es auf glänzende Weise, und dies vor allem in Deutschland, bereits vorhandene und lokal durchaus verschiedene Vorbehalte gegen die katholische Kirche zu mobilisieren. Wenn Rom die Ursache für das Krebsgeschwür war, das das Christentum befallen hatte, musste man eingreifen und den Tumor entfernen. Die Christen sollten handeln wie Kinder, deren Eltern verrückt geworden waren, oder wie jemand, der ein Gebäude brennen sieht und nun die Pflicht hat, Alarm zu schlagen und das Feuer zu bekämpfen. Dafür waren insbesondere die Könige, Fürsten und Adligen verantwortlich; ihre Aufgabe war es, Luther zufolge, Gotteslästerung zu verhindern oder auch, dass jemand Schande über den göttlichen Namen bringe. Luther wollte das Christentum stärken, nicht zerstören oder ersetzen. Doch indem er Autorität und Legitimation innerhalb des Christentums völlig neu verortete, traf er die vereinte Glaubensgemeinschaft an ihrer empfindlichsten Stelle. 1520 war Luther da ganz unzweideutig: Keine Person ist mit universeller Autorität ausgestattet, vielmehr sind in Wahrheit alle Christen rangmäßig gleiche Mitglieder einer christlichen Gemeinschaft, in der Taufe, Evangelium und Glaube allein „ein christlich heilig Volk“ schaffen. Es gibt, was den Status als Christen angeht, keinen Unterschied zwischen Laien und Priestern oder zwischen Fürst und Volk. Das war von spektakulärer Einfachheit, warf in der Praxis aber mehr Fragen auf, als es beantwortete. Wie sollte sich ein Christenvolk realiter organisieren? Wie sollte es geeignete Pastoren finden, und worin bestanden deren Pflichten und Verantwortlichkeiten? Welche Rolle kam unter solchen Umständen dem Herrscher zu? Wie sollte sich die Bevölkerung verhalten, wenn Fürst oder Rat ihren christlichen Pflichten nicht nachkamen? Wem kam es zu, die wahre Glaubenseinheit zu verkünden und durchzusetzen? Wessen Aufgabe war es, das Christentum zu verteidigen?

Den theologischen Gräben, die sich in der Reformation auftaten, lag eine Transformation zugrunde, die das Wesen und die Äußerungsformen heiliger Macht betraf. Eine der fundamentalsten Veränderungen betraf das Verhältnis zwischen kirchlichen und staatlichen Institutionen. Zwar behielten Luther und die anderen Reformatoren augenscheinlich die Trennung zwischen kirchlicher und ziviler Jurisdiktion bei, doch übten die religiösen Veränderungen Druck auf die Beziehung aus, was zu einer unbehaglichen, nicht reibungsfreien Nähe führte. Luther gab vor, die „zwei Reiche“ von Kirche und Staat unverändert aufrechtzuerhalten, vergrößerte in Wirklichkeit jedoch den Spielraum des Letzteren und schwächte die Erstere. Diese Umverteilung von Macht veränderte im protestantischen Europa die Auffassung von religiöser Wahrheit. Es war nunmehr eine von Gott erklärte und von der Heiligen Schrift garantierte, eine in Bekenntnissen verkörperte Wahrheit, gelebt in konfessionell gestalteten Gemeinden, in denen die Instrumente der Obrigkeit Leben und Verhalten der Menschen formten und überwachten. Dagegen trat die Auffassung, die Menschheit sei an Gottes Werk – der Erlösung seiner Schöpfung – beteiligt, in den Hintergrund. Gott hatte eine natürliche Welt erschaffen, in der die Sünden der Menschheit ein Tatbestand waren, der reguliert, kontrolliert und begrenzt werden musste. Diese Grenzen wurden von einer staatlichen Macht bewacht, die ihrerseits in eine theologisch-politische Vorstellungswelt eingebettet war, in der Gottes Macht das Vorbild für die Macht des Staates darstellte – beide waren allmächtig und unwiderstehlich.

Das verlorene Paradies

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