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Adel nach Zahlen

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Es ist nicht einfach, den europäischen Adel vor 1650 zahlenmäßig zu erfassen, zumal regionale Unterschiede so beträchtlich wie unerklärlich sind. In der Gegend um Alençon gab es eine relativ hohe Adelsdichte (1667 waren es 230 Adlige auf 1000 Quadratkilometer). Sie war fünfmal so hoch wie im benachbarten Anjou und übertraf gar das Limousin um das 16fache. Insgesamt gehörte Frankreich neben Deutschland, Böhmen, Niederösterreich, den Niederlanden und Italien zum Kernland des Christentums, wo der Adel keinen großen Anteil an der Bevölkerung darstellte. Von ein paar Ausnahmen abgesehen (wie etwa dem Baskenland und Navarra) machte er im Allgemeinen nicht mehr als fünf Prozent der Bevölkerung aus, meist weniger – und manchmal nur rund ein Prozent. Die europäischen Republiken waren in Bezug auf die Erhebung in den Adelsstand besonders zurückhaltend. In Venedig war der Adel zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Kaste von lediglich 28 Clans hoher Abstammung, deren Status dadurch bewahrt wurde, dass nur einige wenige Auserwählte im 1577 eingerichteten „Goldenen Buch“, dem Adelsregister, Aufnahme fanden. Die Schweizer Kantone, einige Stadtstaaten (wie Genf) und Balkanregionen (vor allem Serbien und Bulgarien) behaupteten, gar keinen indigenen Adel zu besitzen.

An den Rändern des Christentums war der Adel zahlreicher, doch bildete die Notwendigkeit, es gegen äußere Feinde zu verteidigen, nur einen Grund für dieses Phänomen. Dazu kam, dass die Peripherie keine feudale Oberherrschaft kannte, sodass der Adel sich nicht durch die rechtlichen Beschränkungen einer Lehnsbaronie beeinträchtigt sah. In einigen Gegenden im Osten winkte die gruppenweise Erhebung in den Adelsstand als besonderes Privileg, um die Grenzgebiete für Siedler attraktiv zu machen und ihnen militärische Verpflichtungen auferlegen zu können. In anderen Regionen wuchs die Zahl der Adligen, weil der Staat zu schwach war, die Verleihung von Titeln zu kontrollieren. In Kastilien sorgten Gemeinden für Adelszuwachs, indem sie einen Haushaltsvorstand gegen Zahlung einer Gebühr zum caballero villano (gemeinen Ritter) machten, der damit im Gemeinderegister von der Steuer befreit war.

In Grenzregionen mit geringerer Bevölkerungsdichte konnte der Adel seinen prozentualen Anteil an der Bevölkerung halten oder gar steigern. 1591 machten Adlige in den nordspanischen Provinzen Burgos und León mehr als 46 Prozent der Bevölkerung aus, und in Städten wie Burgos selbst stellten sie die Mehrheit. In den polnischen Gebieten Masuren und Podlachien betrug der Anteil mindestens 20 Prozent. Es gab Orte (allein in Masuren mehr als 1600), wo ganze Dörfer nur von adligen Pächtern bewohnt und bewirtschaftet wurden. Die Aufgliederung der Pachtgüter als Resultat von Realteilung führte jedoch dazu, dass es Adlige fast ohne Land beziehungsweise – was die Sache noch paradoxer erscheinen lässt – Bauern mit Adelsstatus gab.

Etwas Ähnliches widerfuhr dem zunehmend zahlreicheren Adel in Ungarn. In den Jahren nach der türkischen Besetzung der Gebiete an der unteren Donau (1526) erhoben die in Westungarn herrschenden Habsburger all jene in den Adelsstand, die bereit waren, als Kavalleristen im Kampf gegen die Osmanen Dienst zu leisten. So wurden Leibeigene über Nacht zu Adligen. Aber das Donaubecken gehörte zu den europäischen Regionen, in denen das Gewohnheitsrecht sämtliche direkten Nachkommen durch eine extreme Form der Realteilung schützte. Töchter wie Söhne waren gleichermaßen erbberechtigt und konnten bis zu einem Viertel des Gutsbesitzes beanspruchen. Zudem machte es das Gewohnheitsrecht äußerst schwierig, den Besitz zu verkaufen oder mit einer Hypothek zu belasten. So ging es wie in Polen: Viele ungarische Adlige standen ohne Land da und mussten sich als Söldner, Händler, Handwerker oder Diener anderer Adliger verdingen. Da „niedere“ Arbeit ausnahmslos als mit dem Adelsstatus unvereinbar galt, endeten viele dieser Adligen als Pachtbauern, die ebenso wenig wie der Nachbar in der Lage waren, mit ihrem Namen zu unterschreiben. Je stärker ihr Vermögen dahinschwand, desto mehr klammerten sich diese niederen Adligen an das, was sie als ihr kulturelles Kapital ansahen. Besessen von den kriegerischen Mythologien der Vergangenheit (Magyaren, Sarmaten, Rus) lebten sie in ihren bescheidenen reetgedeckten Häusern und blickten misstrauisch in die Welt hinaus.

Ein augenfälligerer Wandel vollzog sich in Europas höherem Titularadel, auf der Ebene der Herzöge und Peers. Vor 1500 waren solche Adelstitel bestenfalls als Sonderrecht an Mitglieder der königlichen Familie verliehen worden. Wenn ein Staat jedoch in den 1630er-Jahren neuen Familien Zugang zu den oberen Adelsrängen gewähren wollte, waren sie das Mittel der Wahl. Das Anwachsen des Hochadels war geradezu das Resultat fürstlicher Bemühungen, den Adel unter Kontrolle zu halten, und aus Sicht des Fürsten durchaus von Vorteil. Adelspatente kosteten die fürstliche Schatulle nichts. Eher war das Gegenteil der Fall, konnten sie doch verkauft oder als Lohn für geleistete Dienste erteilt werden. So kam es zu einer Inflation von Ehrentiteln, ganz in Analogie zu dem, was mit den Währungen geschah: Es vollzog sich eine fortschreitende Entwertung dessen, was „Ehre“ wert war.

In einigen Ländern (Ungarn, Schweden, Dänemark) wurde der Titularadel erstmals eingeführt, in anderen massiv ausgeweitet. In England verkaufte das Königshaus zu Beginn des 17. Jahrhunderts Baronets- und Peerswürden in Hülle und Fülle, und König Jakob I. verdreifachte die Anzahl der englischen Ritterschaft. In Frankreich führte die Vermehrung des Hochadels auch zur umstrittenen Erhebung ausländischer Familien. Wer dem König in den Bürgerkriegen des späteren 16. Jahrhunderts gedient hatte, konnte – statt einer Bezahlung – Mitglied im „Ordre de Saint-Michel“ (Michaelsorden) werden. Die daraus resultierende Entwertung des guten Rufs der Ritterorden und die Opposition unzufriedener Adliger gegen seine Herrschaft veranlassten den letzten König aus dem Haus Valois, Heinrich III., 1578 zur Gründung des „Ordre du Saint-Esprit“ (Orden vom Heiligen Geist), dem nicht mehr als 100 Personen angehören durften. In Spanien begann die Ausweitung des Titularadels in den 1520er-Jahren (grandes und títulos; mit deren Seitenlinien, den segundones oder mesnaderos). Die Anzahl der Ritter (caballeros) in den drei Militärorden wurde ebenfalls heraufgesetzt. Diese wohlhabenden Institutionen hatten das Recht, über die Aufnahme einer Person als Ordensritter zu entscheiden, was die wesentliche Anforderung der Adligkeit (hidalguía) garantierte. Der Stand des hidalgo wurde allgemein angestrebt, weil die Generalkapitel der Orden von den Bewerbern lückenlose Beweise verlangten, dass kein jüdisches oder maurisches Blut in ihren Adern floss; auch durften in ihrem Stammbaum keine Opfer der Inquisition vertreten sein. Die Mitgliedschaft in einem Militärorden verbesserte wiederum die Aussicht auf eine gute Heirat erheblich. Da jedoch ein Reich zu verteidigen war, gaben Philipp IV. und sein Erster Minister, der Conde-Duque von Olivares, die Mitgliedschaft in den Orden zum Kauf frei. 1625 teilte Philipp dem Kronrat mit: „Ohne Belohnung und Bestrafung kann keine Monarchie erhalten werden. Nun können Belohnungen entweder finanzieller oder die Ehre betreffender Art sein. Geld haben wir nicht, und so dünkte es uns richtig und notwendig, diesen Mangel durch die Mehrung der Anzahl der Ehren zu beheben.“ Olivares erklärte, die Privilegien würden jene erhalten, deren Verdienste sie ohnehin als adelswürdig hätten erscheinen lassen. Doch die Prüfung der Blutsreinheit wurde laxer gehandhabt, und die darauf einsetzende Kritik richtete sich gegen die Monarchie selbst als die Verderberin des Adels.

In vielen Ländern Europas stammte das Sahnehäubchen auf den Einkünften des Titularadels weitaus häufiger vom Staat, als dies bei den übrigen Adeligen der Fall war. Trotz ihres Landbesitzes hingen die Einnahmen der Aristokratie zunehmend von der Vergütung für Hofämter, Gouverneurstätigkeiten, Statthalterschaften und anderen lukrativen Quellen ab, wie etwa der Leitung von Konsortien zur Steuereintreibung oder der Spekulation mit Schuldenpapieren der Regierung. Die Aristokraten suchten auch nach einer eigenen politischen Identität. In den Staaten, wo der Adel in den Ständeversammlungen bereits zwei Delegiertenkammern besaß (in Aragón, Ungarn und Böhmen), beanspruchte der Titularadel exklusiven Zugang zur Oberen Versammlung. Im schwedischen Reichstag waren die Adligen ab 1626 nach Hierarchie in drei Gruppen geteilt, von denen jede separat abstimmte. Im schottischen Parlament saßen gegen Ende des 16. Jahrhunderts lairds (niederer, untitulierter Landadel) und peers (Titularadel) getrennt voneinander, wenngleich in derselben Versammlung. Die Angehörigen des niederen Adels betrachteten die höherrangigen Höflinge und Magnaten stets und überall mit Misstrauen. In Polen tat sich der niedere Adel im Verlauf der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu militärischen Bündnissen zusammen und nutzte den Sejm (das polnische Parlament) und die Sejmiks (die regionalen Adelsversammlungen), um das Königshaus zu zwingen, Kronländereien wieder in seinen Besitz zurückzubringen, die zuvor an die Magnaten verkauft worden waren. Von 1548 bis 1563 erlebte die Bewegung gegen die Magnaten ihren Höhepunkt, wodurch der niedere Adel eine politische Zielvorstellung gewann.

Innerhalb des Adels ging die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander als in der übrigen Gesellschaft. Die strukturelle Folge des Missverhältnisses zwischen adligem Status und Reichtum war die Verarmung von Teilen des Adels. Die politischen Probleme, die damit einhergingen, wurden durchaus gesehen und zunehmend deutlicher angesprochen. „Ein zahlreicher Adel führt zu Armut“, schrieb Francis Bacon 1605, „denn er überlastet die Ausgaben; und da zudem viele Adlige mit der Zeit unabwendbarerweise ihres Vermögens verlustig gehen, kommt es zu einem Missverhältnis zwischen dem Stand der Ehre und den verfügbaren Mitteln.“ Falstaff und Don Quijote waren Figuren, über die man sich lustig machen konnte, was zeigte, wie weit der Adel zur Zielscheibe des Spotts geworden war. In Lope de Vegas Schauspiel Fuenteovejuna (1612–1614) töten wütende Bauern aus dem gleichnamigen Dorf (das jetzt Fuente Obejuna heißt) den örtlichen Grundherrn, Fernán Gómez de Guzmán (ein Großkomtur des Ordens von Calatrava), um sich für seine Übergriffe zu rächen. Die von Vega geschilderte Handlung war weniger schwarze Komödie als vielmehr ein Kommentar zu den sozialen Verhältnissen. Im Südwesten von Korsika beharrte eine Handvoll lehnspflichtiger Adliger auf ihrem Recht, zugunsten der Republik Genua (zu der Korsika gehörte) von ihren Bauern Steuern einzutreiben. Dabei nutzten sie ihre isolierte Lage fern vom Machtzentrum, um die Bauern nach Belieben ausbeuten zu können. Von ihren befestigten Gutshöfen aus suchten die Clans der Bozzi, d’Ornano und Istria Streit, stahlen Schafe und quetschten aus der Bevölkerung heraus, was immer nur ging. Genua stellte sich taub und blind, bis im August 1615 der Hof der Bozzi in Brand gesteckt und einige Angehörige des Clans von den Bauern abgeschlachtet wurden. Hier wie auch anderswo: Wann immer der Staat mit seinen Untertanen vor Ort in Streit geriet, gab es unter seinen Gegnern stets auch eine Rolle für den Adel (ob er unter Zwang handelte oder bereitwillig mittat, ist oft schwer zu beurteilen), der alteingesessen, von beträchtlichem lokalem Ansehen und auch Anspruch war, aber verarmt, respektlos gegenüber Recht und Gesetz und von dem Gefühl getrieben, dass die Welt ihm etwas schuldig sei.

Das verlorene Paradies

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