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Armut und soziales Gewissen

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Arm zu sein, gehörte für die meisten Menschen einfach zum Leben dazu. Armut dagegen war eine soziale Konstruktion im Gewissen der Reichen. Die Armen versammelten sich genau da, wo auch die Reichen waren, weshalb zwischen 1520 und 1560 vielerorts Stadträte ihrem Gewissen mit Anordnungen zur Bekämpfung der Armut Ausdruck verliehen. Von Nürnberg (1522) bis Straßburg (1523/24), von Mons und Ypern (1525) bis Gent (1529), von Lyon (1531) bis Genf (1535) und weiter bis Paris, Madrid, Toledo und London schaute eine Stadt, wie es die anderen machten, und übernahm, was ihr sinnvoll erschien. Diese Beispiele fanden dann Eingang in allgemeine Gesetze (1531 in den Niederlanden, 1531 und 1536 in England). Das soziale Gewissen der Stadträte erwuchs aus den humanistischen Idealen eines geordneten, tugendhaften Gemeinwesens. Schauten sie im Licht solcher Ideale auf die Straßen ihrer Stadt, sahen sie, dass viel zu tun war. Es gab viele karitative Einrichtungen, häufig in kirchlicher Hand, aber sie wurden schlecht geführt. Sie taten nichts, um die unübersehbare Zahl der Armen zu vermindern, die die Leute auf öffentlichen Plätzen und an den Kirchportalen bedrängten, auf Türschwellen schliefen, sich in den Straßen umhertrieben, um Almosen bettelten und den tugendhaften Bürger bei seinem Gewissen packten. Und da sie (wie viele glaubten) das Miasma von Krankheiten verbreiteten, bedeutete Reform auch, das Gemeinwesen hygienischer zu machen.

So jedenfalls sah es der spanische Humanist Juan Luis Vives. In seiner Schrift De subventione pauperum (Über die Unterstützung der Armen, 1526) konnte er auf seine Erfahrungen als Exilant, der (auch wegen seiner jüdischen Herkunft) von Spanien nach Brügge ausgewandert war, zurückgreifen. Seine Schrift war den Stadtvätern von Brügge gewidmet. Es sei, erklärte er, „für Christen eine Schande … so viele bedürftige Leute und Bettler auf unseren Straßen zu sehen“. Die Bürger hätten die moralische Pflicht, ihnen zu helfen, weil Armut ein den zivilen Maßstäben zuwiderlaufendes Verhalten fördere. Vives fand, dass Bettler eine Beleidigung für die Sinne seien, ein Zeichen dafür, dass die Gemeinschaft erkrankt sei. Um jedoch eine Lösung für das Problem zu finden, musste man es zunächst analysieren. Hilfsbedürftig waren, so Vives, Witwen, Waisen, Verstümmelte, Blinde und Kranke. Vielleicht benötigten sie dauerhafte Unterstützung, obwohl sie, wie er meinte, häufig in der Lage waren, selbst mehr für sich zu tun. Es sollte jedenfalls entsprechende Einrichtungen geben, die für diese Armen ein Dach überm Kopf, Essen, Unterricht, Schlafplätze und karitative Hilfe bereithielten. Vives sah auch, dass es andere Menschen gab, die zu Hause Hilfe benötigten, weil sie ins Elend geraten waren (die „verschämten Armen“ nannten sie die Zeitgenossen). Er empfahl, ihnen durch Gemeindehelfer Unterstützung zukommen zu lassen. Nun blieben noch diejenigen, die auf den Straßen bettelten. Diese „robusten Gauner“ sollte die Obrigkeit zusammentreiben und aus der Stadt jagen. Das alles klang ziemlich einfach.

Vives’ Abhandlung stand sinnbildlich für die Denkungsart eines tugendhaften Stadtrats, doch darf bezweifelt werden, dass sie direkten Einfluss auf die Politik hatte. Die Denkweise jedoch war einflussreich, und das vor allem im protestantischen Europa, wo das Almosengeben nicht mehr als Möglichkeit galt, sich Gottes Gnade zu verdienen, und wo man in den Bettelorden eine Ermutigung zu Schurkenstreichen sah. Protestantische Stadträte verboten die öffentliche Bettelei. Die Auflösung von Ordenshäusern bot Gelegenheit zu ihrer Umwandlung in Hospitäler und Schulen, so geschehen in Zürich, Genf und anderswo. In den katholischen Regionen Europas dagegen wurde am institutionellen Erbe festgehalten, samt der kirchlichen Anbindungen und dem Verantwortungsgefühl für das Seelenheil beider: der Mildtätigen wie der Empfänger von Almosen.

In Venedig waren und blieben die religiösen Bruderschaften der scuole grandi großzügig unterstützte Institutionen für das Gewissen und die karitativen Impulse der Reichen, deren Geld dem Staat zugutekam, wenn er knapp bei Kasse war. In Florenz boten zahlreiche Hospitäler den Bürgern medizinische Betreuung durch kompetente Ärzte in Einrichtungen, die sich um die Seelen der Bürger genauso kümmerten wie um ihre Körper. Andere katholische Städte folgten dem Beispiel von Lyon (1534) und wandelten ihre karitativen Körperschaften in Hospitäler um, die von Laien und Geistlichen gemeinsam verwaltet wurden und sich um all die Armen kümmern sollten. Manche katholischen Stadträte (und tridentinischen Geistlichen) folgten dem Beispiel ihrer protestantischen Kollegen, indem sie das Betteln einschränkten. Auf die Armut reagierten sie mit Einrichtungen vor allem für Waisen und ehemalige Prostituierte, aber auch mit Pfandleihgeschäften für Arme, den monti di pietà (Berge der Barmherzigkeit). Freilich ließ sich die Unterscheidung zwischen bedürftigen Armen und Faulenzern nicht lange aufrechterhalten, und die Vertreibung Letzterer aus den Städten war immer nur eine zeitweilige Maßnahme – zumal die fundamentalen Erschütterungen, die mit dem Wachstum Europas einhergingen, jene besonders hart trafen, die für Lohn arbeiteten und ihr Brot damit bezahlen mussten.

In den 1930er-Jahren führte ein internationales Komitee für Preisgeschichte bahnbrechende Forschungen durch, indem es Daten zum Tageslohn von Arbeitern sammelte. Wirtschaftshistoriker trugen die Angaben über die Löhne gelernter und ungelernter Bauarbeiter zusammen und verglichen sie miteinander bezogen auf den Silbergehalt lokaler Währungen („Silberlohn“) und auf die Menge an Getreide („Getreidelohn“), Brot („Brotlohn“) und anderen Grundversorgungsgütern, die sie von ihrem Lohn kaufen konnten. Die Ergebnisse bestätigen das Bild einer sich entwickelnden Wirtschaftsregion in Nordwesteuropa, wo die Silberlöhne hoch und gelernte Arbeitskräfte reichlich vorhanden waren. In Süd- und Osteuropa dagegen war der Trend zu höheren Löhnen (gemessen an ihrem Silbergehalt) weniger ausgeprägt, und gelernte Arbeitskräfte waren knapp. Die Löhne für gelernte Bauarbeiter waren außerhalb jener Zone besonderen Wirtschaftswachstums zwar um bis zu 100 Prozent höher als jene der ungelernten Arbeiter, während sie in der besonders entwickelten Wirtschaftszone nur um 50 Prozent höher lagen. Misst man die Löhne allerdings an ihrer Kaufkraft, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Allgemein sank die Kaufkraft der Arbeiter, die von Geldlohn abhingen, in dieser Epoche dramatisch, besonders für ungelernte Arbeiter. Die Kluft zwischen Nordwesteuropa, wo die Reallöhne gelernter Arbeiter am wenigsten sanken, und den geringer entwickelten Regionen von Süd-, Mittel- und Osteuropa, wo die Reallöhne vor allem der ungelernten Arbeiter kollabierten, war freilich riesig.

Deshalb also gab es in Europas Städten eine beträchtliche Anzahl (zwischen 15 und 30 Prozent) an Haushalten, die dauerhaft von karitativen Zuwendungen abhängig waren und damit als „arm“ galten. Es war unmöglich, sie sauber von den Vagabunden (den „gefährlichen Armen“) zu trennen, die vom Land in die Stadt kamen, ohne dass man ihnen Einhalt hätte gebieten können. In Neapel, dem Kirchenstaat, Katalonien und sogar Venedig waren Vagabunden die idealen Handlanger für Verbrecherbanden. Da sie auf dem Land geduldet wurden, gelang es Taschendieben und Auftragsmördern, noch den entschlossensten Stadträten zu entwischen. Wohlmeinende Landadlige und Gemeindevertreter setzten 1601 in England das Elisabethanische Armenrecht in Kraft. Sie taten ihr Bestes, um, wie gefordert, zwischen den wirklich Bedürftigen und den Vagabunden, „die sich nirgendwo niederlassen“, zu unterscheiden. 1630/31 machte das Book of Orders (gedruckte Anweisungen für lokale Verwaltungen, die unter anderem den Umgang mit Armen und Vagabunden regelten) noch detailliertere Vorschriften, aber ohne Erfolg. Gleichermaßen hilflos waren die Verwalter der holländischen Arbeitshäuser, die sich zum Ziel gesetzt hatten, jene sozialen Gruppen zu disziplinieren, die den Stadträten als faul, aufrührerisch und ein Affront für die Überflussgesellschaft galten.

Allerdings entsprachen die städtischen Aufwendungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Armen nur einem winzigen Bruchteil des gesamten städtischen Reichtums, und die städtische Armenhilfe war nur eine – und noch nicht einmal die wichtigste – Maßnahme zur Armutsbekämpfung. Das war vielmehr die privat betriebene Caritas. Protestantische Prediger betonten, dass Arm und Reich einander verpflichtet seien. Menschen, die die Nächstenliebe hintansetzten und ihr Geld einfach verschwendeten, wurden „poor-makers“ genannt. In seinem Treatise of Christian Beneficence (Abhandlung über die christliche Mildtätigkeit, 1600) räumte Robert Allen ein, dass einige Arme zu der „scheußlichen und versoffenen Menge“ gehörten, was aber kein Grund sei, sich nicht weiterhin karitativ zu verhalten: „Ihre Bosheit vermindert in keiner Weise deine Güte.“ Für protestantische wie katholische Moralisten ging es bei der Nächstenliebe um die Rettung von Seelen, und an Orten, wo die Religionen Seite an Seite lebten, herrschte direkter Wettbewerb. In den 1580er-Jahren wurden in Brüssel, später auch in Lyon und Nîmes, Hospitäler und Almosenhäuser zu regelrecht umkämpften Orten und die karitativen Bemühungen zu einem Vehikel, um die Gläubigen unter dem je eigenen Banner zu versammeln und Konvertiten zu gewinnen. Es erwies sich als leichter, Seelen zu retten als den Armen das Leben zu erleichtern.

Das verlorene Paradies

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