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Ein Freundschaftsband für Anna

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Seit dem Beginn des neuen Schuljahres waren zwei Wochen vergangen und der Alltag hatte die Randbezirke fest im Griff. Die Kälte, die sich nie weit von St. Petersburg entfernte und es das ganze Jahr über im Blick behielt, schlich sich auch 2016 schon früh im September an die Betten der Bürger. Manch einer sehnte sich morgens nach ein wenig Wärme, aber die Zentralheizungen würden voraussichtlich erst Anfang Oktober eingeschaltet werden. Das genaue Datum wusste keiner so genau, denn diese Bauchentscheidung blieb dem gesunden Menschenverstand der Obrigkeit überlassen.

Die Sensationen der wenigen sonnigen Wochen des Jahres waren beinahe vergessen. Trägheit und ein Hauch von Resignation schlichen sich in die Stuben. Hatte das Land im Sommer noch viel über die politischen Entwicklungen debattiert, dachte es jetzt wieder zuallererst an genügend Pelmeni und Kompott auf dem Abendtisch.

Den Menschen entging nicht, dass der Gürtel enger geschnallt werden musste, dass die guten Waren in den Geschäften teurer wurden und die Arbeit weniger. Aber noch ging es, noch hielten die Unsichtbaren an den Stadträndern durch, sie ackerten und existierten. Das war schon immer ihr Leben gewesen.

Der sowjetische Prinz versprach, dass alles gut werden würde, und die meisten glaubten ihm. Nur diejenigen nicht, die ganz unten angekommen waren. Männer im besten Alter etwa, die sich außer Wodka nichts mehr leisten konnten und das öffentlich zur Schau stellten. Oder Omas, die ihr letztes Hab und Gut an den unsanierten Straßenecken für wenige Rubel verkauften. Oder die jungen Mädchen daneben, die dasselbe mit ihren Körpern versuchten.

Es war nicht zu übersehen, was passierte, aber da jeder seine eigenen Sorgen hatte, sprach keiner darüber. Und wenn das Straßenbild jemandem doch einmal naheging, dann fragte er im Vorbeigehen leise vor sich hin: »Und das alles wegen der verdammten Krim?«

Lange grübelte aber keiner über diese Missstände nach, weil stets ein Abendessen gekocht, für ein bisschen Geld gearbeitet oder ein Fläschchen mit 100 Gramm Hochprozentigem besorgt werden musste. Außerdem; was half es schon, dachten sich die meisten. Es würde sich ja doch nichts ändern.

Auch in der Schule Nr. 348 hatte sich der Alltag eingependelt. Die Pädagogen brachten den Kindern bei, was das Curriculum von ihnen verlangte. Die Kinder lernten, weil sie lernen mussten. Und Anna wurde gehänselt, weil sie anders war. Wenn ihr das zu viel wurde, dann weinte sie und als Konsequenz wurde sie auf den Gang oder ins Rektorat geschickt, damit sie sich beruhigen konnte. Es sah nicht danach aus, als ob sich irgendetwas an diesem bedauernswerten Status quo hätte verändern können. Und dann kam Polina.

In der ersten Schulstunde, an einem verschlafenen Montag, wurde sie von Koslowa ins Klassenzimmer geführt und vorgestellt: »Setzen. Das ist Polina Gromowa aus Moskau. Sie ist neu in St. Petersburg und ab heute in unserer 2-c.«

»Polina Burattina«, sang einer der Streichholzkopf-Jungen kleinlaut und erntete kindliches Gekicher. Mit seiner Anspielung auf Pinocchio verglich er die Neue, die sehr dünn war und deren Arme und Beine wie Zahnstocher aus ihrer kurzärmeligen Bluse und ihrem kurzen Rock ragten, mit dem Jungen aus Holz.

»Ruhe!«, keifte Koslowa, was den Jungen nicht sonderlich beeindruckte, der weiterhin stumpf und gemein in Richtung der Neuen grinste. »Neben Anna ist noch ein Platz frei. Hier. Setzt dich. Wir können dich später noch genauer vorstellen. Jetzt gibt es erst mal Mathe. Schlagt euere Bücher auf Seite vierundzwanzig auf. Plusrechnen bis 100.« Geschlossen seufzten die Schüler, weil sie wussten, dass sie in spätestens einer halben Stunde vor Langeweile auf ihren Stühlen zerfließen würden.

Während Koslowa erste Rechenübungen mit Kreide auf die grüne Tafel schrieb, setzte sich Polina neben Anna und fing an, ihren Platz einzurichten.

»Hallo. Mein Name ist Polina Andrejewna Gromowa. Und du bist Anna, und wie noch?«, flüsterte sie, sah zu Annas Tischhälfte rüber, auf der ein Schreibblock, das Mathelehrbuch, ein Federpenal, eine Safttüte und eine Banane lagen, holte ihrerseits Block, Buch, Federpenal, Safttüte und eine Birne aus ihrem Rucksack und platzierte ihre Utensilien spiegelverkehrt, damit sich ihre beiden Tischhälften glichen. Anna sah zu, blieb aber still.

»Willst du nicht meine Freundin sein?«, fragte Polina uns sah ihrer Sitznachbarin direkt in die Augen. »Wir müssen keine Freundinnen sein, wenn du nicht willst.«

Anna wollte antworten, aber etwas in ihr hielt sie zurück. Stattdessen holte sie einen Bleistift, einen Marker und einen Radiergummi aus ihrem Federpenal, um mitschreiben zu können. Polina tat es ihr nach und lächelte sie an. Anna war schüchtern, aber als sie sich die wiederhergestellte Symmetrie ansah, musste auch sie lächeln. In diesem Moment erfuhr sie ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, dass sie so noch nicht gekannt hatte. Es umspielte ihn und er kribbelte.

»Anna Iljinitschna Smirnowa«, sagte sie leise und hielt ihre Augen geschlossen, als ob sie sich verstecken wollte, riss sie aber quieksend wieder auf, weil Polina sie stürmisch umarmte.

»Also willst du doch meine Freundin sein? Danke! Wir werden eine Menge Spaß zusammen haben. Polina und Anna, beste Freundinnen. Magst du Birnen? Ich nicht. Magst du meine haben? Dafür mag ich Bananen. Wollen wir tauschen?« Polina sprach so schnell und so viel, dass Anna weiter gar nichts mehr sagen konnte und nur mehr nicken musste. Aber das machte ihr nichts aus. Sie mochte die Neue trotzdem, weil sie lustig war.

»Ruhe«, rief Koslowa, ohne nach hinten zu sehen.

An diesem Tag lernte Anuschka also ihre erste Freundin kennen und in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten wuchsen die beiden zusammen. Da Polina mit ihren Eltern und ihrem fünf Jahre älteren Bruder Iwan in eine der drei benachbarten Blockbauten gezogen war, verbrachten die Mädchen nicht nur alle Pausen zusammen, sondern auch die Wege zur und von der Schule. Jeden Morgen, wenn Schule war, trafen sie sich vor dem Blumenladen der Babuschka Tsvetkova, dem kleinen Häuschen, das unmittelbar vor ihren Plattenbauten an der Pribrezhnaya Straße stand und wie ein übergebliebenes Legosteinchen aussah. Und nachmittags trennten sie sich dort wieder.

Während ihrer Unterhaltungen sprach vor allem Polina, die nur schwer zu bremsen war, wenn sie einmal losgelegt hatte. Sie war eine Quasselstrippe, wie sie im Buche stand, hielt nichts zurück, was ihr durch den Kopf ging, und das war nicht immer gesellschaftstauglich, höflich oder nett, wie es die meisten Erwachsenen von einem siebenjährigen Mädchen gerne gehabt hätten. Dieses Verhalten war anhand der abenteuerlichen Verhältnisse zu erklären, in denen Polina und Iwan aufgewachsen waren.

Als Tochter eines Generalmajors der russischen Streitkräfte hatte sie eine strenge und auf Disziplin ausgelegte Erziehung erfahren, der sie und ihr Bruder außerhalb der elterlichen Obhut nach Möglichkeit mit gegenteiligem Verhalten entgegensteuerten. Hinzukam, dass sie mit ihren sieben Jahren schon erstaunlich viel herumgekommen war.

In Moskau geboren, hatte sie mit zwei Jahren nach Nowosibirsk müssen, ein halbes Jahr später nach Tomsk, wo ihre Familie immerhin eineinhalb Jahre geblieben war, dann zurück nach Moskau, für drei Jahre, und jetzt hierher, an die Newa. Das viele Reisen hatte das dürre Kind redselig gemacht, denn einen anderen Weg gab es nicht, neue Freunde kennenzulernen. Gleichzeitig war Polina einigermaßen immun gegen die vielen Sticheleien der anderen Kinder geworden, die sie für blöd befanden, weil sie von woanders kam und frech war, mehr noch, sich manchmal robust und widerstandsfähig wie ein Junge gab, manchmal sogar Spuckte, Fluchte, ihren Stinkefinger zeigte oder ähnlich Unschickliches an den Tag legte.

Anna und Polina waren also beide anders. Jede auf ihre Art. Und das war auch der Grund, weshalb ihnen ihre Freundschaft guttat, weil sie sich beieinander sicher fühlten, normal, nicht wie Ausgestoßene, sondern wie ein Team, das zusammen stark gegen den Rest der Welt war.

Und so, wie sie ihr Glück teilten, teilten sie auch ihren Kummer, wenn eine von ihnen gehänselt wurde. Wenn Polina als Bohnenstange, Pinocchio oder Assi und Anna als Zurückgebliebene, Dumme oder Verrückte bezeichnet wurde, fühlten sich beide schlecht. Meistens hatte Polina einen kecken Spruch als Antwort parat und tröstete Anna, dass die anderen blöd seien und sie beide viel toller wären, eben weil sie anders als die anderen waren. Das hatte ihr Bruder Iwan früher zu ihr gesagt, wenn sie geärgert wurde, und jetzt sagte sie es ihrer Freundin, die schwächer als sie war und um die sie sich kümmern musste.

Bald fingen die Jungs der 2-c an, noch frecher zu werden. Sie zupften die beiden Mädchen an deren Schuluniformen, zogen leicht an ihren Zöpfen, nahmen ihnen Stifte und Blöcke weg und versteckten ihre Rucksäcke, wenn sie nicht hinsahen. Ähnliches trieben die Jungs auch untereinander, weshalb keiner großes Aufhebens um dieses typisch rowdyhafte Verhalten machte. Aber es fiel dennoch auf, dass Polina und Anna die bevorzugten Opfer solch kindlicher Streiche waren.

Je enger Polina und Anna aneinanderwuchsen, je glücklicher sie miteinander waren und das auch offen zur Schau stellten, indem sie kicherten, sich gegenseitig Zöpfe flochten und Klatschspiele spielten, desto gemeiner wurden die anderen Kinder zu ihnen. Die Jungs konnten jetzt nicht nur ihre Andersartigkeit nicht leiden, sondern auch ihr Glück. Und die anderen Mädchen waren neidisch auf ihre enge Freundschaft.

Also begann der härtere Tobak. Einmal stellte Artjom, der schamloseste Rüpel der Klasse, Anna ein Bein, als sie eine Treppe im Schulgebäude hinunterstieg. Ihr passierte nichts, aber vor lauter Schreck weinte sie. »Was wollt ihr tun?«, fragte der Junge provokant und stand breitbeinig da, wie er es sich von einem Erwachsenen abgeguckt haben musste. Aber mit Polinas Faust, die in seinem Gesicht landete und eine blutende Nase hinterließ, hatte er nicht gerechnet, weshalb auch er sich zu Boden warf und zu weinen begann.

»Hilfe, Hilfe, Frau Lehrerin, Hilfe«, schrie er und wand sich übertrieben auf dem Boden. Die anderen Jungs und Mädchen zeigten mit den Fingern auf ihn und er wurde rot im Gesicht. Polina half ihrer Freundin auf und war mächtig stolz auf sich. Als Koslowa kam, um zu sehen, was los war, petzte Artjom seine Version der Geschichte: »Sie hat mir ins Gesicht geschlagen!« Polina aber blieb still und wurde ins Rektorat geschickt, was ihr nicht viel ausmachte.

Dort musste sie zwar von ihrem Vater abgeholt werden, dem Generalmajor Gromow, aber er würde sie verstehen, daran hegte sie keinen Zweifel. Ihr Papa war ein Berg von einem Mann, mit dem man nicht gerne diskutierte, außer man hieß Polina und war Papas kleiner Schmetterling, denn dann konnte es sogar Spaß machen.

Da sich der Generalmajor nahezu immer im Dienst befand, traf man ihn zumeist in seiner autoritären moosgrünen Uniform an – so auch an diesem Tag, als er das Schulgebäude Nr. 348 betrat. Aus Gewohnheit übernahm er, ohne zu zögern, die Gesprächsführung, ließ erst Schulleiterin Baranowa reden und dann seine Tochter, deren Geschichten sich deutlich voneinander unterschieden. Auf die Frage hin, wieso Baranowa nicht beide Parteien zum Vorfall befragt hatte, wusste sie nicht recht zu antworten.

»Herr Gromow, das hätten wir natürlich tun sollen, da gebe ich Ihnen vollkommen recht, aber Gewalt darf in unserer Schule nicht vorkommen. Ich denke, das verstehen Sie.«

Der Generalmajor war streng und geradlinig, aber nicht ungerecht und er hütete sich davor, seine machtvolle Erscheinung auszunutzen.

»Ich verstehe vor allem, dass meine Tochter sich und ihre Freundin vor einem Aggressor verteidigt hat und darauf bin ich sehr stolz. Sollte sie noch einmal angegriffen werden, hoffe ich, dass sie couragiert genug sein wird, sich wieder zu verteidigen. Mit allen Mitteln.« Papa Gromow wendete sich liebevoll zu seiner Tochter: »Gut gemacht, Engelchen. Ich bin stolz auf dich.«

Von der Reaktion des Vaters überrascht und von seiner Uniform angetan, gab Baranowa ihm schließlich nicht nur Recht, weil sie sich rhetorisch nicht mehr zu helfen wusste, sondern sie überlegte, ob sie vielleicht wirklich falsch gehandelt hatte. »Natürlich, Sie haben wahrscheinlich Recht.«

Er sah sie zweifelnd an.

»Sie haben Recht, Sie haben sicher Recht.«

*

Da Artjom die Erniedrigung Polinas nicht auf sich sitzen lassen konnte, kam es schon bald zu einem weiteren Gefecht zwischen ihm und den beiden Klassenopfern. Es passierte nach einem Schultag. Die Kinder strömten aus dem Schulgebäude und machten sich auf ihre Wege in Richtung Zuhause. Da stellten sich der Chefrüpel und zwei seiner Komplizen vor Anna und Polina und bespritzten sie mit Mayonnaise, Ketchup und Remoulade. Als Artjom sah, dass die Mädchen zwar geschockt waren, aber nicht aufgelöst und schreiend davonliefen, ging er zu Polina und fing an, sie übel zu beschimpfen. Er sagte Dinge über ihre Mutter, ihren Vater und ihren Bruder. An anderen Tagen hätte sie diesen Attacken vielleicht standgehalten, aber nicht an diesem. Sie fing an zu weinen und lief weg – und Anna lief ihr hinterher.

Bis zum nächsten Morgen durfte sich Artjom in Sicherheit wiegen und mit seiner Tat vor seinen Mitschülern brüsten. Bis dahin wusste er noch nicht, dass sich seine Gegnerin bei Bruder Iwan ausgeheult und dieser auf ihren Kummer mit den Worten »Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum, dass er dich nie wieder belästigen wird«, geantwortet hatte. Und wenn Iwan seiner jüngeren Schwester ein Versprechen gab, dann hielt er es auch.

Am nächsten Morgen, noch vor dem Läuten zur ersten Unterrichtsstunde, bekamen Artjom und seine Freunde wenig elegant, dafür äußerst diskret und effektiv, die Gesichter von Iwan und seinen beiden besten Freunden poliert. Hinterher gab es eine Drohung, die sicherstellte, dass keines der Kinder ihren Lehrern oder Eltern petzte, wer es gewesen war. Ab diesem Tag hatten Polina und Anna es deutlich einfacher. Artjom und seine Freunde suchten sich neue Opfer, aber sie schafften es nie wieder, mit der gleichen Energie und Leidenschaft wie zuvor zu ärgern und gemein zu sein.

Den Mädchen konnte es egal sein und sie hatten nie erfahren, was passiert war. Sie merkten nicht einmal richtig, dass sie keiner mehr ärgerte. So sehr waren sie damit beschäftigt, einander kennenzulernen, sich Märchengeschichten auszudenken und darin zu verlieren, wie Siebenjährige es nun mal gerne tun.

Und als die Mädchen der 2-c während eines Bastelunterrichts lernten, wie man Freundschaftsbänder knüpfte, bestand kein Zweifel daran, wer Annas und wer Polinas Bastelei bekommen würde.

Fontanka

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