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Migration und Mobilität

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Besonders in den Zonen verdichteter Urbanität war die Bevölkerung ausgesprochen mobil. Krankenhausregister, Kirchengerichtsbücher, Ausbildungsverträge, Nachlassverzeichnisse, Musterungsrollen, Immatrikulationslisten, Verzeichnisse von Neubürgern und „Fremden“ lassen komplexe Migrationsmuster erkennen. Das war nicht neu, wurde aber für die weitere Entwicklung immer bedeutsamer. Die demographische Mobilität erklärt, wie die überseeischen Imperien bevölkert wurden. Im 16. Jahrhundert wanderte eine Viertelmillion Menschen von Kastilien in die Neue Welt aus, wobei die Mehrheit der Neusiedler aus jungen Männern bestand.

Die meisten Migranten aber bevorzugten kurze Entfernungen, bewegten sich gewissermaßen Schritt für Schritt vom Land in die nächste Kleinstadt und von dort aus in eine größere Metropole. Gelegentlich lassen sich diese Bewegungen rekonstruieren, wie etwa – in der zweiten Hälfte des Jahres 1562 – für 155 Hausbedienstete in der Gemeinde Romford, 22 Kilometer östlich von London: Die meisten stammten aus ortsansässigen Familien, aber ein gewisser Anteil war von weiter her gekommen. Ein Landarbeiter war als Zwanzigjähriger von Cumbria nach Romford gelangt und Yeoman (Freibauer) im benachbarten Hornchurch geworden; eine Dienstbotin war im Alter von 14 Jahren aus Kent gekommen (sie heiratete später in Romford einen Schneider). Von den Zeugen, die vor dem Kirchengericht in Canterbury aussagten, erklärten nicht einmal zehn Prozent, dort geboren und aufgewachsen zu sein. Etwas über 40 Prozent kamen aus anderen Gegenden von Kent, und weitere 28,5 Prozent stammten gar nicht aus der Grafschaft. Außerhalb urbanisierter Regionen war die Mobilität weniger stark. Im lothringischen Vézelise, einem Marktstädtchen, stammte die Hälfte der Bräute (von einem Sample aus dem Zeitraum zwischen 1578 und 1633) aus Orten, die mehr als zehn Kilometer von Vézelise entfernt waren, aber nur eine Braut von sechs heiratete einen Mann, der mehr als 22 Kilometer von der Stadt entfernt geboren war.

Die Zuwanderung in die Städte lässt sich leichter dokumentieren als die Migration in die entgegengesetzte Richtung. Doch kam es, wo immer Land urbar gemacht wurde, auch zum Wegzug aus Städten und Dörfern. Dies zeigt sich in Finnland, an den Ostseeküsten und auch in Osteuropa am Auftreten fremdsprachiger Namen. Die Ausweitung der norwegischen Küstenfischerei wäre ohne schottische und dänische Immigranten nicht möglich gewesen. Selbst in den englischen Hutewaldregionen, im Wald von Arden oder im Dorf Myddle in Shropshire (von wo uns eine detaillierte Aufstellung der Einwohnerschaft aus dem 17. Jahrhundert vorliegt), war ein Zufluss von neuen Siedlern zu verzeichnen, die eine Hütte errichteten und sich eine Existenz aufbauten. Daneben gab es zeitlich begrenzte und saisonale Migration, die für die europäische Wirtschaft essentiell war. In jedem Frühling strömten Arbeitskräfte in Mengen aus dem Binnenland in die Häfen der Atlantikküste, um auf den Kabeljauschiffen anzuheuern. Fast 60 Prozent der Mannschaften, die im 17. Jahrhundert von Amsterdam aus in See stachen, waren keine Einheimischen. Auch die Getreideernte wäre ohne Wanderarbeiter nicht möglich gewesen. Gebirgsregionen waren ein Reservoir für gelernte und ungelernte Arbeitskräfte, die in die Niederungen kamen, um Mauern zu bauen, Gräben zu säubern, die Maultierzüge zu begleiten und in der Armee zu dienen. In manchen schweizerischen Bergdörfern gab es in den Sommermonaten fast keine Männer mehr.

Die Migration war ein wichtiger Faktor in der urbanen Demographie, weil sie das Defizit ausglich, das durch die hohen städtischen Sterblichkeitsraten entstand. Dabei handelte es sich um ein typisch europäisches Phänomen – in den städtischen Regionen Chinas und Japans unterschieden sich die Sterblichkeitsraten nicht wesentlich von denen der ländlichen Umgebung, was zum Teil mit der größeren Aufmerksamkeit zusammenhängt, die man dort der Wasserversorgung, der Kanalisation und der Reinheit von Lebensmitteln widmete. In Europa dagegen sorgte Zuwanderung für den Ausgleich der Bevölkerungsverluste durch demographische Krisen. Selbst in „normalen“ Jahren bedurfte es wohl der Neuzugänge, um Geburtendefizite bei der Stadtbevölkerung wettzumachen. Mit Recht hielten die städtischen Oberschichten ihre Umgebung für gefährlich, ekelerregend und sogar schädlich – für einen großen gemeinschaftlichen Misthaufen. Die städtische Gesetzgebung verweist häufig auf die Unzuträglichkeit der Verhältnisse, insbesondere von (um aus Londoner Texten zu zitieren) „stinkendem Abfall“, „fauligen Gerüchen“, „übel riechendem Schmutz“ und „ekelhaftem und infektiösem Gestank“. In der Medizin ging man davon aus, dass ein guter Geruch einen schlechten vertreiben könne, und pries Zibet, Moschus und Ambra als hilfreiche Mittel gegen Ansteckung an.

Humanistisch orientierte Stadträte schlugen Projekte für das Gemeinwohl vor – öffentliche Brunnen mit sauberem Wasser von außerhalb, Abwasserkanäle und öffentlich finanzierte Straßenkehrer. In Paris beschäftigte der Stadtvogt Reinigungskräfte, die die Straßen fegten und den nächtlichen Unrat aus der Stadt heraus nach Montfaucon brachten. In Rom richtete Papst Clemens VII. ein Abfallamt ein, aber die Einwohner wollten es nicht finanzieren. Das war auch der Hemmschuh für viele Versuche, frisches Wasser in die Städte zu bringen: Solche Projekte kamen den Stadtsäckel teuer zu stehen, und obwohl alle die Notwendigkeit einsahen, wollte niemand dafür aufkommen.

Das verlorene Paradies

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