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Die Welt und die Entdeckung Europas

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Interkulturelle Beziehungen zwischen den Zivilisationen Eurasiens hatte es seit Jahrhunderten gegeben, aber im 16. und frühen 17. Jahrhundert kam es zwischen den Völkern nicht nur Eurasiens, sondern allgemeiner der östlichen und westlichen Hemisphäre zu einem intensiveren und länger währenden Austausch. Zwar spielte Europa, dem an der Etablierung von Fernhandelsbeziehungen gelegen war, dabei eine führende Rolle, doch fanden die in Gang gesetzten Prozesse in einem globalen Rahmen statt und waren in doppeltem Sinn interaktiv. Zum einen waren sie auf komplexe Weise miteinander verwoben, und zum zweiten waren sie das Resultat des Austauschs mit anderen, vor allem eurasischen Zivilisationen. Nur eine extrem eurozentrische Kurzsichtigkeit könnte zu der Sichtweise verleiten, diese ganze Expansion sei lediglich auf innereuropäische Dynamiken zurückzuführen. Die Austauschprozesse beruhten auf der Eröffnung globaler Seewege, über die potenziell alle Küsten der Welt zu erreichen waren. Deren Vermessung stellte allerdings ein heikles Unterfangen dar. Mitte des 15. Jahrhunderts „kannten“ die europäischen Seefahrer (mehr oder weniger zumindest) etwa 15 Prozent dieser Küsten. Ihren Nachfolgern um 1650 waren schon etwa 50 Prozent „bekannt“. Das ist zweifellos eine bemerkenswerte Erweiterung, doch beschränkten sich ihre Kenntnisse im Wesentlichen auf die mittleren Breitengrade und eine kleine Anzahl gut bekannter Seewege. Darüber hinaus war vieles nur vom Hörensagen bekannt, unbestätigt und vage. Um 1650 aber wird deutlich, dass Europas Expansion nach Übersee die Seefahrtstechnologie, die navigatorische und kartographische Sachkenntnis sowie die Fähigkeiten im Schiffbau und in der Waffenproduktion für die Marine im Vergleich zu anderen eurasischen Zivilisationen vorangebracht hatte.

Ein zweiter, aus dem vermehrten Kontakt folgender globaler Prozess war ein unvorhergesehener und ungeplanter biologischer Transfer, der als „Columbian Exchange“ bekannt ist. Gemeint ist der transkontinentale Austausch von Feldfrüchten und Wildpflanzen, wie er besonders zwischen Amerika und Eurasien stattfand. Aus der Neuen Welt kamen wichtige Feldfrüchte, die um 1650 bereits den Speiseplan Europas und die dortigen landwirtschaftlichen Praktiken beeinflussten: Mais, Maniok, Kidney-, Lima- und Wachtelbohnen, Kartoffeln; ferner Salatpflanzen und Zucchini, Cranberrys, Ananas, Kürbis. Ein Transfer fand aber auch in umgekehrter Richtung statt: Aus der Alten Welt gelangten Feldfrüchte nach Amerika, die dort bislang unbekannt gewesen waren: Weizen, Hafer, Hirse, Gerste; dazu Salatpflanzen und verschiedene Früchte und Gemüse wie Feigen, Pfirsiche, Birnen, Erbsen, Karotten und Kohlsorten. Dasselbe gilt für Haus- und Wildtiere: Aus der Neuen Welt kamen Truthähne, Lamas, Alpakas, Moschusenten und Meerschweinchen; den umgekehrten Weg nahmen Hauskatzen, Kühe, Schafe, Hühner, Esel, Frettchen, Honigbienen und Seidenraupen. Die Einführung neuer Lebensmittel und Nutztiere förderte das Bevölkerungswachstum nicht nur in Europa, sondern auch in Ostasien und möglicherweise in Nordafrika. Allerdings ging der biologische Transfer auch mit negativen Phänomenen einher, nämlich epidemischen Krankheiten. Die Alte Welt exportierte die Beulenpest, Windpocken, Cholera, Pocken und Typhus – Krankheiten, gegen die Eurasier und in gewissem Maß auch Afrikaner resistent geworden waren, während sie die indigene Bevölkerung in Amerika dahinrafften. Hierbei verlief der Transfer jedoch asymmetrisch: Aus Amerika gelangte nichts nach Europa, was die hiesige Bevölkerung nachhaltig zu gefährden imstande war.

Der Kolumbianische Austausch wurde zum wesentlichen Bestandteil einer frühreifen globalen kapitalistischen Wirtschaft. Der biologische Transfer war grundlegend für einige im Entstehen begriffene Strukturen von Produktion, Distribution und Konsumtion, ganz zu schweigen von Veränderungen in der Sozialstruktur. Um 1620 zum Beispiel wurden bis zu 20.000 Tonnen Zucker (gewonnen aus einer neu nach Amerika eingeführten Pflanze) vermutlich für den Verbrauch in Europa durch Arbeit von Sklaven gewonnen, die von Afrika aus über den Atlantik verschifft worden waren. Rohstoffe und Halbfabrikate zirkulierten weltweit in beträchtlichen Mengen, um die Nachfrage auf den neuen Märkten zu befriedigen. Was Jan Vermeer in Delft auf die Leinwand brachte, sieht auf den ersten Blick nach einer geordneten und provinziellen Innenwelt aus. Schaut man aber näher hin, erzählen die dargestellten Gegenstände eine andere Geschichte: Der schwarze Filzhut ist aus kanadischem Biberfell gemacht, jene Porzellanschüssel kommt aus China, das Rohmaterial der Silbermünzen dort aus Peru, die Farbe für das karmin- oder scharlachrote Tuch wurde von den Indios in Mittel- und Südamerika aus Cochenilleschildläusen gewonnen. Dies alles waren – wie auch die Seide aus China, die Gewürze aus Südostasien, Pfeffer und Baumwolle vom indischen Subkontinent und der Tabak aus Amerika – Produkte, die weltweit in nie zuvor gekannten Mengen gehandelt und konsumiert wurden. In manchen Fällen konnten die Bedürfnisse der neuen Märkte einfach durch die Ausweitung der existierenden Produktion befriedigt werden, wie im Fall der indischen Baumwollweber oder der chinesischen Porzellanfabriken. In anderen Fällen jedoch waren größere gesellschaftliche Veränderungen und brutal betriebene Zwangsarbeit nötig – wie bei der Minenausbeutung in Mexiko und Peru oder der Sklavenarbeit in den brasilianischen Zuckerrohrplantagen.

In globaler Perspektive ist die Bedeutung der riesigen, hoch entwickelten und monetarisierten Wirtschaft, wie sie in China und Indien herrschte, offensichtlich. Dies, genauer noch: Die Dynamik der chinesischen Wirtschaft war auch der Grund dafür, warum der Osten in dieser ganzen Epoche ein Ziel für die europäische Expansion nach Übersee blieb. Der Marktwert des Silbers in den Gebieten der Ming-Herrschaft betrug in etwa das Doppelte seines Werts in anderen Weltgegenden. Insofern gewinnt die Entdeckung und Ausbeutung der südamerikanischen Silberminen eine andere Dimension. Europa produzierte nur wenige Güter, die von den Märkten der östlichen Hemisphäre nachgefragt wurden. Silber aber war genau jene Ware, mit der Europas Kaufleute in Asien Handel treiben konnten. Wichtiger noch: Mit den Schätzen aus Südamerika in ihren Händen wurden die Europäer zu den Zwischenhändlern überhaupt im weltweiten Handel mit Silber, das nur zum geringen Teil je Europas Küsten erreichte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden vielleicht etwas mehr als 50 Tonnen Silber pro Jahr von Acapulco am Pazifik nach Manila auf den Philippinen verschifft. Das entspricht ungefähr dem jährlichen Gesamtwert des europäischen Handels mit den ostindischen Inseln. Von den Philippinen gelangte das Silber auf das chinesische Festland und wurde dort gegen Seide und andere Güter eingetauscht. Spanische Galeonen sorgten für den Hin- und Hertransport, so wie portugiesische Handelsschiffe japanisches Silber nach China lieferten, bis die Portugiesen 1637 von den Japanern des Landes verwiesen wurden.

Wer die Zentren der Silberproduktion kontrollierte, konnte Riesengewinne verbuchen – so die spanischen Habsburger und das Tokugawa-Shogunat in Japan. Doch auch all jene, die auf die eine oder andere Weise am Handelsweg beteiligt waren – von den Minen in den Anden bis zu den chinesischen Märkten – konnten reiche Gewinne einstreichen, die wiederum Investitionen in die ersten europäischen Kolonialprojekte in Amerika ermöglichten. Diese Gewinne trieben die Räder des Handels mit Fernost an, dessen Profiteure, vor allem nach der Gründung privilegierter Handelsgesellschaften wie der englischen und holländischen Ostindienkompagnien (1600 beziehungsweise 1602), die Kaufleute waren. Eine erste, noch oberflächlich organisierte Globalisierung war im Entstehen begriffen.

Europas damaliges Bevölkerungswachstum beruhte zum Teil auf dem Kolumbianischen Austausch von Feldfrüchten, war aber nur eine Facette der weltweiten Bevölkerungszunahme, die sich besonders in Eurasien zeigte. Die Zunahme der Staatsmacht in Europa hatte ihre Parallele in der Konsolidierung von Staaten in Asien. Das China der Ming-Dynastie, das Indien der Mogulnherrschaft und das Osmanische Reich waren, ebenso wie die Niederlassungen der Spanier oder der Portugiesen und Holländer in Fernost, „Schießpulverreiche“ (gunpowder empires). Doch unterlagen diese globalen Phänomene selbst wiederum globalen Beschränkungen. Der markante Bevölkerungszuwachs, den das 16. Jahrhundert erlebte, erhöhte den Druck auf die natürlichen Ressourcen in nie zuvor gekanntem Maß, was besonders in den Grenzbereichen von Kultur und Natur sichtbar wurde – die Steppe wich vor dem Acker zurück, die Menschen nahmen auch weniger geeignetes Land unter Kultur, die kommerzielle Jagd wuchs ins fast Grenzenlose. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wurden die naturgegebenen Beschränkungen spürbar, und dies nicht nur in Europa. Umso nachdrücklicher machten sie sich im Zusammenhang mit einem globalen Klimawandel bemerkbar – ab 1580 liegen Hinweise und Berichte über ein Abkühlen des Planeten vor, und zur Mitte des 17. Jahrhunderts hin treten die Auswirkungen deutlicher zutage. Die europäische Krise der Jahrhundertmitte muss in einen globalen Zusammenhang gestellt werden, auch wenn die meisten ihrer konstitutiven Elemente hausgemacht waren.

Das verlorene Paradies

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