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Die dynastische Herrschaft

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Wenn nun der Kaiser das Christentum nicht mehr schützte, wer dann? Die Amtsgewalt – die Macht des Schwertes – lag hauptsächlich in den Händen dynastischer Fürsten. Dynastische Herrschaft (beruhend auf Erbfolge) war die Grundlage politischer Ordnung. Ihre Attraktivität lag in der durch Abstammung begründeten Legitimität. Wurde dieses Herrschaftsprinzip noch durch den Anspruch auf absolute Autorität verstärkt, konnte es in der aristokratischen und patrimonialen Welt der Fürstenhöfe Ressourcen mobilisieren. In deren informellen Machtstrukturen konnten die Fürsten sich bestimmter Hebel bedienen: der introvertierten Kultur der Gunstgewährung und des den Ehrenkodizes innewohnenden Konkurrenzdenkens. Es fiel den Herrschern nicht schwer, das egoistische Streben der Personen in ihrem Umfeld – nach einem Amt für sich, für Freunde und Angehörige – zu begreifen und zu nutzen. Als Form der Institutionalisierung politischer Ordnung war die dynastische Herrschaft nie überzeugender als zu der Zeit, da sie eine Alternative zu den religiösen Spaltungen und sozialen Wirrnissen der nachreformatorischen Epoche anzubieten schien. Allerdings konzentrierten sich die gerade in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts virulenter werdenden politisch-religiösen Gewalttaten in Westeuropa, wo die Staatsmacht schon sehr früh Fuß zu fassen begonnen hatte. Die augenfälligsten Gewaltakte wurden entweder von schwachen Herrschern angestiftet oder von ihrer Schwäche stark begünstigt. Die dynastische Monarchie war an den religiös grundierten Auseinandersetzungen der nachreformatorischen Zeit ebenso beteiligt wie an deren späterer Eindämmung.

Der dynastische Staat erfuhr vor allem deshalb eine Stärkung, weil die Fähigkeit, Streitkräfte aus zunehmender Entfernung auszuheben und in Gang zu setzen, in dieser Periode beträchtlich wuchs. Ebenso nahm, und dies oftmals dramatisch, die Durchsetzungskraft bei der Eintreibung von Steuern zu, und es wuchs die Zuversicht, wirtschaftliche Aktivitäten aller Art überwachen, kontrollieren und daraus Einkünfte generieren zu können. Vor allem aber veränderte die Möglichkeit, sich auf der Grundlage solchen Machtzuwachses Kredite zu verschaffen, das Wesen der Staatsmacht im Vergleich zu anderen Formen von Macht in der Gesellschaft. Europas erstes koloniales Unternehmen wäre ohne staatliche Unterstützung nicht möglich gewesen. Das soll keine Bestätigung der tradierten Auffassung sein, diese Epoche habe den Aufstieg des „modernen Staates“ gesehen. Tatsächlich spielte sich etwas ganz anderes ab. Jenseits von Beamtentum und Steuerpacht, von Stammrollen und Kolonialsiedlungen malte sich die kollektive Fantasie ein christliches Gemeinwesen aus, in dem das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten ein moralisches war. Aus praktischen Gründen waren die staatlichen Verwaltungsmechanismen lokal, breit gestreut und schwach, während im Zentrum die Staatsmacht schnell zur Zielscheibe höfischer Rivalitäten, Fraktionen und Spaltungen wurde. Auf lokaler Ebene lag sie häufig in den Händen von Drahtziehern, adligen Granden und ihren Vasallen. Mochten die Staatsmänner und -frauen jener Epoche auch nach vorne schauen, lässt sich hinter ihrem Verhalten doch nur schwer die kohärente Vision eines ordnenden Staates entdecken, der von allen Bürgern Gehorsam und Loyalität verlangte. Viel einfacher lassen sich ihre Machtspiele aufdecken – wie sie ihre Gegner erniedrigten und sich das Machtmonopol sicherten. Wenn es darum ging, Loyalität und Gehorsam der Untertanen einzufordern, gebärdete sich die frühmoderne, nicht-militärische Macht prinzipiell „performativ“: „Macht“ war Bauchrednerei für die Zuschauertribüne. Schon für das Christentum waren die lokalen Strukturen in Europa der Schwachpunkt gewesen; für den dynastischen Staat sollten sie die Achillesferse sein.

Die dynastische Herrschaft nämlich beruhte auf der Logik der Genealogie und damit auf der Zufälligkeit von Geburt und Tod. Sie missachtete lokale kulturelle Identitäten ebenso wie Privilegien und Eigenarten der Rechtsprechung. In den von ihr regierten Staatsgebilden schuf sie Einheiten ohne inneren Zusammenhang und mit völlig unterschiedlichen Traditionen von Recht und Religion, die für die konfessionellen Spaltungen der nachreformatorischen Welt besonders anfällig waren. Die der dynastischen Herrschaft innewohnenden Konkurrenzinstinkte zerstörten jegliche Chancen auf eine an einem Ideal ausgerichtete Zusammenarbeit. In internationaler Hinsicht sorgte diese Herrschaftsform beständig für Instabilität und kriegerische Auseinandersetzungen. Die Fähigkeit der Dynasten Europas, Macht zu mobilisieren, forderte in immer höherem Maß den Preis interner Konflikte, wogegen die eurasischen Machtstrukturen, mit denen die Dynasten nun im Wettstreit lagen, davon frei waren. Eine Folge heftigster regionaler Konflikte unterminierte die Fähigkeit des Christentums, Ressourcen und Energien in die koloniale Expansion zu investieren; vielmehr vollzog sich der umgekehrte Prozess: Der Reichtum der Neuen Welt finanzierte die dynastischen Ambitionen der Alten Welt. Hieraus entstand binnen Kurzem jener Mahlstrom, der Europa in den Abgrund des Dreißigjährigen Krieges zog. Im Gegensatz zu den Dynasten waren Adlige, bisweilen im Bündnis mit repräsentativen Institutionen, häufig in einer besseren Position, um lokale Wünsche und Begehren zu verstehen und die Bindung an landesübliche Institutionen und Gebräuche gegen die zentralisierenden Bestrebungen der Fürsten auszunutzen.

Das Hauptproblem bestand darin, dass die von dynastischer Herrschaft erzeugten Loyalitäten grundsätzlich nur schwache Bindungskräfte entwickelten. Es war schon ein Glücksfall, wenn es dynastisch regierten Staaten gelang, sich mit den stärkeren Identitäten von Religion oder patria zu verbinden. Im Allgemeinen mussten sie die Grenzen akzeptieren, die der von ihnen betriebenen politischen Integration gesetzt waren – und damit auch den fortwährenden Wirbel von Fraktionen, Lobbys und Netzwerken an ihren Höfen sowie lokale Autonomiebestrebungen, die sich am deutlichsten artikulierten, wenn es darum ging, die Peripherien und Kolonien Europas zu regieren. Der Versuch, die Stärkung der dynastischen Monarchie mit umfassenderen Loyalitäten zu verbinden, machte nur die Vergeblichkeit solcher Ansprüche offenkundig. Dem dynastischen Staat fehlte eine überzeugende Ideologie. Sein politisches Modell ging am Kern des christlichen Gemeinwesens vorbei: an der Stärkung des Gemeinwohls und der rechten Beziehung zwischen politischer Obrigkeit und Bevölkerung. Im Kontext der Reformation mündeten diese Ideale in die Auffassung, dass die Menschen für ihr Tun zuerst und zumeist Gott verantwortlich waren. Die daraus sich ergebenden Aufforderungen – zum Gemeinwohl beizutragen und Gottes Wille auf Erden zu tun – veränderten die Grundregeln der Politik im späteren 16. Jahrhundert, nicht zuletzt deshalb, weil diese rasch den neuen Kräften eines durch den Wandel der öffentlichen Medien vervielfältigten Informationsflusses angepasst wurden. So entstanden auf allen möglichen Ebenen Modelle für politischen Zusammenschluss und politisches Engagement. Nicht nur in kleinen, unabhängigen, militärisch eher schwachen Städten und Republiken ließen sich gottesfürchtige und wohlmeinende Notabeln von der Überzeugung leiten, dass sie an Entscheidungen beteiligt werden sollten, die zu wichtig waren, um sie allein den Herrschern zu überlassen. Die dynastischen Staaten standen hilflos den Forderungen derjenigen gegenüber, die erwarteten, in die zukünftige Entwicklung des Gemeinwesens einbezogen zu werden. In der Politik der nachreformatorischen Zeit war die Spannung zwischen Herrschern und Beherrschten ein grundlegendes Element.

Das verlorene Paradies

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