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Die neue Dynamik der Information

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Mit dem wachsenden Bewusstsein von einem europäischen geographischen Raum veränderte sich auch der Blick auf das, was als lokal galt. Gewürze, Färbemittel, Häute, Pelze, Seide und Zucker gehörten zu den Handelsgütern, die Europas Märkte miteinander und mit der außereuropäischen Welt verbanden. Eine zunehmende Dynamik in der Kommunikation und Information tat das ihre. Die Wirkung der Drucktechnologie war nur Teil eines weitaus größeren Veränderungsprozesses, der handgeschriebene Briefe ebenso umfasste wie Postzustelldienste, die mündliche Weitergabe, das Reisen und damit zusammenhängende Begegnungen, die wissenschaftliche Forschung und die Strukturierung von Wissen. Organisationen und Strukturen funktionierten besser über weite Entfernungen hinweg. Die Überzeugung (moralischer oder anderer Art) rückte als bestimmendes Element politischen Handelns, religiösen Glaubens und sozialen Verhaltens in den Vordergrund. Räumliche und zeitliche Beschränkungen, die bisher definiert hatten, wer man war und welche Möglichkeiten einem offenstanden, schwächten sich ab. Die Menschen wurden sich, auf direkte und indirekte Weise, der Tatsache bewusst, dass die Welt größer, vielfältiger und komplexer geworden war. Größer wurde auch die Kluft zwischen denen, die – selbst des Lesens, Schreibens und Rechnens kundig – an der Dynamik direkt teilhaben konnten, und denen, die sich dafür auf andere verlassen mussten. Die Nachrichtenblätter und Flugschriften machten die Generäle des Dreißigjährigen Krieges und der sonstigen Konflikte – die noch heute mit eisigem Blick, Lockenperücke und schwarzem Brustpanzer die Besucher der europäischen Museen begrüßen – weithin bekannt. Berichte von Massakern, Hungersnöten und Pestausbrüchen wurden zu Lehrstunden über Gottes Zorn und konnten überall in Europa mit- und nachempfunden werden. Zur Mitte des 17. Jahrhunderts hin verdichtete sich das Bewusstsein einer umfassenden, allen gemeinsamen Krise, und dies ist das wohl deutlichste Zeichen für die Veränderungen in der europäischen Informationsdynamik, die sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts vollzogen hatten.

Die Bedeutung der neuen Kommunikationsgewohnheiten ist kaum zu überschätzen. Hätte, um ein Beispiel zu nehmen, Europa nicht begriffen und an Beispielen erfahren, dass ein politisches Gemeinwesen und eine soziale Ordnung durchaus in der Lage sind, mit religiösem Pluralismus zu leben, wäre die Erschütterung des 17. Jahrhunderts wohl noch tiefer und schädlicher gewesen. Hätte Europa nicht die politischen und organisatorischen Rahmenbedingungen des Staats verändert, um Informationspluralismus zu ermöglichen und die Machtverhältnisse zu regeln, wäre das Risiko eines systemischen Staatszusammenbruchs gewachsen und wären die unerbittlichen Rivalitäten zwischen adligen und dynastischen Eliten außer Kontrolle geraten. Hätte Europa nicht auf die an Zahl zunehmenden und in der Fläche immer weiter gestreuten Zusammenballungen von Reichtum und Macht zurückgreifen können, die durch immer dichter geknüpfte Netzwerke gegenseitiger wirtschaftlicher Verpflichtungen und vielfältige Kanäle des Wissenstransfers miteinander verbunden waren, hätte sein Kolonialismus nicht jenen dauerhaften und tief greifenden Einfluss haben können, der innerhalb und außerhalb Europas zutage trat. Hätten sich keine diplomatischen Kanäle, keine Kommunikations- und Verhandlungsprotokolle entwickelt, wäre der so beispiellos genau ausgearbeitete Westfälische Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg in Deutschland beendete, nicht möglich gewesen.

Das verlorene Paradies

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