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Das Nachlassen der Kreuzzüge
ОглавлениеIm 16. und frühen 17. Jahrhundert schien das Christentum in seinen südöstlichen und südlichen Randgebieten am stärksten durch die wachsende Macht des Islams bedrückt und bedrängt. Seit dem Fall von Konstantinopel 1453 war die militärische Macht der Osmanen zu Land und zur See wieder angewachsen. 1520 hatte sich das Osmanische Reich Griechenland, die Ägäis sowie die dalmatische Adriaküste in Bosnien einverleibt und sich die Oberhoheit über den Balkan gesichert. Der Sieg über die ungarische Armee in der Schlacht von Mohács (1526) garantierte den Einfluss auf die Große Ungarische Tiefebene und die Karpaten; Transsylvanien und Moldau wurden zu Vasallenstaaten. So entstand eine lange, schwer zu kontrollierende Grenze, die ungemütlich nahe an Wien vorbeiführte. Als Süleyman I. 1566 starb, lebten mehr als 15 Millionen Menschen unter osmanischer Herrschaft; die Osmanen regierten ein gewaltiges eurasisches Landreich, dessen Zentrum Istanbul (Konstantinopel) war. Kluge europäische Beobachter bewunderten die Struktur und Großartigkeit des osmanischen Staats und fürchteten Disziplin und Umfang seiner Armeen. Istanbul selbst war das Aushängeschild des Reichs, eine große Stadt, die 1566 mehr als eine Viertelmillion Einwohner hatte und mit dem prächtigen Großen Basar, dem Topkapi-Palast und den vielen Moscheen mit ihren zugehörigen Schulen, Krankenhäusern und Hamams beeindruckend ausgestattet war.
Die Osmanen betrieben auch den Flottenbau, um Seemacht zu werden. Im 16. Jahrhundert erlangten und bewahrten sie die Vormacht im östlichen Mittelmeer. Die Eroberung von Ägypten und Syrien (1517) sowie die Einnahme von Rhodos (1522) waren das Vorspiel zum Versuch, jene nordafrikanischen Küsten zu kontrollieren, die zentrale Passagen im Mittelmeer wie etwa die Straße von Sizilien beherrschten. Die Osmanen arbeiteten dabei mit Mittelsmännern – von ihnen lizenzierte moslemische Piraten und lokale Statthalter, die militärische Ränge erhielten. Die Gewässer des südlichen Mittelmeers blieben noch weit bis ins 17. Jahrhundert hinein für europäische Schiffe gefährlich.
Hat aber diese osmanische Expansion den Kreuzzugsmythos wieder belebt? Hat das Mittelmeer in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen „Clash der Kulturen“ erlebt? Jedenfalls scheint das Papsttum in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr von den türkischen Ungläubigen beunruhigt gewesen zu sein als von den protestantischen Ketzern. Seine diplomatischen Initiativen zielten auf die Errichtung einer „Heiligen Liga“ gegen die Ungläubigen, die schließlich von Papst Pius V. ins Werk gesetzt wurde. Vor den letzten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts investierten die Päpste mehr Ressourcen in den Kampf gegen die Osmanen als gegen die Protestanten. Dabei bedienten sie sich nicht nur aus den eigenen Schatztruhen, sondern profitierten auch von den Ablasszahlungen, die die Gläubigen an andere zum Kampf gegen die Türken bereite Kräfte leisteten. Die päpstliche Rhetorik war ein Widerhall der Mobilisierung zum Kreuzzug, wie sie im Mittelalter gang und gäbe gewesen war. Kaiser Karl V. und sein Sohn Philipp II. nahmen ihrerseits die osmanische Bedrohung zum willkommenen Anlass, um ihre Ansprüche auf fürstliche Vorrangstellung zu untermauern. In dieser Epoche bildete die Mobilisierung gegen die Osmanen das Mittel zum Erhalt des Christentums trotz der tiefen konfessionellen Spaltung in seinem Herzen.
In seiner Gegnerschaft zum Islam blieb für das westliche Christentum das Bild des türkischen Ungläubigen von zentraler Bedeutung: Die latente Angst vor der türkischen Gefahr konnte sich auch weiterhin manifestieren und Loyalitätsverhältnisse bekräftigen, vor allem natürlich in jenen Gebieten, die den osmanischen Expansionsgelüsten direkt ausgesetzt waren. Doch drückte sich der Antagonismus nicht mehr in einem konkreten Projekt – der Eroberung des Heiligen Landes – aus. Vielmehr war aus dem „Kreuzzug“ ein „Heiliger Krieg“ geworden, dessen Ziel ein unbestimmterer und eher defensiv orientierter „Schutz“ der christlichen Welt vor dem gemeinsamen aggressiven Feind war. Allbeherrschend war demzufolge die Furcht, das Christentum könne überwältigt werden. Nachdem die Osmanen versucht hatten, Wien zu erobern (1529), berichtete der dortige Botschafter Karls V., Roberto Niño, der den Habsburgern als Horchposten für die Vorgänge in der osmanischen Welt diente, von der Flottenaufrüstung Süleymans des Prächtigen und dessen Plänen, in Italien einzufallen und auf Rom zu marschieren: „Süleyman träumt von dieser Stadt und wiederholt endlos: ‚Nach Rom, nach Rom!‘“ 1566 veröffentlichte der venezianische Kosmograph Jeronimo Ruscelli eine Sammlung von Emblemen auf zeitgenössische Herrscher, die deren geheime Absichten enthüllen sollte. Süleyman war durch vier Kerzenhalter dargestellt, von denen nur einer eine brennende Kerze trug. Ruscellis Deutung machte keine Umschweife: Die vier Kerzen standen für die damals bekannten Kontinente. In dreien waren die Osmanen bereits präsent, und schon bald würden sie auch auf dem vierten (den neu entdeckten Amerikas) auftauchen. Süleymans Plan war, als Weltherrscher das Licht des Islams auf allen vier Kontinenten zu entzünden.
Eine weitere Quelle der Furcht bildeten christliche „Renegaten“, also jene, die „türkisch geworden“ waren – ein Aspekt, der in Flugschriften eifrig diskutiert wurde. Nicht alle dieser Abtrünnigen waren durch die Umstände dazu gezwungen worden. Hatten nicht beispielsweise die Einwohner der ägäischen Inseln Naxos und Scarpanto (Karpathos) die Osmanen in den Anfangsjahren des 16. Jahrhunderts als „Befreier“ von christlicher Unterdrückung begrüßt? Hatten die Osmanen ihre Macht in der Ungarischen Tiefebene nicht auch deshalb konsolidieren können, weil ihre Herrschaft in dieser bäuerlichen Welt auf stillschweigende Akzeptanz stieß? Und rührte das nicht daher, dass die Bewohner sich von der Einführung der osmanischen Justiz die Minderung ihrer feudalen Belastungen durch die christliche Herrschaft ersehnten?
Freilich wurden aus der Angst, von den Türken überrannt zu werden, von den Zeitgenossen unterschiedliche Schlüsse gezogen. So nahm etwa Erasmus von Rotterdam die Gefahren einer osmanischen Expansion ernst, sah aber anfänglich die einzig mögliche Reaktion darauf in der Stärkung des Christentums durch innere Reformen. Später allerdings, nach der Belagerung Wiens, änderte er seine Auffassung. Er meinte nun – und sprach damit implizit die Lutheraner an –, dass die Christen individuell wie kollektiv die Pflicht hätten, den an der Front Leidenden mit Waffengewalt zu Hilfe zu kommen. Aber Luther wie nach ihm Calvin sahen in der osmanischen Bedrohung einen warnenden Fingerzeig Gottes, der auf die Notwendigkeit innerer Reformen hinwies, und lehnten es ab, der äußeren Bedrohung mit Waffen zu begegnen.
Für andere wiederum wandelte sich die tradierte Figur des türkischen Ungläubigen zu einer komplexeren, weniger stark religiös definierten Verkörperung des fremden „Anderen“, für dessen „Barbarentum“ und „Despotismus“ sich Entsprechungen fanden in der weiteren Welt, wo sich die Europäer zunehmend umtaten. Im Gegenzug wich die Vorstellung einer dauerhaften Feindschaft zwischen Christenheit und Osmanischem Reich einer zögerlichen Koexistenz, die die Rede von der Unversöhnlichkeit widerlegte. Mit dem Kreuzzugsgedanken verfiel auch das Christentum. Geographisch und kulturell formte sich Europa, indem es, wie in einen Spiegel, nicht nur nach Amerika, sondern auch zur Levante blickte.