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Aufklärung
ОглавлениеWährend vor der Aufklärung die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens noch weitestgehend religiös geprägt, sprich gottgegeben war, eröffnete sich für die Menschen im Zuge der Säkularisierung und noch deutlicher im Zuge des Dominanzverlusts der bürgerlichen Gesellschaft Mitte des 20. Jahrhunderts ein mannigfaltiges Angebot in Bezug auf das Verständnis bzw. die Erklärung des Lebensursprungs, des Lebenssinns und auch in Bezug auf Werte und moralische Vorstellungen14.
Komplettiert wird der Bedeutungsverlust der »großen Erzählungen« (Lyotard 1994) durch den Niedergang des Kommunismus. Damit sind die großen Leitbilder ad acta gelegt, der Mensch ist fortan dazu verurteilt, sich in seiner Freiheit zurechtzufinden und sich auf ständige Neuorientierungen einzulassen. Für alles wird er nun als individueller Entscheidungsträger verantwortlich gemacht, sei es, wenn es um die Wahl des Lebenspartners/der Lebenspartnerin, um die Bewältigung von Arbeitslosigkeit oder um die Abtreibung eines behinderten Kindes geht: Die Freiheit des Individuums schlägt um in eine unvermeidbare Verantwortung für sein Handeln. So werden im Alltag die Fragen nach der Sinnhaftigkeit und Biografizität subjektiven Handelns immer bedeutsamer. Kein Bewerbungsgespräch, keine freundschaftliche oder gar Liebesbeziehung, keine Veränderung im Leben kommen heute mehr ohne Offenbarung und Entfaltung der biografischen ›Rahmung‹ der Handlungen aus.
Mitunter bewirken und fördern die Produktion von Sinnhaftigkeit und »doing biography« sogar Bildungsprozesse (vgl. Bukow, Ottersbach, Tuider & Yildiz 2006). Begünstigt wird die Produktion von Sinnhaftigkeit und Biografizität heute andererseits durch die Entwicklung der Risikogesellschaften, in denen sich konventionelle Orientierungsmuster zunehmend auflösen und die Suche nach individuellen Nischen für den Einzelnen immer mehr zur Pflicht wird. Festgelegte oder determinierte Entwicklungen sind rar geworden, im Rahmen der »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1984) und der Pluralisierung (Beck 1986) avanciert die Wahl zwischen zahlreichen Möglichkeiten immer mehr zu einer Qual, die auch darin münden kann, sich in der Wahl zu verlieren.
Die Bedeutungszunahme der Produktion sozialen Sinns und der Biografie im Alltag der Menschen hatte zweifellos auch Auswirkungen auf die Wissenschaften selbst. In der Soziologie wurden qualitative Methoden im Rahmen der stadtsoziologischen Untersuchungen der Chicagoer Schule in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts »entdeckt« (Kleinig 1995; Flick 2002, S. 20f.). Die wegweisende Studie von Thomas & Znaniecki (1918–1920) mit dem fünfbändigen Titel »The Polish Peasant in Europe and America« gilt als Prototyp qualitativer Forschung. Anthropologen wie Mead oder Malinsowski entdeckten später die Methode der Feldforschung für die Sozialwissenschaften. Trotzdem dominierten lange Zeit noch die experimentellen, standardisierenden und quantifizierenden Ansätze gegenüber den verstehenden, offenen und qualitativ-beschreibenden Methoden. In Deutschland nahm erst um 1970 die Bedeutung qualitativer Methoden vor dem Hintergrund der Kritik an quantitativer Sozialforschung zu (vgl. Flick 2002, S. 21). Feministisch orientierte Wissenschaftlerinnen (vgl. Becker-Schmidt & Bilden 1995) zeigten die Begrenztheit quantitativer Methoden in Bezug auf den Genderaspekt auf und ergänzten die Komplexität sozialer Lagen insbesondere von Migrant*innen um die Klassenzugehörigkeit. Auch die kritische Psychologie (Holzkamp 1983) kritisiert quantitative Forschung als Reproduktion von Herrschafts- und Anpassungswissen. In Deutschland hat vor allem Habermas (1967) die amerikanische Diskussion aufgegriffen und den symbolischen Interaktionismus und die Ethnomethodologie, neben dem sozialen Konstruktivismus die beiden wesentlichen Bausteine der qualitativen Sozialforschung, im deutschsprachigen Raum publik gemacht. Ende der 1970er Jahre avancierte die qualitative Forschung dann sogar zum »Modetrend« (Flick 2002, S. 22), maßgeblich bewirkt durch das narrative Interview durch Schütze und die »objektive Hermeneutik« durch Oevermann. Weiterhin wegbereitend waren auch Studien von Leithäuser, Volmerg, Salje, Volmerg & Wutka zur »Empirie des Alltagsbewusstseins« (1981) und von Berger & Luckmann (1987) zur »Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit«. Ende der 1980er Jahre wurden erste Lehrbücher und Einführungen zu qualitativen Methoden publiziert (vgl. Flick 2002, S. 23).
Heute wird die Produktion von Sinnhaftigkeit und Biografie immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt der Konstruktion sozialer Beziehungen und somit auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Praxis. Im deutschsprachigen Raum hat die qualitative Sozialforschung deshalb zurzeit insbesondere in der Soziologie und der Pädagogik Hochkonjunktur. Reichertz (2009) spricht von einer »Institutionalisierung« qualitativer Sozialforschung, obwohl bereits wegen der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen (Stichwort »Reduktion der Arbeits- und Zeitintensität«) und knapper werdenden Drittmitteln (Stichwort »Dominanz der Rechenhaftigkeit von Daten im Zuge von Sparmaßnahmen«) wieder ein Abschwung erkennbar sei.
In der Sozialen Arbeit dominieren qualitative empirische Methoden. Ergebnisse aus quantitativen Studien, z. B. zur Entwicklung der Lebenslage bestimmter Zielgruppen, sind ebenfalls wichtig; für die Entwicklung konkreter Angebote der Sozialen Arbeit ist jedoch die Kenntnis der subjektiven Bewältigungsformen der Klient*innen erforderlich. Um diese zu eruieren, benötigt man qualitative Studien.
Im Folgenden soll auf die hier kursorisch dargestellten Aspekte gesellschaftlicher Inklusion mit Blick auf die Zielgruppe marginalisierter Jugendlicher ausführlicher eingegangen werden. Dabei werden zunächst die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, anschließend die Lebenslagen und zum Schluss die Lebensstile und sozialen Milieus marginalisierter Jugendlicher näher beleuchtet.