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Adlige Lebensart

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Die Adelsprivilegien waren wesentlicher Bestandteil der Ständegesellschaft und der adligen Lebensart. Je nach Region fielen sie freilich höchst unterschiedlich aus und überschnitten sich zum Teil mit den Rechten der Nichtadligen. Vor allem in den stärker ausgebildeten Staatswesen Westeuropas erodierten sie zunehmend. Oftmals waren sie Gegenstand von emotionalen Debatten, die implizit oder explizit den Adel selbst hinterfragten.

Nahezu universell war das Privileg, Waffen zu tragen, üblicherweise ein Schwert. Nichts kann der Herausforderung, welcher das Christentum sich gegenübersah, besser Ausdruck verleihen als die Verbreitung des schmalen, langen Stahlrapiers. Es war ein Leichtgewicht, wurde seitlich am Gürtel befestigt und war eher für den Hof als für das Schlachtfeld gedacht. Man brauchte Können und Übung, um es im Kampf mit einem ebenso bewaffneten Gegner einzusetzen. Spezielle Handbücher enthielten Unterweisung in der Handhabung und ab den 1570er-Jahren auch Stiche, die den Zweikampf in eine Wissenschaft verwandelten. Girard Thibaults Académie de l’espée (Die Schwertakademie) von 1626 war ein prachtvoll aufgemachter Folioband, der 46 Stiche enthielt, die Zweikämpfer in Aktion zeigten. Dennoch war ein guter Fechtlehrer unentbehrlich, und es gab von ihnen eine ganze Menge. Die besten, hieß es, seien die Italiener, die zumeist bei europäischen Fürstenhäusern in Diensten standen.

In einigen Teilen Europas wurde das Duell zum Ausdruck adligen Selbstbewusstseins. Bislang war der gerichtliche Zweikampf ein legitimes Mittel gewesen, um Händel zwischen Adligen beizulegen, wobei die Entscheidung über den Ausgang des Kampfes Gott anheimgestellt wurde. Einer der letzten Zweikämpfe alter Art war das stark beachtete Treffen zwischen François de Vivonne, Seigneur de La Châtaigneraie, und Guy Chabot, Graf von Jarnac, gewesen, das am 10. Juli 1547 in Paris stattgefunden hatte. Dagegen nahm das private Duell mancherorts geradezu epidemische Ausmaße an. Es breitete sich von Italien nordwärts nach Frankreich und von dort nach England aus, trotz aller Verbote von höchster Stelle. Das Konzil von Trient verbot es, und der französische König Heinrich III. erklärte es 1576 zu einem Kapitalverbrechen. Auch Jakob VI. von Schottland (Jakob I.) erklärten es für gesetzwidrig. Ein Pariser Tagebuchschreiber, der Jurist Pierre de l’Estoile, schätzte 1609, dass in den vorangegangenen 20 Jahren 7000 bis 8000 französische Adlige ihr Leben im Duell verloren hatten. Die Zahl mag übertrieben sein, doch schrieb er über ein Frankreich, das eben 40 Jahre immer wieder ausbrechenden Bürgerkriegs erlebt hatte – was den Adel zu Fehde und Streit nur ermuntert hatte.

De facto zeigte sich an der Verbreitung des Duells, wie ausgefeilt der adlige Ehrenkodex geworden war und welch tiefe Wurzeln er geschlagen hatte. Für seine Anhänger war es die öffentliche Verteidigung der Ehre, und da diese, wie die Jesuiten in Verteidigung des Duells argumentierten, so wertvoll ist wie das Eigentum, sollte man dazu befugt sein, sie zu verteidigen. Entsprechende Abhandlungen wurden in rauen Mengen publiziert. Die meisten waren unlesbar, wie die von Touchstone in William Shakespeares Komödie As You Like It (Wie es euch gefällt) spotteten. Tatsächlich ging es bei den meisten italienischen Duellen nicht darum, jemanden zu töten, sondern kunstvoll einen Kampf auszutragen, während die Tür zu einer ehrenhaften Versöhnung offen blieb. In einer Abhandlung von 1585 zum Thema vertrat Annibale Romei bereits die Auffassung, Duelle seien zu ächten und nicht mehr auszutragen. Darum enthält der Text auch Abschnitte über die Beilegung von Streitigkeiten sowie Formulierungshilfen, um einen Disput gesichtswahrend beizulegen.

Traditionellerweise gehörte es zu den Privilegien des Adels, keine Steuern zahlen zu müssen, doch war das kein Alleinstellungsmerkmal. Viele Nichtadlige waren ebenfalls davon befreit. Als zum Beispiel das schwedische Königshaus die Bauernschaft von Finnland oder die Bauern der pommerschen Ostseeküste dazu motivieren wollte, im Dreißigjährigen Krieg in der schwedischen Kavallerie zu dienen, gewährte es ihnen die vererbbare Steuerbefreiung auf ihren Landbesitz. Auf der anderen Seite waren durchaus nicht alle Adligen von der Steuer befreit. In der Toskana, in Venedig, in Ostpreußen und auf den Britischen Inseln zahlten sie in die Staatskasse ein, ohne dass das ihrem Adel Abbruch tat. Wo es Steuerbefreiung gab, bestand seitens der Obrigkeit verständlicherweise die Neigung, sie zu verwässern oder zu minimieren. Wenn die staatlichen Organe indirekte Steuern in Anschlag brachten, hatte auch der Adel seinen Teil zu entrichten. In Sachsen mussten die Adligen 1529, 1541/42 und 1557 auf ihren Landbesitz Steuern zahlen; 1622 waren es dann „freiwillige Gaben“, die sie an den Fiskus zu entrichten hatten. Adlige mussten Steuern zahlen, wenn sie nicht zum Dienst in der Kavallerie antraten, oder sie hatten als Kronvasallen Feudalgebühren zu entrichten. Weit verbreitet war das Phänomen, dass die Befreiung sich auf einen bestimmten adligen Besitz, nicht aber auf die Person bezog. Angesichts eines blühenden Grundstücksmarkts und der Einflüsse von Generationen adliger Erbfolge kam es immer häufiger vor, dass Status und Steuerbefreiung nicht konform gingen.

Mancherorts waren die Adligen von der Steuer befreit, weil sie dem Fürsten im Militär oder in der Verwaltung dienten, was wiederum bedeutete, dass sie Zugang zu den juristischen und medizinischen Berufen erhielten. In Spanien mussten die Laienmitglieder der Inquisition keine Steuern zahlen. In Frankreich wurde Beamten in königlichen Diensten Steuerimmunität gewährt, und in dem Maß, wie Bedeutung und Umfang des Staatswesens zunahmen, wuchs auch die Zahl der Verwaltungsbeamten. Ein Amt ließ sich käuflich erwerben, und damit zugleich die Befreiung von der direkten Steuer. Ein Hauptvorteil dieser Ämter bestand darin, dass sie von den Grundbesitz betreffenden Gewohnheitsrechten nicht berührt, sondern als „bewegliche Güter“ behandelt wurden. Ein Amt konnte also Teil einer Mitgift werden, als Kreditgarantie oder zur Schuldenrückzahlung dienen, oder einem jüngeren Sohn nützlich sein, der sonst vom Erbe ausgeschlossen geblieben wäre. Zudem war die Befreiung von der direkten Steuer vererbbar, wenn man nachweisen konnte, dass die eigene Familie drei Generationen lang adlig und steuerbefreit gewesen war. Es entwickelte sich eine neue gesellschaftliche Gruppe, die im frühen 17. Jahrhundert bisweilen auch als noblesse de robe (Amtsadel) bezeichnet wurde – nach den langen Gewändern, die Richter und hohe Beamte trugen.

Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich auch in anderen Ländern Europas, denn die Staaten mussten sich mit den veränderten Anforderungen, die an sie gestellt wurden, auseinandersetzen. Ab dem frühen 16. Jahrhundert wurden die Ratskollegien und Gerichte in Spanien mit Fachjuristen (letrados) besetzt. Dort wie in England wuchs mit der Zahl der Beamten auch die besondere Wertschätzung derer, die Macht und Einfluss am nächsten standen. Viele von Spaniens höherrangigen letrados wurden mit Adelstiteln belohnt: „Waren einstmals“, schrieb Don Diego Ramirez de Prado 1641 an einen seiner Brüder, „die Granden bedeutender als die letrados, so sind jetzt diese zu Granden geworden.“ Er wusste, wovon er sprach, denn ein weiterer Bruder, Don Alonso, ein Mitglied des Ratskollegiums von Kastilien, hatte die Erhebung in den Adelsstand und die Vorteile des Amtes genießen dürfen, bevor er 1607 wegen Unterschlagung verhaftet wurde. Der Aufstieg der Beamtenfamilien stellte das traditionelle Bild vom Adelsstand infrage. Diese Familien sahen sich als einen Adel, der statt auf Tapferkeit auf Tugend setzte. Einen Adel, der die durch humanistische Bildung vermittelte Übung in Selbstdisziplin höher schätzte als die Selbstverteidigung mittels Rapier. Und diese Bildung stand allen offen, die Talent besaßen. Adliger Abstammung sein mussten sie nicht.

Das verlorene Paradies

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