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Europa in der globalen Kälteperiode

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Gab es für die Missernten eine gemeinsame Ursache? Das europäische Klimasystem ist so komplex, dass kleine Veränderungen zu äußerst kalten Frühlingsperioden und regnerischen Sommern führen können, die den Ernteerträgen schaden. Die Paläoklimatologen verfügen heute über Datenbanken, in denen europa- und weltweite Klima- und Umweltdaten zu unterschiedlichen Epochen gesammelt sind. Europa hatte aber bereits im 16. und 17. Jahrhundert Klimaforscher. In Emden führte David Fabricius von 1585 bis 1612 ein Wettertagebuch, in dem er die große Anzahl später Frostperioden und kalter Sommer in jenem Zeitraum festhielt. Vom dänischen Astronomen Tycho Brahe stammt ein detaillierter Bericht von der Insel Hven im Öresund, der Fabricius’ Aufzeichnungen stützt. Renward Cysat, Ratsherr und Stadtschreiber in Luzern, fasste detaillierte Beobachtungen in monatlichen Berechnungen zusammen und berichtete auch von Gesprächen mit Hirten, die er beim Botanisieren in den Bergen traf. Dieses „menschliche Archiv“ ermöglicht, wenn man es mit dem „Naturarchiv“ kombiniert (den wechselnden Daten der Weinernte im Herbst und des Viehauftriebs im Frühling, ferner Daten aus der Pollenanalyse, dendrochronologischen Daten, glaziologischen und Eiskern-Daten), eine vorsichtige Rekonstruktion der Auswirkung klimatischer Strukturen und Ereignisse auf die Produktion von Getreide, Milch und Wein. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass sich zu jener Zeit das europäische wie auch das globale Klima sehr rasch und mit erheblichen Folgen veränderte. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts bis etwa 1560 gab es eine Periode der Erwärmung, danach – von etwa 1560 bis in die 1640er-Jahre – kam es zu einschneidenden Veränderungen. Die Winter setzten früh ein und waren niederschlagsreich, ebenso die Frühlinge, die dazu kalt ausfielen; die Sommer waren kühl, und in den Erntemonaten Juli und August fielen außerordentliche Mengen an Regen.

Am schlimmsten war es, wenn zwei Jahre mit kalten Frühlings- und regenreichen Herbstmonaten aufeinander folgten. Hier besteht ein Zusammenhang mit den Jahren, in denen die Getreidepreise den höchsten Stand erreichten – 1569–1574, 1586–1589, 1593–1597, 1626–1629 und 1647–1649. Es ist mithin möglich, dass der Klimawandel die Nahrungsmittelproduktion in Teilen Europas erheblich reduziert hat. Der Einfluss der „Kleinen Eiszeit“ erreichte seinen Höhepunkt in den 1640er-Jahren: 1641 war den Klimaaufzeichnungen zufolge der drittkälteste Sommer in der europäischen Geschichte. Skandinavien verzeichnete seinen kältesten Winter 1641/42. In den Alpen wurden Felder und Häuser unter vorrückenden Gletschern begraben; in den Jahren von 1647 bis 1649 ließen sich ebenfalls klimatische Anomalien größeren Ausmaßes beobachten. Auf der anderen Seite des Globus trugen überlange Kälte- und Trockenperioden zur demographischen Krise der Jahrhundertmitte und zu den Aufständen bei, die den Sturz der Ming-Dynastie bewirkten.

Zur Erklärung wird auf die überaus geringe Sonneneinstrahlung verwiesen (die niedrigste in zwei Jahrtausenden verzeichneter Aktivität), ebenso auf große Vulkanausbrüche (zwischen 1638 und 1644 gab es zwölf davon im pazifischen Bereich, die höchste je registrierte Anzahl). Teleskope ermöglichten die Beobachtung von Sonnenflecken mit bis dahin nicht gekannter Genauigkeit. In größerer Zahl tauchten sie zwischen 1612 und 1614 auf, während 1617 und 1618 so gut wie keine zu erkennen waren. 1625/26 war ihre Zahl sehr gering, und dann wieder 1637–1639. Von 1642 bis 1644 fertigte der Astronom Johannes Hevelius täglich Zeichnungen der Sonne an, mitsamt dem genauen Ort der Sonnenflecken. Sie waren nicht zahlreich, und nach 1645 verschwanden sie bis zum 18. Jahrhundert fast vollständig. Auch das Nordlicht (die aurora borealis) blieb aus. Zudem stießen die Vulkanausbrüche Staubwolken in die Atmosphäre, die zu deren weiterer Abkühlung beitrugen und weltweit für instabile Wetterverhältnisse sorgten. Ein Ladenbesitzer in Sevilla bemerkte, dass während der ersten Hälfte des Jahres 1649 „die Sonne nicht ein einziges Mal schien … und wenn sie auftauchte, war sie blassgelb oder viel zu rot, was Furcht erregte“.

Es gab Sommer, die keine waren, und einige außergewöhnliche Klimaereignisse – Hagelstürme, sommerlichen Schneefall, lange Regenperioden –, die von den Zeitgenossen als Hand Gottes und möglicherweise das Werk von Hexen interpretiert wurden. Der spanische Agronom Lope de Dexa befürwortete ein Regierungsministerium von Astrologen, um schlechtes Wetter vorherzusagen. Die Veränderungen waren, gemessen an modernen Maßstäben, eher gering – die Temperaturen schwankten im jährlichen Mittel um zwei Prozent, die Regenmenge um zehn Prozent. Doch kann das von erheblichem Einfluss auf die Landwirtschaft und die Entstehung von Hungersnot und Krisenbewusstsein gewesen sein. Um 1650 war Europa mehr denn je vom Getreidehandel in großem Maßstab abhängig, um seine Stadtbevölkerung zu ernähren. Hinzu kam, dass die Städter dank der europäischen Kommunikationssysteme besser über drohende Gefahren informiert waren – was ihre Ängste nur noch vermehrte.

Die Auswirkungen von Nahrungsmittelknappheit ließen sich leichter erklären, wenn wir mehr über die Essgewohnheiten wüssten. Woraus die Mahlzeiten der weniger Begüterten bestanden, können wir aber nur aus dem schließen, was für die in institutioneller Obhut Befindlichen eingekauft wurde – für die Kranken in Hospitälern oder die Studenten in Colleges. Am wichtigsten war das Getreide zum Brotbacken. Brot gab es zu jeder Mahlzeit – als Laib, als Pastetenkruste, als stärkereiche Beigabe zu Suppen und Soßen. Brot gab den Menschen die Kraft zu arbeiten, es war das kalorienreichste und billigste Nahrungsmittel; Getreide lieferte sechsmal mehr Kalorien als Milch, und pro Hektar mehr Protein als Weidevieh. Das Christentum wurde geradezu definiert durch seine Abhängigkeit vom Weizen und dessen Trockenanbau, der nicht so produktiv war wie die Bewässerungskulturen, die um 1600 von 60 Prozent der Weltbevölkerung betrieben wurden.

Tagelöhner bezahlten für Brot die Hälfte ihres Lohns. Weizen galt als beste Getreidesorte für die Herstellung von Brot und Nudeln, war aber teuer, denn als „Wintergetreide“, das im Herbst ausgesät und im darauffolgenden Sommer geerntet wurde, laugte es gute Böden aus. Schlechtere Böden mussten alle drei bis vier Jahre brachliegen oder mit Kalk oder Mergel gedüngt werden, damit Weizen wachsen konnte. Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung baute Weizen an, um ihn zu verkaufen, oder vermischte ihn zum Brotbacken mit Roggen. Roggen war verbreiteter als Weizen, und beide Sorten wurden manchmal zusammen ausgesät, weil der Roggen (im Gegensatz zum Weizen) einen nasskalten Frühling überstehen konnte. Erntete man diese Kombination, erhielt man ein überwiegend aus Roggen bestehendes Mehl. Dinkel, Gerste und Hafer waren „Sommergetreide“, das im Frühling ausgesät und noch im selben Jahr geerntet wurde. Dinkel wurden vorwiegend in der Schweiz, in Tirol und Deutschland angebaut, weil er kurze Sommer ertrug. Gerste wurde in Nordeuropa vielfach zur Herstellung von Bier verwendet, während Hafer den Pferden, in Schottland und Skandinavien aber auch den Menschen als Nahrung diente.

Der Kolumbianische Austausch brachte weitere kalorienreiche Nahrungsmittel auf den europäischen Speiseplan und stärkte so die demographische Widerstandsfähigkeit. In der Gegend um die südspanische Stadt Valencia gewann aus Nordafrika importierter Reis an Bedeutung, und dieses „Marschgetreide“ fand bald in Teilen von Norditalien und Südfrankreich Eingang in die Ernährung. Mais gelangte in den 1490er-Jahren von Amerika auf die Iberische Halbinsel und wurde zunehmend in den europäischen Mittelmeerregionen angebaut. Anfänglich diente er als Viehfutter, dann machte man daraus Brot und in Italien ein feingemahlenes Mehl (Polenta). In den Cevennen wurde aus gemahlenen Esskastanien ein Nussbrot für die Armen. Doch insgesamt blieb die Haltung gegenüber Nahrungsmitteln konservativ. Henry Best, ein Bauer aus Elmswell in Yorkshire, hielt 1641 fest, wer in seinem Haushalt welche Speise aß: Weizen für die Familie, Roggen-Weizen für die Bediensteten, und dunkles Brot aus Roggen, Erbsen und Gerste für die Arbeiter.

Getreide war wichtig, weil es vergleichsweise lange lagerfähig war, während die meisten anderen Nahrungsmittel schnell verdarben. Trotzdem kam zunehmend Gemüse auf die Tische. Pastinaken, Karotten, diverse Kohlsorten und Rüben wurden zum ersten Mal überhaupt oder erstmals in größeren Mengen serviert. Viel Neues verdankte sich dem Austausch mit dem Nahen Osten, dessen Erzeugnisse einen noch größeren Einfluss auf die europäische Ernährung ausübten als die der Neuen Welt. Kürbisse, Melonen, Gurken und Zucchini gelangten als Novitäten in Europas Gemüsegärten. Salate und Artischocken, die in Rom auf den Tischen der Reichen landeten, eroberten Frankreich und die bewässerten Gärten um Valencia. Kalabrien und Katalonien dienten als Gewächshäuser für neue Sorten von Mandel-, Feigen-, Birnund Pflaumenbäumen. Getrocknete Hülsenfrüchte waren geeignet, um sich von den Jahreszeiten unabhängig zu ernähren, weckten aber nicht überall Begeisterung: „Das taugt eher für Schweine und Wild als für Menschen“, urteilte William Harrison 1587. Doch in Südeuropa linderten aus Peru eingeführte Bohnen Zeiten der Nahrungsmittelknappheit. Um 1580 schuf Annibale Carracci das Gemälde Der Bohnenesser. Es zeigt einen Landarbeiter, der vor einer Schüssel mit Bohnen sitzt und den Löffel zum Mund führt. Auf dem Tisch befinden sich auch noch Zwiebeln, Brötchen und ein Glas Wein. Die Herstellung von Sauerkraut aus Weißkohl, eine weitere Methode zur Konservierung von Gemüse, war in Deutschland und Osteuropa verbreitet. Das Kraut wurde in Butterfässern oder Steinkruken aufbewahrt, mit einem feuchten Musselintuch abgedeckt und das Ganze dann mit einem schweren Holzdeckel verschlossen. Sauerkraut war in den Wintermonaten ein wichtiges zusätzliches Nahrungsmittel. Butter, Käse und Olivenöl konnten ebenfalls gut als Vorrat gelagert werden.

Dagegen waren Fleisch und Fisch, als leicht verderbliche Ware, orts- und saisonabhängig. Frisch geschlachtetes Fleisch gab es zumeist im Frühling und im Herbst, wobei ein gewisser Teil durch Methoden wie Pökeln, Salzen, Räuchern, Würzen und Trocknen konserviert werden konnte. Daraus machte man dann Würste in einer Vielzahl von Formen, Farben, Geschmäcken und Namen. Für den französischen Dichter François Rabelais waren Würste der Höhepunkt der Küche und Gegenstand zotiger Witze. Als Handelsware aber ragte der Fisch heraus, der lediglich dem Getreide nachgeordnet war. Die Fischerei schuf Arbeitsplätze, und die Fischgründe boten als eine Art virtueller Anbaufläche (ghost acreage) eine Nahrungsreserve ohnegleichen. Der Atlantik-Kabeljau wurde gesalzen, den in Atlantik und Mittelmeer vorkommenden Lengfisch räucherte man. Aale wurden in Holland an den Schleusen der neu dem Meer entrungenen Marschen gefangen und en gros auf den Fischmärkten von Amsterdam und London verkauft. Möglicherweise trieb die globale Abkühlung die Heringsschwärme weiter nach Süden – jedenfalls wurde der Fang dadurch wesentlich erleichtert. Insgesamt waren in den Jahren bis 1650 die Fischfanggebiete des Nordwestatlantiks für den Ausgleich des durch Bevölkerungswachstum und Klimawandel verursachten Nahrungsmangels in Europa wichtiger als die Fanggründe in den amerikanischen Gewässern.

Für die Sterblichkeitsraten in dieser Epoche gibt es keine völlig überzeugenden Erklärungen. Offensichtlich ist der Einfluss der einschneidenden demographischen Krisen. Ungewiss bleibt aber schon die genaue Beziehung zwischen epidemischen Krankheiten und Unterernährung, weil wir über die Ernährung der Menschen und ihr Verhältnis zu Mikroben, Flöhen und Ratten zu wenig wissen. Es lässt sich nicht erklären, warum einige Gemeinwesen von größeren demographischen Krisen im Generationenwechsel verschont blieben, andere aber nicht. Viel hing vermutlich von den schwächsten Gliedern einer Gemeinschaft ab, die nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, und von jenen, die viel unterwegs waren und ansteckende Krankheiten von einem Ort zum anderen übertrugen. Die Ätiologie epidemischer Erkrankungen bleibt unklar, und der Einfluss von Missernten war lokal beschränkt. Europas Bevölkerungswachstum war anfällig für die Unwägbarkeiten der Naturkräfte wie auch für die kriegerischer Konflikte. In Südund Mitteleuropa wurden die Wachstumserfolge des 16. Jahrhunderts in der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts fast völlig zunichte gemacht. Die Widerstandskraft in anderen Regionen, vor allem im wirtschaftlich fortgeschrittenen Nordwesten, ließ die regionalen Divergenzen erkennen, die das Christentum in unterschiedliche Richtungen drängten.

Das verlorene Paradies

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