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Ein Bild von Europa entsteht

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Paradoxerweise wurde die europäische Expansion nach Übersee von Europäern vorangetrieben, die ihrerseits kaum einen Begriff von „Europa“ hatten. Erst Amerika ermöglichte ihnen, das Christentum neu als geographische Einheit zu definieren, als einen Raum, der für sie dann in zunehmendem Maß „Europa“ repräsentierte. Ohne die Entdeckung Amerikas hätte „Europa“ wohl nicht existiert. Die Mythologie bot Europas Dichtern und Künstlern Möglichkeiten, um die Vieldeutigkeit der Welt, in der sie lebten, darzustellen. Humanismus und Renaissance eröffneten Wege zur Wiederbelebung der antiken Mythologie; mit den Kapriolen der griechischen und römischen Götter konnte man den eigenen Machthabern einen Spiegel vorhalten und der sexuellen Freizügigkeit an den Höfen Tribut zollen. Leser und Betrachter wurden dabei in ein Paralleluniversum entführt, in dem Glück, Tugend, Leidenschaften, Gefahren und der so wichtige göttliche Schutz dargestellt werden konnten, ohne die christliche Moral oder das konventionelle christliche Welt- und Menschheitsbild zu kompromittieren. „Europa“ war Bestandteil eines Mythos, den die Renaissancehumanisten aus dem Altertum übernahmen, indem sie die bewohnte Landmasse in drei Zonen gliederten: Die wichtigste war Asien, danach kam Afrika und schließlich Europa. Den Ursprung für diese Dreiteilung bildeten die Geschichten über die Söhne Noahs. Mit der Verbreitung von Weltkarten und Globen wandelte sich der Mythos, und aus den drei Zonen wurden geographisch bestimmte Kontinente. Zu diesem Wandel trug die Entdeckung Amerikas als viertem Kontinent entscheidend bei.

Aber erst nach und nach drangen die Ideen von „Amerika“ und „Europa“ in die europäische Vorstellungswelt ein. Die spanische Kolonialverwaltung in Amerika etwa verwendete nach wie vor die Bezeichnung „Las Indias“ und benutzte „Amerika“ in offiziellen Dokumenten so gut wie gar nicht. Shakespeare und Montaigne sprachen in ihren Werken fast nie von „Europa“; wenn der Franzose jedoch „wir“ sagte, hatte er offenkundig einen gemeinsamen Raum vor Augen, der namenlos blieb. Dennoch wurde „Europa“ zunehmend als ein Ensemble von Werten verstanden, als eine gemeinschaftliche Identität, der die humanistisch gebildeten Eliten eine geographische Ausdehnung zuwiesen. Der französische Philosoph Louis Le Roy sprach von „unserer Mutter Europa“, worunter er eine ganze Zivilisation mit einer komplexen Geschichte, einer dynamischen Gegenwart und einer hoffnungsvollen Zukunft verstanden wissen wollte. Auch Francis Bacon bezog sich 1605 mit großer Geste auf „uns Europäer“. Für die nähere Bestimmung der Identität Europas und seiner Werte war Amerika von entscheidender Bedeutung. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren die Rechte, in der Neuen Welt Handel, Eroberung und Siedlung zu betreiben, vom Papst und vom Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gewährt worden. Später stritten all jene, die nicht von der Iberischen Halbinsel stammten oder dem Papst verpflichtet waren, im Namen einer umfassenderen Idee, der des Naturrechts, mit Vehemenz dagegen. Das Naturrecht galt in einer Welt, die sich in räumlicher und zeitlicher Hinsicht vergrößert hatte, grundsätzlich auch für andere Menschen. Es konnte indes ebenso dazu benutzt werden, bestimmte Verhaltensweisen als „menschlich“ zu charakterisieren im Gegensatz zu anderen, die als „wild“ und „barbarisch“ galten. Diese Begrifflichkeiten wurden Teil des europäischen Selbstverständnisses, indem sie „Europa“ von der Welt der „Wilden“ jenseits von Europa abgrenzten.

Es waren dann die Protestanten, die „Christentum“ begrifflich zunehmend durch „Europa“ ersetzten – vor allem wenn sie zeigen wollten, dass die von konfessionellen Konflikten verursachten Grausamkeiten ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer waren als die von sogenannten „Wilden“ verübten. Die europäischen Siedler in der Neuen Welt definierten sich über die Werte ihrer Herkunftsorte, wobei sie das jeweilige Mutterland idealisierten („Neu-Spanien“, „Neu-Frankreich“, „Neu-England“) und allmählich ihre eigene Identität entdeckten. Manche konnten gar nicht schnell genug wieder heimkommen. Manuel da Nóbrega, Ordensgeneral der Jesuiten in Brasilien und Autor einer einflussreichen Geschichte dieses Landes, schrieb über seine Landsleute: „Sie lieben das Land nicht, und all ihre Zuneigung gilt Portugal. Das erste, was sie ihren Papageien beibringen, lautet: ‚Papagei königlich, nach Portugal zurück will ich.‘“ Für andere lag das Ziel der kolonialen Unternehmung darin, nach dem Vorbild des Alten etwas Neues zu schaffen. Die indigenen Völker wurden zu einem warnenden Beispiel für alles, was die Kolonisten nicht waren oder nicht sein sollten – barbarisch, heidnisch, lasterhaft, unzuverlässig, faul, ziellos und unvernünftig. Protestantische wie auch katholische Missionare machten bei den indigenen Völkern eine Einstellung zur „Freiheit“ aus, die sich von der den Europäern gemäß Naturrecht zugewiesenen erheblich unterschied – die „Wilden“ standen, so hieß es, dem Prinzip Verantwortung und der gesetzlichen Autorität eher gleichgültig gegenüber und kümmerten sich nicht um die Zukunft. Andererseits wurde Amerika allmählich zu einem Utopia für all jene Werte, die Europa bewahren sollte, es aber nicht tat. Für Domenico Scandella, einen autodidaktisch gebildeten Müller aus dem Friaul, rief der Terminus „Neue Welt“ eine Welt des Glücks hervor, durch die man Europa wie in einem Spiegel sehen konnte. Wer aus religiösen Gründen in die Neue Welt auswanderte, stellte sich ein Neues Jerusalem auf einem anderen Kontinent vor und im Gegenzug dazu ein fremdes Europa, das ihn verstoßen hatte. Amerika bot den Europäern die Möglichkeit, die Alte Welt neu zu denken.

Die Mythologie spielte dabei eine nicht unwichtige Rolle. Am 19. Juni 1559 schrieb Tizian aus Venedig an den mächtigsten Herrscher der Christenheit, Philipp II. von Spanien, um ihm mitzuteilen, dass er dabei sei, das letzte von sechs großen Gemälden fertigzustellen. Das Ensemble resultierte aus einem Auftrag, den er acht Jahre zuvor mit dem jungen Fürsten in Augsburg erörtert hatte. Thema des letzten Gemäldes war der Raub der Europa. Im Frühjahr 1562 war es vollendet und wurde Philipp übersandt. Das Werk zeigt eine aufgewühlte See unter einem bedrohlichen Himmel; im Vordergrund liegt auf einem Stier eine überlistete und halb entkleidete Europa, die ihre Jungfräulichkeit zu verlieren droht. Während sie fort- und aus dem Bild herausgetragen wird, hält sie sich um ihr Leben an den Hörnern des Stiers fest, bei dem es sich, wie sie gerade erkannt hat, um den mächtigen Zeus selbst handelt. Tizian bezog seine Inspiration aus dem zweiten Buch der Metamorphosen des Ovid, eines römischen Dichters, dessen Werke in der Renaissance zu den meist übersetzten und kommentierten gehörten. Tizian selbst konnte den lateinischen Text nicht lesen, aber sein Freund Ludovico Dolce, ein in Padua ausgebildeter Humanist, hatte gerade in Venedig eine illustrierte Ovid-Ausgabe veröffentlicht.

Tizians brillantes Gemälde war vieldeutig. Er gab der Bilderfolge, deren Höhepunkt es darstellt, den Titel Poesie – gemalte Dichtkunst. Da Ovid zufolge das Thema des Raubs der Europa schon von der Weberin Arachne aufgebracht worden war, die im Wettstreit mit Athene zeigen wollte, dass sie die Kunst des Teppichwebens besser beherrschte, erhob Tizian mit seiner Bildversion Anspruch darauf, der Apelles der modernen Welt zu sein (Apelles war der berühmteste Maler im antiken Griechenland gewesen). Doch wie sein Freund Pietro Aretino kurz vor seinem Tod bemerkte (und er musste es als Verfasser pornographischer Werke wissen), war auch Tizians Bilderzyklus ein erotisches Kunstwerk, das dem königlichen Gönner sexuelle Anziehungskraft und Allmacht in all ihren Verkleidungen vor Augen führen sollte. Auch besaß das Gemälde mit der entführten Europa eine politische Botschaft, denn „Raub“ wurde mit den Türken und den Gräueltaten des Krieges in Verbindung gebracht. Somit sollte dem jungen König anschaulich gemacht werden, dass sein Erbe von innen wie von außen bedroht war – von innen durch seine eigenen Leidenschaften, und von außen durch räuberische Angriffe. Letztlich ging es bei dem Gemälde also auch um Werte.

Vor allem aber wurde Europa zu einem geographisch bestimmten Raum. König Ferdinands Kartograph, Johannes Bucius Aenicola, stellte Europa als Königin (Europa regina) dar – ein graphischer Einfall, der Popularität erlangte, als er in spätere Ausgaben von Sebastian Münsters berühmter Cosmographia (1544) aufgenommen wurde. Wenig überraschend bildet Spanien das gekrönte Haupt und Italien den rechten Arm Europas, während ihr Mantel etwas unbestimmt im Osten endet. Wichtig war die Krone. Cesare Ripa, Europas führender Interpret all der Emblematik, die Dichtern, Malern und Schriftstellern zur Verfügung stand, gab in seiner Iconologia von 1603 die Anweisung, Europa solle stets mit einer Krone dargestellt werden, „um zu zeigen, dass Europa immer die Führerin und Königin“ der vier Kontinente gewesen sei. Damit war die tradierte Hierarchie, bei der Europa an den Rockschößen von Asien und Afrika hing, auf den Kopf gestellt. Was sich darin niederschlug, war ein erwachendes Gefühl von Überlegenheit, das einherging mit der Vorstellung von Europa als eines geographisch verortbaren Wertekanons.

Allerdings gab es dabei ein Problem: Wo sollte Europa enden, da es doch keine natürlichen Grenzen der eurasischen Landmasse gab? Das Christentum hatte derlei Schwierigkeiten nicht gekannt, da seine Grenzen ebendie der christlichen Glaubensgemeinschaft gewesen waren. Doch wo verliefen die Grenzen eines geographisch verorteten Europas der Werte? Die Zeichner, die Europa als Jungfrau darstellten, verwischten das Problem, indem sie das Kleid eine große Region im Osten bedecken ließen und den Saum mit einer Vielzahl von Namen umgaben – „Skythien“, „Moskowien“, „Tatarei“. Gehörte Russland überhaupt zu Europa? Die Frage war umso schwieriger zu beantworten, als eine russische Expansion nach Osten und Süden (wolgaabwärts) und über den Ural hinaus in die riesige asiatische Landmasse hinein stattfand. Diese Ausdehnung wurde weniger gefeiert als Europas überseeische Abenteuer, war aber nicht weniger wichtig. Die Antwort auf diese Frage hing zunehmend von dem Bild ab, das ein europäischer Beobachter sich von dem fremden „Anderen“ im Hinblick auf jene Werte machte, die für die Historiker und Philosophen der Aufklärung im 18. Jahrhundert den Kern von „Zivilisation“ bildeten, wobei sie sich auf eine bestimmte Interpretation des politischen, religiösen und kulturellen Erbes Europas stützten.

Schließlich konnte Europa in dieser Epoche als geographische Einheit begriffen und dargestellt werden, weil sich das Verständnis von Raum und Räumlichkeit änderte. Die Kartographie erlaubte es, den Raum als geometrische Größe zu verstehen, losgelöst von qualitativen Aspekten wie Bedeutung und Erfahrung. Wie Ptolemäus erklärt hatte, waren es allein die Entfernungsverhältnisse, die zählten. Anfang des 15. Jahrhunderts entdeckte man in Konstantinopel seine Geographia, die in der islamischen Welt schon seit Langem bekannt, dem westlichen Christentum aber neu war. Ptolemäus’ Werk enthielt die theoretischen Grundlagen der Kartographie samt Längen- und Breitengraden. Es entfaltete eine Projektionsmethode und betonte die Bedeutung empirischer Beobachtung. Europäische Kartographen benutzten diese Vorgaben, um Räume zu vermessen und zu bestimmen. Die Ergebnisse ließen sich anhand von Globen und gedruckten Karten sehen. Europas „Zeitalter der Entdeckungen“ machte nicht einfach nur weit entfernte neue Welten sichtbar, sondern auch die eigene räumliche Identität.

Das verlorene Paradies

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