Читать книгу MIXTAPE STORIES - Markus Gleim - Страница 3
1. Kassette einlegen
Оглавление„Ja, du lieber Himmel, wie sieht´s denn hier aus? Macht hier denn niemand sauber?“, fragte ich mich und ja, ich hatte Recht, denn in letzter Zeit hatte tatsächlich hier keiner richtig sauber gemacht und wer außer mir, sollte das auch machen? Aber das Wetter war halt auch noch so gut gewesen, das wollte ich noch ein bisschen ausnutzen und darum ist eben eine Menge Kram liegen geblieben. Und genau darum sah es eben jetzt hier so aus, wie es nun mal aussah. Fertig. Aber es stimmte schon, der Rasen, die Hecken und Sträucher im Garten waren inzwischen so hoch gewachsen, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn da irgendwann mal einer: “Holt mich hier raus, ich bin ein Star ...” gerufen hätte. Da sollte ich echt mal mit´m Rasenmäher und der Machete durch. Und es wäre schon cool, meine Karre mal wieder in, statt neben die Garage stellen zu können. Musste ja einen Grund haben, warum Menschen Garagen haben. Ich geb‘s ja zu, ich hatte Garten und Wohnung ein bisschen vernachlässigt. Meine Nachbarin, die einen eher minimalistischen Lebensstil für sich entdeckt hatte, beobachtete mich immer sehr argwöhnisch, wenn wir gemeinsam mit dem Fahrstuhl nach oben fuhren, und sie vermied es, mit mir gleichzeitig die Wohnungstüre zu öffnen. Ich glaube, sie befürchtete, dass das minimalistische Sicherheitsvakuum ihrer Wohnung dem Desorganisations-Überdruck meiner beginnenden Messie-Wohnung nicht standhalten konnte und den ganzen Schrott aus meiner Bude zu ihr rüber saugen könnte oder so.
Nun huschten mir die Wollmäuse nach, wenn ich etwas forscher im Wohnzimmer um die Ecke in Richtung Küche abbog, und ich war mittlerweile davon überzeugt, dass die täglichen Wettervorhersagen im MoMa, die uns sonnige und frühlingshafte Tage versprachen, glatte Fake-News waren, denn bei mir sah´s draußen immer nach „nebliges London im Herbst“ aus. Allerdings könnte das auch gut an meinen Fensterscheiben liegen, da bin ich mir nicht so ganz sicher. Als dann neulich morgens irgendeine fremde Kraft meine Kühlschranktüre von innen wieder zuzog und irgendwas von „zu schmutzig, da draußen“ und „lieber Türe zumachen“ flüsterte, dachte ich mir, na gut, so ein bisschen könnte ich ja echt mal sauber machen. Klamotten weg hängen, Altpapier raus, leere Flaschen und Abfall runter bringen. Den ganzen Krempel könnte ich mal wegräumen, der sich in der letzten Zeit so angesammelt hatte. Bisschen Bürokram machen und Briefe, Rechnungen und Kontoauszüge abheften. Mal kurz durchkehren, mit´m feuchten Lappen die Regale abwischen und fertig. Keine große Sache, nur eine Stunde und dann wäre ich auch durch damit.
Nach den ersten beiden sauberen Regalen fiel aber auf, wie bescheuert das jetzt erst aussah, denn ein Regal tiefer konnte ich mit den Fingern „Du Sau“ in den Staub schreiben. Die Schallplatten und CDs, die ich mal kurz nach ABC ordnen wollte, türmten sich schon nach kurzer Zeit auf etwa 15 verschiedenen Stapeln, da ich mich nicht entscheiden konnte, ob es nun „The Beatles“ oder nur „Beatles“ heißen und ob ich meine Bücher nach Autor oder nach Buchtitel ordnen sollte?
Irgendwann lief dann die Sache komplett aus dem Ruder. Ich hatte so einen Werkzeuggürtel aus dem Baumarkt umgeschnallt, eine Flasche „Frosch Allzweckreiniger“ in der einen und antistatische Tücher in der anderen Hand und nasse und trockene Tücher, einen Staublappen und so ein buntes Feudel-Dings für die Spinnweben in den Ecken in den Taschen und lag bis zu den Hüften im Bücherschrank. Um den Kopf noch so eine batteriebetriebene Stirnlampe und wischte nun den kompletten Bücherschrank von innen aus. Kurz und gut. Ich musste die „kurz-mal-mitm-Staublappen-durch-Aktion“ für gescheitert erklären. Das ganze entwickelte sich zu einer Flurbereinigung epischen Ausmaßes, der selbst Otto und Sükrü vom „Trödeltrupp“ nicht mehr Herr werden würden. Ich zog die Reißleine. Am liebsten würde ich den ganzen Kram jetzt so liege lassen, wortlos meine Eingangstüre luftdicht versiegeln und in einer Nacht- und Nebelaktion still und leise Richtung einsamer Nordseehallig verschwinden und unter dem Namen Tamme Nordhum ein Leben als eigenbrötlerischer Heidschnuckenzüchter fortführen.
Ich begann mit dem systematischen Rückbau der Säuberungsaktion und legte Klamotten und Post zurück, wo sie vorher lagen. Ich stellte Bücher, Deko-Zeugs und Nippes exakt auf die ursprünglichen staubfreien Stellen im Regal von vorhin und zog mit dem Finger mehrere parallele Streifen durch die Wörter „Du Sau“, sodass es aussah, als würden Sonnenstrahlen schräg durch das Rollo einfallen.
Nachdem ich dieses Chaos beseitigt hatte, blieb eine Kiste übrig, die anklagend mitten im Zimmer auf dem Boden stand. Eine einzige Kiste, in die ich in den ganzen vergangenen Stunden kein einziges Mal rein geschaut hatte. Eine Kiste, 40 x 40 x 40 Zentimeter, grauer Grundton und blau aufgedrucktes Muster, links und rechts ein kleiner Metallgriff und ein passender Deckel dazu, eine typische Kiste eben, die der Herr IKEA wahrscheinlich genau aus diesem Grund zusammen gebastelt hat, um irgendetwas dort aufzubewahren, was man nicht mehr herum liegen haben wollte, es aber auch nicht wegwerfen wollte.
Was mochte da wohl drin sein? Welches Kleinod hatte ich darin vor langer Zeit verstaut? Was war mir so wichtig, dass ich es noch nicht längst entsorgt hatte?
Irgendein lang verschollen geglaubtes Erbstück meiner Großeltern? Opas alte Polizeiknarre? Mein Opa war früher Dorfpolizist in dem kleinen beschaulichen Örtchen, nahe der tschechischen Zonengrenze, in der Nähe von Bod na Zadnice. Da fällt mir was Lustiges ein, das muss ich Ihnen einfach erzählen. Manchmal schreibt das Leben einfach die besten Geschichten. Geben Sie doch mal bitte Bod na Zadnice in den Tschechisch-Deutsch-Übersetzer ein. Na? Hammer oder? „Punkt auf Hintern?“, heißt das so frei übersetzt. Ja gibt’s denn so was? Ein winziger Ort, den man „Punkt auf Hintern“ nannte? Na, das nenne ich mal Selbstbewusstsein. Na ja, ich wollte es halt mal erwähnen.
Möglicherweise hatte meine Oma Opas Polizeiorden, seine alte Uniform und seine alte Dienstwaffe aufgehoben und an meine Mutter weitergegeben, die dann schließlich und letzten Endes der Familientradition entsprechend, bei mir landete. Uuaahähähähmpfarglhähä … kalter, schwarzer todbringender Stahl würde gleich in meinen Händen liegen … endlich, endlich, nach so vielen Jahren würde ich die Sache mit meinem Parkplatz und mit der Ackerfresse vom ersten Stock klären können. Oder im Sommer, diese bekackte Taube, die morgens immer auf dem Balkon vor meinem Schlafzimmer saß und pünktlich um 6.45 Uhr mit ihrem saublöden „Guurr-huu, Guurr-huu“ anfing. Immer genau 20 Minuten, bevor mein Wecker eh klingeln würde und es sich nun einfach nicht mehr lohnte, nochmal einzuschlafen. Ein kurzer, aufgesetzter Schuss, durch die halb geschlossenen Lamellen des Sonnenrollos … BÄNG … und fertig. Missión cumplita, senior.
Aber nein, kommense, war doch nur Schbass, ehrlich. Auf Anraten eines Jägers hängte ich einen bunten Luftballon an das Geländer, über den sich die Taube so dermaßen ärgerte, dass sie sich einen anderen Balkon suchen musste.
So, jetzt isses aber genug mit spekulieren. Jetzt guck ich in die Kiste …
Kassetten. Watt? Wer bist du denn? Kassetten? Echt jetzt?
Musikkassetten. Entweder selbst aus dem Radio aufgenommen oder von LPs oder Singles überspielt. Aber der weit größere Teil aus dem Radio aufgenommen. 150, 200 oder 300, wahrscheinlich aber noch mehr. Schwarze, graue, gelbe, rote Kassetten standen in mehreren Reihen, dicht an dicht nebeneinander, in vier, fünf oder noch mehr Lagen. Und in den freien Zwischenräumen noch mehr davon. Die meisten davon ohne Hülle. Nur die Kassetten. Keine Inhaltsangabe, keine Songs, keine Album- beziehungsweise LP-Informationen, keine Bandnamen. Nur „Mixtape“. Mit unterschiedlichen Stiften und Farben. Auf jeder einzelnen Kassette. „Mixtape“. Noch nicht einmal durchnummeriert waren sie. Nix. Einfach „Mixtape“. Aber immerhin mit Anführungszeichen. Wer bitte macht denn so was?
Nun saß ich also hier in einem Berg von unbeschrifteten Kassetten, wie ein hyperaktives ADHS-Kind im Ikea-Bällchenparadies und blickte etwas ratlos umher. Ich schnappte mir die Kiste, schob sie, während mir wieder ein Rudel Wollmäuse folgte, über das Laminat, rüber ins Wohnzimmer vor meine Anlage - dazu ein großer, dampfender Pott Milchkaffee zu meiner Linken und eine Tüte Gummibärchen zu meiner Rechten – und faltete mich unter großen Schmerzen und knackenden Kniegelenken auf einem Sitzkissen zusammen. Hier würde ich ohne fremde Hilfe nie mehr hochkommen, aber jetzt saß ich erst mal hier vor meiner Kassettenkiste.
Verrückt, wie viel unterschiedliche Marken es damals schon gab, das war der Hammer, mein Gott. Maxwell, TDK, Sony, Philips, Agfa, BASF und irgendwelche billigen No-Name-Kassetten von Aldi oder Lidl. Und dann noch diese ganzen Sachen, wie Fe2CO2 oder CO2. Was um Himmels willen hatte das zu bedeuten? Irgendeinem Ingenieur schien es wichtig zu sein, dass diese Kassette aus CO2 ist, CO2 beinhaltet oder CO2 nicht verträgt oder so. Hatte da dieser Cro seinen Namen her? Um ehrlich zu sein, es interessierte mich damals nicht.
Heute hat sich mein Interesse für technische Details etwas zu Gunsten der Technik verschoben, das musste ich zugeben, denn ich hatte noch so einige Überbleibsel aus meiner aktiven Musikerzeit daheim stehen. Ein paar große Studio-Monitorboxen. Zwei Equalizer, einen für jeden Kanal. Eine Endstufe, ein Effektgerät, eine passive 17 Zoll Bassbox, die gleich hinter dem Flatscreen stand, und ein flacher, aktiver 30er Bass unterm Sofa. Wenn Luke Skywalker mit seinem X-Wing Fighter den Todesstern in die Luft jagte, versetzte der 30er Bass mein Sofa komplett in gleichmäßige Vibrationen und ich musste meine Gäste bitten, vor der Explosion des Todessterns ihre Taschen zu entleeren und ihre Brillen abzunehmen. Unzählige Brillen und Kleingeld hatten sich deswegen schon in die Ritzen meines Sofas hineinvibriert und mit dem Geld bezahlte ich einen Teil meiner Miete, die Brillen spendete ich regelmäßig an die Organisation „Brille ohne Grenzen.“ Wenn ich beim Fernsehen meinen Gästen noch eine Handvoll Blumenerde ins Gesicht schmiss, war das, als wäre sie mittendrin im Geschehen. DAS ist 3-D und zwar ohne Brille. Eat this, Kinopolis. Erst wenn mein Besteck in der Küchenschublade zu rasseln begann und die Fensterscheiben im Rhythmus der Bassdrum vibrierten, dann bekamen auch die Nachbarn mit, dass ich gerade Musik hörte.
Tja, nun saß ich mit meiner Kassettenkiste vor meiner Wohnzimmer-PA und schob Regler hin und her, drückte Tasten und drehte Knöpfe und überlegte kurz, ob ich das digitale 16-Spur-Mischpult aus meiner Home-Recording-Ecke eben rüber rollen sollte, um das alles noch zusätzlich durch das Mischpult zu jagen, beschloss aber, dass die 2 x 750 Watt Sinus der Endstufe, jetzt, so kurz vor 23 Uhr, doch vollkommen ausreichen sollten. Ich spürte, wie die Finger meiner rechten Hand anfingen, unkontrolliert zu verkrampften und ein Auge fing an, unregelmäßig zu zucken. Ich bekam das sogenannte weltweit bekannte „Gitarristen-Tourett-Syndrom.“ Das Gefühl, dem eigentlich alle Gitarristen kurz über lang verfielen: alle Regler nach rechts. Alles auf volle Möhre. Volles Rohr aufdrehen, bis sämtliche LEDs clippten.
Plötzlich war es mir, als blinkten mich sämtliche Lichter meiner Anlage vorwurfsvoll an, als wollten sie mir sagen: „Hör zu Digga. Erstens ist es nicht kurz vor 23 Uhr. Die ersten Hühner werden sich gleich wieder sehr müde auf ihre Stange im Käfig schleppen und zweitens schiebst du da gleich ´ne etwa 30 Jahre alte Kassette in dein Tapedeck. Was glaubst du, da zu hören, du Brot? Du kannst froh sein, wenn sich das Tonband nicht augenblicklich in winzig kleine Teilchen auflöst. Und drittens: So geil is deine Anlage jetzt auch wieder nicht.“ Etwas bockig denke ich mir: „Doch. Is eben wohl geil, die Anlage“, entscheide mich dann aber, für den Augenblick den blinkenden Lichtern recht zu geben.
Ich drehte alle Schalter und Regler zurück, schaltete Equalizer, Effektgerät und beide Bassboxen und schließlich die gesamte Anlage ab und fast augenblicklich blieb diese runde Scheibe, die sich in meinem Stromzähler im Flur surrend drehte, stehen und ich kramte vom Dachboden einen uralten Grundig-Kassettenrekorder hervor. Ich blies kurz etwas den Staub von dem Teil, steckte das Stromkabel ein und siehe da, dieses 40 Jahre alte Gerät erwachte klaglos zum Leben. Ein Kassettenrekorder, zwei kleine Boxen. Mehr brauchte ich nicht.
Immerhin ging es hier ja nicht um brillierende Höhen und pumpende Bässe, also nicht um eine Klangexplosion oder ein Tongewitter. Es ging hier eigentlich um Erinnerungen. Um Emotionen und Bilder, die diese Lieder reproduzieren würden. Und das sollte wohl auch ohne High-End und ohne Hi-Fi funktionieren. Ich wählte eine Kassette. Irgendeine, völlig egal, jede Einzelne schien so gut, wie die andere zu sein und ich fragte mich, was ich da wohl gleich hören würde?
Jede Kassette war im Grunde genommen eine Art Zeitkapsel, die meine komplette DNA der 80er konservierte. Nicht nur das. Jede einzelne Kassette, jedes einzelne Lied war ein Spiegelbild meiner Persönlichkeit. Ein Backup meines Charakters und eine Blaupause meiner Seele.
Auch ein Zeitdokument der damaligen Musikindustrie und der aktuellen Charts natürlich. Klar, auch damals richtete sich schon der Musikgeschmack nach dem, was in der Hitparade zu hören war. Wie ein Profiler würde man aus jedem einzelnen Lied und aus der Kombination mit anderen Liedern meinen damaligen Gemütszustand herauslesen können. War ich wütend und zornig? War ich verliebt oder trauerte ich einem Mädchen hinterher? War ich eher ausgeglichen und locker, welche Gefühle, welche Sorgen bestimmten damals mein Leben. Was brachte mich eventuell aus dem Gleichgewicht oder was pegelte mich wieder ein? All das würde ich aus den Liedern heraus hören können.