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Der Einfluss der Renaissance
ОглавлениеSchon lange vor 1517 hatte die Wiederentdeckung klassischer Texte und Ideen in den städtischen Kulturen Norditaliens, Flanderns und des Rheinlands begonnen. Bis dahin war die Scholastik die allgemein akzeptierte Verfahrensweise gewesen, um die philosophischen Probleme der europäischen Eliten anzugehen, und mit der Scholastik war die Vorherrschaft der aristotelischen Philosophie einhergegangen. Das wurde nun infrage gestellt. Die humanistischen Gelehrten sahen es als ihre Aufgabe an, die Texte der klassischen Antike unverfälscht wiederherzustellen und mit den Gedanken ihrer Verfasser in einen kritisch prüfenden Dialog zu treten. Die humanistisch inspirierten Lehrer betonten die Bedeutung der persuasio (Überzeugung): Gelernt werden sollte das geordnete Vortragen von Argumenten, um andere Menschen für die eigenen Ansichten zu gewinnen. Ihre Schüler lernten mit den lateinischen Texten (überwiegend von Cicero) eine neue Sprache und erfuhren etwas über die angemessene Lenkung eines Gemeinwesens. Das führte zu veränderten Vorstellungen über die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten, über das Politische und das Gesellschaftliche und zu einem anderen Universalismus – der „Öffentlichkeit“ (lateinisch publicum) – als dem tradierten des „Christentums“.
„Öffentlichkeit“ war die größte begrifflich fassbare universitas, in den Augen des römischen Rechts eine fiktive Person, unterschieden von denen, die sie erschufen, eine Gesamtheit, die eine lebende Person nachzuahmen vermochte, Rechte und Pflichten sich aneignen und andere damit beauftragen konnte, sie in ihrem Namen wahrzunehmen. Die universitas einer Republik (einer „öffentlichen Sache“) verkörperte den Willen ihrer Mitglieder. Es konnte eine Vielzahl von Republiken geben, wobei einige virtueller waren als andere. So nutzte etwa die „Gelehrtenrepublik“ den Wandel der Kommunikationsmöglichkeiten und wurde von den humanistischen Gelehrten jener Epoche lebhaft gefördert. Ebenso aber spiegelte sich in ihr die Geschichte von Europas „geistigem Kapital“, das zunehmend aus den Händen einer kleinen geistlichen und höfisch-bürokratischen Elite in einen so vielschichtigen wie kosmopolitischen Markt von Produzenten und Konsumenten überging, auf dem Verleger, Drucker, Graphiker, Bibliothekare und Leser unterschiedlicher Provenienz ihre jeweiligen Interessen vertraten. Wie dieser Markt funktionierte, hing von den lokalen Gegebenheiten ab, was erklärt, warum die intellektuelle wie die soziale „Geometrie“ der Renaissance so verschieden ausfiel. Ihr Einfluss wechselte von Region zu Region, wobei die unterschiedlichen Konturen durch religiöse Spaltungen noch verstärkt wurden. Zu ihren wichtigen Komponenten zählten die Fürstenhöfe, und die Renaissance wandelte sich bereitwillig zu einer höfischen Kultur, indem sie sich den am Hof herrschenden Bedürfnissen und Bestrebungen anpasste. Wie die großen wissenschaftlichen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts besaß auch die Renaissance die Macht, zu verwandeln und zu zerstören. Sie konnte kirchliche und politische Obrigkeiten zementieren oder untergraben. Sie konnte grundlegende Vorstellungen über Gottes Vorsehung in der Welt infrage stellen oder bekräftigen. Ihre Pädagogiken zeigten auf ganz neue Weise, wie man lernen konnte, sich selbst, die Welt und ihren Schöpfer zu begreifen.
Neben anderen Dingen entdeckten die humanistischen Gelehrten, dass die antike Philosophie ihre eigene Geschichte hatte. Um Aristoteles zu verstehen, musste man ihn in den Zusammenhang mit all jenen Denkern stellen, mit denen er sich auseinandersetzte. Dadurch war er keine einzigartige Autorität mehr, die allein Wahrheit und Legitimität verlieh. Dieser Prozess hatte damit begonnen, dass man den griechischen Text der Schrift Leben und Lehre der Philosophen von Diogenes Laertius übersetzte, veröffentlichte und popularisierte. Nun verfügte man über eine Genealogie für die miteinander wetteifernden „Sekten“ der griechischen Philosophen und konnte Ansichten, die im Mittelalter randständig geblieben waren, Glanz verleihen. Die Lehrer brachten ihren Studenten den Aristoteles nun in dieser vielschichtigeren Traditionslinie nahe und nahmen die Argumente und Debatten der griechischen Welt ernst. Einige Philosophen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts orientierten sich an den antiken Schulen der Epikureer, Stoiker, Platoniker und pyrrhonischen Skeptiker. So verlor die antike Philosophie ihre bisherige Rolle als Magd der christlichen Theologie und als Instrument zur Konstruktion einer universellen Ordnung, was die Philosophen freilich nicht daran hinderte, einem grundlegenden Ensemble von Wahrheiten nachzuforschen. Einige meinten, man könne, wie in jeder Genealogie, die Linie zu einer Urahnenschaft zurückverfolgen, von der sich auf alle Nachfolger ewig gültige Spuren vererben würden. Ein Beispiel dafür ist Francesco Patrizi da Cherso, der in seiner Nova de universis philosophia (Neue Universalphilosophie, 1591) die Schriften des Aristoteles über Platon zu Solon und Orpheus zurückverfolgte und noch weiter zum biblischen Bericht über die Erschaffung der Welt und zum Mystizismus der Ägypter, wie er in den Werken des Hermes Trismegistos gedeutet wird. Die hermetischen Schriften, die gut 1100 Jahre vor Platon entstanden sein sollen, enthielten, so behauptete Patrizi, mehr Weisheit als die „gesamte Philosophie des Aristoteles“. Andere zogen es vor, die Gemeinsamkeiten zwischen Platon und Aristoteles zu betonen, die ihrer Ansicht nach trotz der unübersehbaren Differenzen auf eine dem antiken Denken zugrunde liegende „Harmonie“ verwiesen.
Gerade als dieser Synkretismus im Begriff war, sich zu konsolidieren, erhoben sich die radikal skeptischen Stimmen derer, die den griechischen Philosophen Sextus Empiricus gelesen hatten. Sextus Empiricus hatte die Auseinandersetzungen zwischen seinen Kollegen dazu benutzt, um nicht nur des Aristoteles Bemühungen, Wahrheit zu erlangen, grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Folgte man seiner Argumentation (und einige bedeutende Denker, wie etwa Michel de Montaigne, taten es), so steckte die klassische Philosophie voller Irrtümer. Gianfrancesco Pico della Mirandola, der Martin Luther der Philosophie des 16. Jahrhunderts, schrieb in seinem 1520 veröffentlichten Examen vanitatis doctrinae gentium (Untersuchung über die Nichtigkeit der heidnischen Lehren): „Die gesamte Lehre der Heiden steckt voller Aberglauben, Ungewissheit und Irrtum.“ Erst einem Genie wie René Descartes gelang es, diesen Pyrrhonismus zum Fundament einer Universalphilosophie zu machen, die eine neue, auf Experimenten beruhende Physik zu stützen in der Lage war. Doch konnte mittlerweile niemand mehr ernsthaft die Auffassung vertreten, das Christentum sei auf der Grundlage radikalen Zweifels bunt zusammengewürfelt worden.
Humanistisch gebildete Geographen, Ärzte und Naturforscher waren gleichermaßen von der Wichtigkeit direkter praktischer Erfahrung und vom Wert des Experimentierens überzeugt. Dadurch veränderte sich das Bild, das man sich von der Welt der Natur machte. Europas geographische Entdeckungen jenseits seiner Grenzen trugen dazu bei, die natürliche Welt für ein Füllhorn reicher und seltener Phänomene, für ein Schatzhaus voller Geheimnisse zu halten. Diese Welt sollte von jenen entschlüsselt werden, die von dem dafür notwendigen Code wussten. Astrologen, Alchemisten, Kosmographen, Naturmagier und unorthodox praktizierende Mediziner wetteiferten miteinander um Erklärungen dafür, wie jene ungeheure Vielfalt der Natur auf geordnete, die Materie betreffende Grundsätze zurückgeführt werden könne. Zumindest aber wollte man zeigen, dass diese Vielfalt der empirischen Forschung zugänglich sei. Einige der Naturkundler suchten solche Prinzipien in übernatürlichen Mächten – in einer Zauberkraft, die der Natur innewohnte wie ein im Erdgeschehen verborgener Geist, oder die durch Wärme und Bewegung der Lüfte übertragen wurde. Den Philosophen gleich kritisierten diese Naturkundler die aristotelischen Auffassungen; hauptsächlich hielten sie seine Vorstellungen von Materie für zu abstrakt. Ihr Wissen und ihre Einsichten umhüllten sie mit einer Aura des Geheimnisvollen, um sie vor ihren zahlreichen Kritikern zu schützen und so ihren Ruf zu vermehren, wonach sie über außerordentliche Weisheit und Macht verfügten. Doch gab es auch die entgegengesetzte Auffassung, die besagte, dass menschliches Wissen begrenzt sei, weshalb es einem einzelnen Menschen nicht gelingen könne, in die Geheimnisse der Natur einzudringen. Das müsse vielmehr Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung vieler Forscher sein, die die praktischen Aspekte des Wissens ebenso wie die unterschiedlichen Möglichkeiten der Interpretation berücksichtigten.
Nirgendwo machte sich der Einfluss solcher Veränderungen auf die Idee von der Christenheit stärker bemerkbar als in der Kosmologie. Das heliozentrische Universum des Kopernikus verdankte sich in nicht geringem Maß der Wiederbelebung alternativer Kosmologien der klassischen Antike, die den auf aristotelischen Anschauungen basierenden Konsens infrage stellten. War aber die Erde nichts weiter als ein um die Sonne sich drehender Planet wie andere auch, wurde das Universum im Vergleich zur Erde unfassbar groß – „unermesslich“, wie Kopernikus einräumte. Diese Unermesslichkeit rührte daher, dass man zwischen der Orbitalbahn des Saturn und der Sphäre der Sterne eine enorme Entfernung anzunehmen gezwungen war. Gehörte die Erde zu den Planeten, waren die Prozesse des Entstehens und Vergehens, die Aristoteles anhand von Vorgängen in der Natur und auf der Erde erklärt hatte, nunmehr plausibler durch den Einfluss der Sonne oder die Bewegung und Stellung der Erde im Hinblick auf die Sonne und die anderen Planeten zu erklären. Am besten aufgehoben hatte sich das Christentum inmitten eines konzentrischen und anthropomorphen Universums gefühlt, doch der Heliozentrismus hatte es nun aus dem Zentrum der Schöpfung entfernt.
Natürlich gab es noch die Sittenwächter des Christentums, Papsttum und Inquisition. Beide wachten scharf über Versuche, das heliozentrische Weltbild zu propagieren. Verdächtigt wurden, in unterschiedlichem Maß, etwa der für seine brillante Eigenwerbung bekannte Arzt und Alchemist Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim), der Magier und Astrologe John Dee, der Theologe und Kosmograph Giordano Bruno sowie die Naturphilosophen Francesco Patrizi und Galileo Galilei. Im Februar 1600 verbrannte die Kirche Giordano Bruno auf einem Scheiterhaufen in Rom. Ein Jahr später wurde der Dominikaner Tommaso Campanella im Castel Nuovo in Neapel 40 Stunden lang brutal gefoltert, weil er an einem Volksaufstand teilgenommen hatte. Ein Vierteljahrhundert verbrachte er im Castel Nuovo als Gefangener, wobei er gegen die „vergifteten Wurzeln“ der heidnischen aristotelischen Philosophie wütete. Er träumte von der radikalen Transformation einer Welt, der er nicht mehr wirklich angehörte. Das Problem für radikale Denker in dieser Zeit bestand darin, dass sowohl die augenblicklichen Umstände wie auch die Zufälligkeit ihres Aufenthaltsorts darüber entschieden, ob und inwiefern ihre Ideen als Herausforderung verstanden wurden. Dergestalt gab es kein „Ende“ der Renaissance, sondern nur eine fortwährende Neuverhandlung ihrer Möglichkeiten, alte Gewissheiten im Rahmen neuer Zusammenhänge zu zerstören.