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Der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs

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Im Oktober 1520 wurde Karl von Habsburg, Herzog von Burgund, Thronerbe von Kastilien und Aragón, in Aachen zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt. Hinter den riesigen Bronzetüren des Doms erwartete ihn eine bis ins Kleinste durchgestaltete Zeremonie. Ihm wurden Schwert und Ring seines illustren Vorgängers und Namensvetters – das war Karl der Große – überreicht und die Kaiserkrone Ottos des Großen aufs Haupt gesetzt. Zudem erhielt er das kaiserliche Zepter, den Reichsapfel und den sternenbestickten Mantel sowie etliche Reliquien, zu denen auch die Heilige Lanze gehörte, mit der Christus am Kreuz in die Seite gestochen worden war. Das alles waren die Sinnbilder des heiligen Erbes einer universellen Monarchie. Die Krone, achteckig wie der Dom, verwies auf das himmlische Jerusalem. Der Reichsapfel repräsentierte den Globus, und der Mantel besagte, dass Karl der Schutzherr des Christentums war und als Christi weltlicher Stellvertreter über den Kosmos herrschte. Formell jedoch war Karl „erwählter Kaiser“ mit dem Titel Romanorum rex semper augustus, bis er durch eine weitere Krönung vom Papst endgültig eingesetzt wurde. Reich und Papsttum waren die beiden Säulen des Christentums. Dieses Folgeereignis fand im Februar 1530 zu Bologna an Karls 30. Geburtstag statt. Karl V. war der letzte Herrscher in Europa, zu dessen Gunsten ein Anspruch auf universelle Monarchie erhoben wurde und für den ein solcher Anspruch noch Bedeutung hatte. Er war auch der letzte Herrscher, der von einem Papst eingesetzt und in Aachen gekrönt wurde. Als Karl 1556 abdankte, war das Heilige Römische Reich keine Säule des Christentums mehr, sondern nur noch ein dynastisches Instrument der Habsburger, zum Gebrauch in deutschen Landen.

In dynastischer Hinsicht kannte Karl V. nicht seinesgleichen. Im Alter von 25 Jahren hatte er Anspruch auf 72 dynastische Titel, 27 Königtümer, 13 Herzogtümer, 22 Grafschaften und andere Feudalherrschaften, die sich vom Mittelmeer bis zum Ostseeraum und über die Neue Welt erstreckten. Damit waren ihm an die 28 Millionen Menschen auf diese oder jene Weise treuepflichtig – fast 40 Prozent von Westeuropa. Sein Kanzler, Mercurino Gattinara, ermahnte ihn: „Gott war Euch äußerst gnädig. Er hat Euch über alle Könige und Fürsten in der Christenheit erhoben und Euch eine Macht verliehen, die seit Eurem Vorfahren, Karl dem Großen, kein Souverän je besessen hat. Er hat Euch auf den Weg zu einer Weltmonarchie, zur Vereinigung der gesamten Christenheit unter einem einzigen Hirten geschickt.“ Gattinara machte es sich zur Aufgabe, ein glaubhaftes Bild des Monarchen als weltlicher Führer der Christenheit zu entwerfen.

Karl selbst zog niemals ernsthaft in Betracht, ein vereintes, autonomes Herrschaftsgebilde zu schaffen, und spielte das Erbe Karls des Großen nicht in den Vordergrund. Ihm war darum zu tun, die Rechte und Privilegien derjenigen zu respektieren, die lokale Identitäten verkörperten, weshalb er universelle Herrschaft fast ausschließlich als Wächter über den Glauben beanspruchte. Doch um sein Image bemühte Berater entwarfen ein Amalgam aus christlichem und klassischem imperium, wobei sie auf die politischen Implikationen humanistischer Überzeugungsrhetorik rekurrierten und neue Formen der mechanischen Reproduktion und Verbreitung nutzten: die Drucktechnik, Stiche, aber auch Münzen, Medaillen oder Wandteppiche. Kein politischer Führer des mittelalterlichen Christentums war je so bewusst etabliert worden – in so unterschiedlichen Medien, für so viele verschiedene Zielgruppen und mit so vielfältigen Absichten – wie Karl V. Die Krönung zu Aachen bildete dafür das Grundmuster: Detaillierte Darstellungen der Zeremonie zirkulierten in unterschiedlichen Sprachen zusammen mit Holzschnitten, Medaillen und Kupferstichen, die den Kaiser gemäß deutscher Mode mit eckigem Bart und langem Haar zeigten. Ein Jahrzehnt später war Karl ein römischer Kaiser mit kurzem Haar und Bart, ein Impresario militärischer Siege und ein Friedensstifter für Europa. Die Berichte von Karls Triumphzug durch Bologna schildern, wie er die extra für diesen Anlass geprägten Münzen mit der Abbildung der Säulen des Halbgotts Herkules und mit Karls Motto „Plus ultra“ (Noch weiter) in die Menge warf und dabei „Largesse! Largesse!“ schrie, während auf den Straßen der Singsang „Imperio! Imperio!“ erscholl.

Doch erkannten selbst diejenigen, die mit Karls Sache sympathisierten, dass diese Vision zunehmend geringere Realisierungschancen hatte. Der Anspruch, Wächter des Christentums zu sein, geriet ins Zwielicht, als kaiserliche Truppen im Mai 1527 im Sacco di Roma die heilige Stadt verwüsteten. Die protestantische Reformation erteilte jeglicher Vision einer einigen res publica christiana in Deutschland, ganz zu schweigen von Europa, eine Absage. Karls militärische Erfolge spiegelten, wie seine diplomatischen Initiativen, zunehmend die Imperative der Habsburgerdynastie. Was Karl betrieb, war eine Art von indirektem Imperialismus, wobei die universelle Monarchie die Hintertür zur Hegemonie einer glücksverwöhnten Fürstenfamilie bildete. Protestantische wie auch katholische deutsche Fürsten sahen in Karls Anspruch auf ein geheiligtes imperium eine Bedrohung für die Freiheiten der deutschen Nation. In Italien, wo Karls dynastische Erbschaften das Königreich von Sizilien und Neapel wie auch eine Reihe von Territorien nördlich der päpstlichen Besitztümer umfassten, wurde der Anspruch auf die universelle Monarchie am nachdrücklichsten erhoben und ebenso nachdrücklich bestritten. Karls französischer Gegner, Franz I., wollte den imperialen Ambitionen das Wasser abgraben, wo immer es nur ging. Französische Humanisten reagierten auf Karls Vorhaben mit Gegenentwürfen einer durch göttliche Vorsehung bestimmten, gar messianischen Monarchie, die dazu auserkoren war, die Freiheiten und Privilegien der politischen Ordnung Europas gegen die habsburgische Hegemonie zu verteidigen.

Das verlorene Paradies

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