Читать книгу MIXTAPE STORIES - Markus Gleim - Страница 10
8. Another Brick In The Wall
Оглавление(Pink Floyd)
Eines der ersten Konzeptalben, welches auf meinem Plattenspieler landete. Sicher nicht, weil es ein Konzeptalbum war, ich wusste damals noch gar nicht, was das war. Sondern weil da ein Lied drauf war, das uns Kindern und Schülern tief aus der Seele zu schreien schien: „Hey teacher leave us kids alone.“ „Hey, ihr Lehrer, lasst uns Kinder doch in Ruhe ...“ „All in all you´re just another brick in the wall ...“ „So insgesamt seid ihr doch nur ein weiterer Stein in der Mauer ...“ Ja, noch treffender hätte man es nicht beschreiben können, was wir damals dachten. Weg! Verschwindet! Get outa my way, teacha! Right in the face, bitch!
Vielleicht kann ich Ihnen anhand dieses Liedes den Augenblick erklären, in dem ein pickliger und pubertärer Teenager verstand, dass man durch Musik Emotionen erzeugen kann. Allerdings muss ich gleich zu Beginn sagen, dass ich dank meiner Mutter, die mir von Kindesbeinen an bis zu meiner Pubertät jeden Morgen eine Ladung Boxhornklee in mich hinein schoss, nie ein pickliger Bursche war. Wie alle anderen 11-jährigen Schüler, quälte ich mich morgens aus dem warmen Bett heraus, machte mich fertig und ging zum Frühstücken mit der Familie in die Küche. Und obwohl ich es wusste, denn es war seit Jahren ein festes Ritual in der Familie Gleim, warf mich meine Mutter zu Boden, band mir in Sekunden die Arme und Beine auf den Rücken und rammte mir ein glühend heißes Brenneisen auf die linke Arschbacke, das mich als Eigentum der Familie Gleim kennzeichnete. Dann durfte ich zurück zur Herde, der anderen Gleim-Tiere und bekam ein trockenes Brötchen und eine Tasse warme Milch. Danach musste ich meine zwei Löffel Boxhornklee abholen. Ich sehe ihn noch heute vor mir, dieses kleine Krämerlädchen, gleich an der Ecke Danziger- und Ruhrstraße, nahe der Großmutterwiese, in das mich meine Mutter jeden Freitag schickte. Der immer freundlich dreinschauende Verkäufer, mit seinem weißen Hemd und einer grünen Schürze, die er vor seinem dicken Bauch mit einer Schleife zusammengebunden hatte, schien immer nur auf mich zu warten, so dachte ich damals, wenn ich in den Laden kam: „Storck Riesen bitte, Frau Lange“, sagte ich zu dem dicken, gütig lächelnden Mann und den ersten Storck Riesen aß ich immer gleich im Laden: „Hör zu, Kleiner“, sagte der dicke Verkäufer: „Jeden verdammten Freitag kommst du mit demselben Scheiß-Spruch über diese Storck-Riesen zu mir. Irgendwann knall ich dir so eine, dass du drüben bei Lohmanns durch´s Schaufenster fliegst. Boxhornklee sollst du holen, hat mir deine Mama gesagt, hörst du? Boxhornklee. NUR Boxhornklee. Himmel, Arsch und zugenäht.“ Der dicken Mann hinter dem Tresen reichte mir mit zornig rotem Kopf ein braunes Papiertütchen, gefüllt mit einem Pfund dieser bräunlichen, Kräutermischung und zeigte wortlos auf die Ladentüre.
Boxhornklee wird in ein feines braunes Pulver zermalen und ist eigentlich absolut geruchs- und geschmacksneutral. Es wurde über Nacht in Wasser eingeweicht und dieses eigentlich absolut geruchs- und geschmacksfreie Pulver verwandelte sich in den Stunden in Matschepampe, die in etwa die Form und Konsistenz von Baby-Kacka annahm. Es war eine breiige, dicke, graue Masse, die in jeder Beziehung eklig war. Hätte man mir erzählt, dass man mit dieser Masse irgendwo in der Kalahari-Wüste die Hütten der Eingeborenen abdichten würde, hätte ich das eher geglaubt, als dass dieses Zeug gut gegen jugendliche Pubertätspickel war. Das Schlimme daran war ja gar nicht das dünnschissartige Aussehen, nein, der dünnschissartige Geschmack, war das Schlimme daran. Aber ich muss fairerweise zugeben, dass aufgrund dieser breiigen Baby-Kacka-Masse die Zeit eines pickligen Schülers vollkommen spurlos an mir vorüber ging. Nun gut: Baby-Kacka soll jetzt aber wirklich nicht im Mittelpunkt der folgenden Zeilen stehen.
Ich glaube, das erste Mal, dass ich einem Musiker wirklich bewusst beobachtet und ihm zugehört habe, war während eines Urlaubs, den ich mit meinen Eltern zusammen verbracht habe. Mit dem Wohnmobil rumpelten wir für drei Wochen auf einen Campingplatz in den schönen italienischen Badeort Bibione, in der Nähe von Venedig, an der Adria. Einmal in der Woche spielte abends im Restaurant des Campingplatzes ein italienischer Alleinunterhalter, um die ganzen blassen Urlauber mit seiner Orgel zu unterhalten. Ein beeindruckend großes Instrument hatte der Bursche da, alle Achtung. Aber auch die weiße Orgel, die der Herr sehr geschickt bediente, war bemerkenswert, mein lieber Herr Gesangsverein. Mit mehreren Klaviertastenreihen übereinander und es schien selbständig den Rhythmus zu spielen. Beidfüßig stapfte er auf am Boden liegende Tasten herum. Beinah leichtfüßig schien er darauf zu tanzen und entlockte dem Gerät damit zusätzlich noch tiefe Töne. Das Ganze tat er auf Socken, während seine glänzenden, schwarzen Lackschuhe ordentlich nebeneinandergestellt, rechts der Orgel auf ihn warteten. Mit schlechtem Englisch, holperte sich der italienische Orgelspieler durch den Pink Floyd-Klassiker „Another Brick In The Wall“ und schien dieser Orgel unendlich viele Instrumente entlocken zu können. Faszinierend, was dieses Ding alles konnte. Aber was wusste ich denn schon von Tasteninstrumenten, geschweige denn von Orgeln? Ich kannte so normale Keyboards, aber das war es auch schon. Ach ja und ich hatte im Fernsehen mal Franz Lambert gesehen, wie er mit seiner riesigen Wersi-Orgel über die Laufbahn des Fußballstadions fuhr und die FIFA-Hymne spielte. Erinnert sich noch wer daran? Wow. Wer hätte gedacht, dass so eine Riesen-Orgel sogar selbständig fahren kann? Hammer oder? Wie geil war das denn bitte? „Wo man singt, da lass Dich nieder, denn böse Menschen singen keine Lieder“, so sagt ein altes Sprichwort. Warum also sah man nicht öfters Menschen auf ihren Orgeln umher fahren? So im normalen Straßenverkehr zum Beispiel. Stellen Sie sich vor, bei der Anmeldung zum Autoführerschein würde man der Sekretärin sagen, man würde gerne den Auto- und den Motorradführerschein machen und den Orgelführerschein bitte gleich mit dazu? Vielleicht könnte man sie im öffentlichen Nahverkehr nutzen? „Einmal die Orgel Nr. 9 zum Waldschwimmbad, bitte.“ Oder die ganzen Straßen-Kaffee-Kevins, die Protzer, die mit ihrer Karre am liebsten noch bis in den Biergarten hinein fahren würden, könnten abends vor dem Biergarten noch mal kurz den C-Dur Akkord aufheulen lassen, bevor sie sich sportlich aus dem Wersi Louvre GS1000 Cabrio schwingen und ein eiskaltes Schöfferhofer-Grapefruit aus der Flasche nuckeln würden. Muuaaaharrharr … ja, ja, is ja gut. Ich hör ja schon auf. Nee, warten Sie, einen noch. Frau Merkel würde beim g-Moll-Gipfel mit ihrer schwer gepanzerten, schwarzen Wersi Delta Limousine vorrollen … hahahaharrharrharrgrlumpf ...
Erst später, als ich mich wirklich intensiver mit Musik und Instrumenten befasste, lernte ich, dass solche Orgeln mehrere Manuale und eine Rhythmusmaschine, beziehungsweise einen Drumcomputer besaßen und dass die Bassbegleitung mit Fußpedalen gespielt wurde, die genau wie die Klaviertastatur angeordnet war. So wie bei einer Kirchenorgel.
Damals konnte mich die Idee, eventuell sogar mehrere Instrumente spielen zu können, noch nicht begeistern. Ich hatte ja gerade mal begonnen, etwas auf der Gitarre zu zupfen und hatte beschlossen, Rockstar zu werden, da konnte ich ja nicht gleich noch anfangen, ein weiteres Instrument zu spielen. Aber an diesem Abend war das echt swag, was der italienische Pianista da ablieferte. Viele Jahre später, als ich schon ganz gut Gitarre spielen konnte, hätte ich einen Auftragsmord dafür begangen, nur halb so gut Klavier spielen zu können, wie der Orgel-Mann. Aber die Gitarre hatte eben im Gegensatz zum Klavier den Vorteil, dass man sie überall mitnehmen konnte.
Aber egal, ob Orgel, Gitarre oder Kettensäge, wirklich wichtig war, und das habe ich an diesem Abend gesehen und gespürt, man konnte mit einem Instrument und den richtigen Liedern, eine Glut zum Glimmen bringen, und wenn man es versteht, diese Glut vorsichtig zum richtigen Zeitpunkt, mit den richtigen Liedern zu befeuern, konnte man ein Feuer der Emotionen entfachen. Mit vielleicht zehn bis fünfzehn Liedern kann man jede langweilige Party anschieben. Man kann mit Leuten, die sich auf dieses Spiel mit den Flammen einlassen, einen ganz besonderen Abend erleben, einen Moment, an den man sich im besten Fall noch Jahre später erinnert. So wie bei anderen Leuten damals der Reservekanister im Auto lag, lag immer eine Gitarre auf der hinteren Sitzbank und irgendwann saß ich immer irgendwo mit ein paar Leuten und sang meine Lieder mit ihnen zusammen. Warum dann oft die Damen in meinem Liederzirkel saßen, kann ich nicht sagen. Vielleicht, weil sie für solche Emotionen empfänglicher waren, vielleicht, weil sich Frauen schneller trauten, mitzusingen. Vielleicht auch nur aus reinem Trotz, denn ebenso oft standen die Jungs hackebreit irgendwo anders herum und lallten sich faszinierende Fußball-, Auto- oder Frauengeschichten zu. Meistens waren diese Jungs in Kombination mit ihren Scheiß-Geschichten auch genau der Grund dafür, warum die Damen bei mir saßen und mit mir sangen. Es ist nur wichtig, den Bogen nicht zu überspannen. Es gibt so ein Maß an Toleranz, verstehen Sie, über das man nicht hinaus sollte. Einmal erschien so ein betrunkener Freund der Mädchen, beide Daumen in den Gürtel gehackt, wie ein Cowboy kurz vorm Duell und fragte latent aggressiv und leicht provozierend: „Machstde da unsre Mädels klar, odawas?“ „Nöö, ich spiel halt nur so ein bisschen, weißte? Alles okay“ „Watt heißtn allesok? Nixisok, du Arschpilot. Ichhaudia gleichn Kopp vom Hals“ drohte der Bursche hin und her schwankend: „Das geht aber nicht“, widersprach ich mutig: „Wattgehtnich, Arschpilot?“ „Na, das ist physikalisch gar nicht möglich, dass du mir den Hals vom Kopf ….“ Als der Bier-Asi, ziemlich schlau, wie er sich vorkam, mit Wucht den Deckel des Klaviers zuschlug, hielt ich es für das Sinnvollste, mal vorsichtshalber mit schmerzverzerrter Mine ein langgezogenes: „Aaaarrrgh“ zu brüllen. Irgendwie zufrieden grinsend wankte er zurück zu seinen Kumpels, dass ich zwar auf dem Klavierhocker saß, dabei aber Gitarre und nicht Klavier spielte, schien er nicht zu bemerken. Gut für mich. Als er zu den anderen Party-Tieren sagte: „Kommaher, hier. Der Klavier-Arschpilot machtdawas mit uns´ren Tussis“, verließ ich mit quietschenden Reifen den Parkplatz vorm Haus.
An dem Abend auf diesem italienischen Campingplatz habe ich das erste Mal gesehen und gehört, was ich irgendwann mal erreichen wollte, wenn ich Gitarre spielte. Emotionen. Der Orgelspieler erzeugte mit seinem Instrument und den Liedern, die er sang, Emotionen bei den Leuten. Spaß, Freude, Begeisterung, möglicherweise auch schöne Erinnerungen. Mir gefiel diese Vorstellung.