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9. Polonäse Blankenese
Оглавление(Gottlieb Wendehals)
Wenn in der Weihnachtszeit „Last Christmas“ von Wham in allen Radiostationen hoch und runter gedudelt wird, muss ich automatisch an „Hier fliegen gleich, die Löcher aus dem Käse“ denken. „Polonäse Blankenese“ ist ein Faschingslied, ja, ich weiß, aber bei mir fängt da im Kopfkino ein ganz anderer Film zu laufen an. Schon seit vielen Jahren, um genau zu sein, bis heute, trafen sich die Familie und die Verwandtschaft immer am Heiligen Abend bei Tante Lore in Kamp-Lintfort. Das war eine Familientradition, der sich keiner widersetzen konnte. Wir Kinder liefen auf dem zugefrorenem Kohlenhucker Badesee Schlittschuh und die Erwachsenen standen an der Trinkhalle Süderupp. Irgendwie hatten alle Weihnachten bei Tante Lore was einzigartiges und legendäres an sich, denn das Leben und die Menschen in Kamp-Lintfort waren ganz anders und fern von meinem Leben in Aschaffenburg. Aber ein Weihnachtsfest war so abgedreht, dass selbst Jesus vom Kreuz gekippt wäre, wie Tante Lore behauptete.
Um das nun Folgende besser verstehen zu können, muss man wissen, dass bei Tante Lore daheim eigentlich alle Fragen der Welt, alle Neuigkeiten rund um die Familie und die Verwandtschaft, mit einem Eierlikör begossen wurde. Genau genommen brauchte es meistens noch nicht mal einen richtigen Grund, irgendwie gab es immer irgendeinen Vorwand, sich einen Ei Ei Ei Verpoorten annen Kopp zu kloppen.
24.12., so ab 15:00 Uhr
Den ganzen Nachmittag über trafen neue Familienmitglieder und Verwandtschaftsangehörige in unregelmäßigem Abstand ein. Alle wurden mit dem gleichen Ritual begrüßt: Tante Lore kam mit einer Flasche Eierlikör und ein paar Gläsern direkt ans Auto und fragte: „Naaa? Likörchen ...?“
Opa Farmsen und sein Kumpel Äwin, beide über 70 und nicht mehr so gut auf den Beinen, surrten mit ihren Elektrorollstühlen am frühen Nachmittag das Erste mal zum Altglascontainer.
19:30 Uhr: Die gesamte Familie bereitete sich mit weiteren drei Flaschen Verpoorten auf die heilige Messe vor. Da kein geeignetes Fahrzeug für die beiden Rollstühle da war, wurden sie einfach auf einen Doppelachsigen Pferde-Anhänger ge-schoben und man verzurrte Opa Farmsen und Äwin fest mit ihren Rollstühlen. Ja, Sicherheit wurde auch in Kamp-Lintfort schon seit jeher groß geschrieben. Man ließ für die beiden im Anhänger das Licht an, damit sie sich unterhalten konnten, gab ihnen eine Flasche Likör … so wegen der Kälte … und hängte den Anhänger an ein Großraumtaxi und fuhr dann gemeinsam zur katholischen Kirche „Maria Immaculata zur heiligen Empfängnis“.
19:45 Uhr: Ankunft an der Kirche.
19:55 Uhr: Die Verwandtschaft marschierte laut singend: „Hier fliegen gleich, die Löcher aus dem Käse, denn nun geht sie los die Polonäse….“, in einer Reihe in die Kirche ein, wo sie sofort vom Küster Paul Öckerlohe abgefangen und geschlossen aus dem Gottesdienst geworfen wurden. Opa Farmsen protestierte noch: „Nä, nä, datt kann Gott nich gewollt haben, datt ausgerechnet du Arschloch uns ausse Kirche schmeist, hömma“ und warf in schneller Folge, drei leere Flaschen Eierlikör Richtung Pfarrer Uftring, die aber alle an dem schön verzierten Altar klirrend zerbarsten. Der 16-jährige Ministrant Malte übergab sich in das Taufbecken.
20:30 Uhr: Der gesamte Familien-Clan zog randalierend durch die „Glück auf, Bergmann“-Siedlung zurück nachhause und hinterließ dabei eine Spur der Verwüstung. Abfalleimer und Mülltonnen wurden mit Gehhilfen brutal umgefahren, man schlug mit Krücken und Gehstöcken Seitenspiegel ab und Rückleuchten ein. Ein parkender Audi A4 wurde kurzgeschlossen und mit voller Absicht inne Torfkuhle Brückerheide versenkt. Tante Inge zeichnete Bärte und Teufelshörner auffe Gesichter der Bürgermeisterwahl-Plakate. Da sie jedes einzelne Plakat persönlich signierte, konnte später die Schuldige schnell ermittelt werden.
21:00 Uhr: Als die Familie zurückkam, stand der 92-jährige Kurt, wackelnd in Tante Lores Wohnstube auffe Tretleiter und versuchte den Weihnachtsengel auffe Spitze vonne Blautanne zu setzen. Erwartungsgemäß verlor Kurt irgendwann das Gleichgewicht und fiel vornüber innen fertig geschmückten Weihnachtsbaum. Echte Kerzen hatten zwar schon immer einen schönen, warmen Glanz verbreitet, aber die ätherischen Öle des Baums und die alte, abgestandene Luft aus dem Wohnzimmer, der Duft ungepflegter Schweißmauken und der „Alte-Leute-Muff“, entzündete sich mit einem dumpfen „WUFF“ und die alten, schweren Brokatvorhänge fingen schon nach erstaunlich kurzer Zeit Feuer.
21:00 Uhr: Zur gleichen Zeit spielte der Rest der Verwandtschaft inne Wohnküche Lügen-Pasch und trank Eierlikörchen direkt ausser Flasche.
Laut „Feuer, Feuer“ rufend, tapperte Kurt irritiert über die vierspurig ausgebaute B40.
21:15 Uhr: Opa Farmsen und sein Kumpel Äwin rollen das Zweite mal an diesem Tag zum Altglascontainer.
21:20 Uhr: Die Flammen breiteten sich für alle überraschend rasend schnell aus und schon nach etwa zehn Minuten explodierte der gesamte Eierlikörvorrat, in einem separatem Wellblechschuppen mit einem ohrenbetäubenden Knall. Ein Feuerball stieg 20 Meter über dem Haus auf und der kleine Wellblechverschlag verschwand senkrecht nach oben in der dunklen Nacht.
In der gesamten Horst Hrubesch-Siedlung … ging mit einem Schlag das Licht aus.
21:23 Uhr: Keine drei Minuten später rückte die Freiwillige Feuerwehr Kamp-Lintfort und die Berufsfeuerwehr Moers mit insgesamt sechs Fahrzeugen aus. Bei der Anfahrt zum Haus fuhr sich der Tanklöschtransporter fest und verkeilt sich hoffnungslos zwischen zwei SUVs. Alle anderen Einsatzfahrzeuge mussten einmal ums Karree, ein kurzes Stück über die neue B40, wo sie den völlig orientierungslosen Kurt aufsammelten, am alten Förderturm der Zeche „Carl-Friedrich-Brockhauser“ vorbei, um von hinten an das Haus zu fahren.
21.25 Uhr: Der Wellblechschuppen schlug rotglühend mitten am Kamp-Lintforter Kreuz auffe Autobahn und riss ein kreisrundes Loch in die Autobahnbrücke. Schon nach einer Viertelstunde stauten sich die Autos in alle Richtungen rund 10 Kilometer zurück. Vollsperrung auffer A57.
21:30 Uhr: Der Neufelder Badesee lag zu weit weg, um Löschwasser anzusaugen, also wurde kurzerhand das Hallenbad der Gesamtschule Ossenberger Schleuse leergepumpt. Die Seepferdchenprüfung der Grundschüler verschob sich dadurch um eine Woche. Da sich die Löscharbeiten des Hauses verzögerten, entschloss sich der Zugführer Rudolf Tegmann dazu, das Haus kontrolliert abbrennen zu lassen.
21:44 Uhr: Opa Farmsen erwies sich in dieser Situation als wahrer Held. Mit seinem Elektrorollstuhl fuhr er furchtlos dreimal in die Flammen. Äwin sperrte die Straße für den Verkehr komplett ab, indem er seinen Rollomat 200 auffer Straße quer stellte und immerfort: „Tatüü-Tataaa … hier kommt die Feuerwehr“ rief. Todesmutig zog Opa Farmsen trotz des lädierten Rollstuhls drei Gäste ausser Feuerhölle, bis der Akku des Rollstuhls komplett mit der Antriebsachse verschmolz und er ihn schweren Herzens im Feuer zurücklassen musste.
22:00 Uhr: Die beiden Feuerwehr-Züge aus Moers und Kamp-Lintfort, knapp 40 Mann, standen im Halbkreis beieinander und schauten dem brennenden Haus zu. Zugführer Tegmann stimmte mit seinem glockenklaren Tenor „Oh, Tannenbaum“ an. Am Ende des Abends musste ein Mannschaftswagen in der „Horst-Hrubesch-Siedliung“ stehen bleiben, da die Besatzung zu betrunken war, um zurückzufahren. Sie fuhren mit der Linie 14 zurück nach Moers. Das Fahrzeug wurde am 1. Weihnachtsfeiertag abgeholt. Als der Rest der Feuerwehr abrückte, fuhren sie noch schnell Altglas innen Container.
22:45 Uhr: Da in der Doppel-Garage Likörvorräte für ein gutes halbes Jahr lagerten, lief Tante Lore als gute Gastgeberin, mit einem Tablett durch die Menge Schaulustiger, die inzwischen zum Brandort gekommen waren und fragte: „Noch jemand Likörchen?“ und verteilte Selbstgebackenes und wünschte allen: „Schöne Weihnachten.“
23.00 Uhr: Ulf Knuddsen, Postbeamter im mittleren nichttechnischen Postverwaltungsdienst kam ausser Trinkhalle Süderupp und schob durch Zufall an diesem Abend sein Rad am Altglascontainer vorbei. Er fand das Leergut und kassierte dafür anner Tanke knapp 250 Euro Pfand und mietete sich eine Nacht innen Kamp-Lintforter Hof ein und beging sein schönstes Weihnachtsfest, seit seine Frau im Urlaub in Thailand mit so´nem schlitzäugigem Reisfresser durchgebrannt war. In Kamp-Lintfort pulsierte nicht das Leben und das tut es auch heute noch nicht, das ist klar und es gab Leute, die in Kamp-Lintfort nicht mal im Speicher von der Decke hängen mochten, aber das war mein geilstes Weihnachten ever.