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Europa in maximaler Erschütterung

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Während der 1550er-, der 1590er-Jahre und dann wieder seit den 1620er-Jahren erreichten die militärischen Aktivitäten in Europa ein nie zuvor gekanntes Ausmaß. Die Erholung zu Beginn des 17. Jahrhunderts war nur Schein gewesen. Europa stürzte in einen immer stärker um sich greifenden Wirbel aus miteinander verbundenen Kriegen von großer Zerstörungskraft, die ihren Höhepunkt in den späteren 1640er-Jahren erreichten. Diese Konflikte verschärften das wirtschaftliche Auseinanderdriften in Europa und schwächten den sozialen Zusammenhalt. Die 1590er-Jahre waren das Vorzeichen für kommenden, länger anhaltenden Unfrieden: Der Dreißigjährige Krieg umfasst drei gleichzeitige und miteinander verbundene Konflikte, von denen nur der erste 30 Jahre dauerte, nämlich der Krieg in Deutschland – von 1618 bis 1648 –, in den die Nachbarstaaten verwickelt wurden. Der zweite Konflikt war eine erneute Auseinandersetzung zwischen den spanischen Habsburgern und der holländischen Republik, der von 1621 bis 1648 währte. Der dritte war ein erbitterter Kampf zwischen Frankreich und Spanien (1635–1659). Die ersten beiden Kriege resultierten aus nachreformatorischen Streitigkeiten, während der dritte insofern grundsätzlich neu war, als Spanien und Frankreich ganz offen um die Hegemonie in Europa kämpften. Alle Konflikte hingen miteinander zusammen und zogen fast das gesamte westliche Europa in den militärischen Strudel.

Dafür mussten Ressourcen in großem Umfang aufgewendet werden, was die Loyalität der Untertanen in den europäischen Staaten bis aufs Äußerste strapazierte. Besonders betroffen waren die Königreiche der Habsburgermonarchie, wo lokale Akteure mit Unterstützung durch Spaniens Feinde eine alternative Zukunft für sich und ihre Leute erstrebten. Es gab eine Reihe von Aufständen, die in Katalonien und Portugal begannen (1640–1659) und dann auf Italien übergriffen: In Neapel (1647/48) und Palermo (1647) kam es ebenfalls zur Revolte. Das französische Königreich war geeinter, sah sich aber auch mit größeren Problemen konfrontiert. Zunächst erlebte es eine Reihe von lokalen und regionalen Volksaufständen und Adelsrebellionen, die durch eine Mischung aus Unterdrückungsmaßnahmen und Zugeständnissen eingedämmt werden konnten. Nach 1643 war die absolute Monarchie durch die Minderjährigkeit Ludwigs XIV. geschwächt, der im Alter von nicht einmal fünf Jahren auf den Thron gelangt war. Zugleich musste Frankreich einen Mehrfrontenkrieg führen, was die militärischen und finanziellen Ressourcen des Staats an den Rand des Zusammenbruchs brachte, während die Loyalität derer, die sich bisher als Stützen des Staats erwiesen hatten – die Parlamentarier und die adligen Amtsinhaber –, ins Wanken geriet. So kam es zur Fronde (1648–1653), einem Aufstand gegen das Königshaus, mit zwei eher kurzen Bürgerkriegsepisoden.

Die Konflikte des Dreißigjährigen Kriegs wurden von zwei weiteren, parallel verlaufenden politischen Implosionen begleitet, die auf ihre Weise für Zerstörung sorgten. In beiden Fällen resultierten sie aus nachreformatorischen Regelungen, die sich als brüchig erwiesen. Und in beiden Fällen ging es um die Frage, ob sich ein christliches Gemeinwesen gegenüber der neueren Konzeption absoluter Herrschaft würde behaupten können. Auf den Britischen Inseln begann das, was ein Zeitgenosse (James Heath) als „falling out in the three Kingdoms“ bezeichnete, mit einer Rebellion gegen das Haus Stuart in Schottland 1639. Hinzu kam dann der irische Aufstand 1641, und den Höhepunkt bildete der Ausbruch des Englischen Bürgerkriegs 1642. In dessen Verlauf erlitt Karl I. 1646 eine entscheidende militärische Niederlage. Seine Versuche, aus einer Position verhängnisvoller Schwäche wieder die Oberherrschaft zu erlangen, führten zu seiner Hinrichtung im Januar 1649. Die siegreichen Streitkräfte des Parlaments besetzten nun unter dem Kommando von Oliver Cromwell Irland und vernichteten 1649 eine royalistische Armee. Als dann die Schotten Karls I. Sohn und Erben zu ihrem König (Karl II.) krönten, führten erneute Feindseligkeiten mit England zu Cromwells Eroberung von Schottland 1650/51. Ende 1651 wurden die drei Königreiche zu einem Staat vereint, der sich selbst „Commonwealth“ nannte und eine Republik sein sollte.

Unterdessen war es in Osteuropa 1648 zu einem großen Aufstand der Kosaken in der Ukraine gekommen, wodurch mit der Rzeczpospolita, der polnisch-litauischen Adelsrepublik, ein weiteres christliches Gemeinwesen in Gefahr geriet. Der polnische Staat hatte sich mancher Bedrohungen durch Moskowiter, Tataren und Türken an seinen östlichen und südöstlichen Grenzen erwehrt und zahlreiche vorherige Revolten mithilfe ruthenischer Kosaken überstanden. Polnische Adlige hatten in Ruthenien (der Ukraine) große Güter errichtet und behandelten die ansässigen Kosaken mit Verachtung. Dennoch traf der von dem Hetman Bogdan Chmielnicki angeführte Kosakenaufstand (1648–1657) den polnischen Staat unvorbereitet. Mit der Unterstützung von Tataren, dann von Moskowitern vertrieben die Kosaken den polnischen Adel (die szlachta) aus Ruthenien und beendeten die Vorherrschaft der katholischen Kirche. Der einstmals mächtige polnische Staat war bereits durch einen Konflikt mit Schweden in den 1620er-Jahren geschwächt und brach nach 1648 militärisch wie politisch zusammen, was Osteuropa destabilisierte.

Gemeinsam war diesen Protestbewegungen, Aufständen und Rebellionen trotz aller Unterschiede der Zusammenbruch des Vertrauens zwischen Herrschern und Beherrschten. Regelmäßig erscheinende gedruckte Nachrichtenblätter informierten die Zeitgenossen über die diversen, fast simultan verlaufenden Schockwellen. Vielen erschienen sie als wohlverdiente Früchte göttlichen Zorns, als eine gerechte Strafe für die menschliche Sündhaftigkeit. In diese Betrachtungsweise floss noch ein weiterer Aspekt der fundamentalen Erschütterung ein, die Europa um die Jahrhundertmitte kennzeichnete: Europa hatte nunmehr alles verloren, wofür das Christentum einmal eingetreten war, und an seine Stelle war ein glanzlos geteiltes Europa getreten, durch dessen Landmasse sich eine religiöse Grenze zog, die einen Glaubensbruch markierte. Sein politisches System beruhte auf Staaten, die den Regeln konventioneller Moral offenkundig nicht länger gehorchten und mit ihren Untertanen in offenem Streit lagen. Die führenden Staaten waren in einen Kampf um die Vormachtstellung verstrickt, und auch der Westfälische Frieden vermochte es nicht, eine neue internationale Ordnung zu errichten, die jene Rivalität hätte eindämmen können. Europa war in sich uneins und exportierte seine Spaltungen in die übrige Welt. Der soziale Zusammenhalt in den Gemeinwesen hatte gelitten. Der wirtschaftliche Wandel vergrößerte den Abstand zwischen Arm und Reich sowie den Abstand zwischen Regionen, die florierten, und anderen, die es nicht taten. Hinzu kamen klimatische Veränderungen, die überall auf dem Planeten die Landwirtschaft beeinträchtigten. Selbst die Natur und das Universum entzogen sich dem bisherigen Verständnis, und Mutmaßungen und Meinungsdifferenzen gewannen die Oberhand. Die Reformation war die letzte Krise des Christentums gewesen. Der Paroxysmus der Jahrhundertmitte war die erste Krise dessen, was Europa nun war.

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