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Das Fauchen einer besorgten Mutter

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Die 1-c war pünktlich zur Mittagspause wieder in der Schule angekommen. Klassenlehrerin Koslowa und Sportlehrer Komarow führten die nach wie vor bibbernde Anna ins Direktorat, während die restlichen Kinder sich selbst überlassen wurden. Laut Vorschriften musste aufgearbeitet werden, was an diesem Vormittag geschehen war, und Koslowa hielt sich immer an die Regeln.

Tatsächlich hatte es einen Vorfall dieser Art bislang noch an keiner Petersburger Schule gegeben, weshalb niemand so genau wusste, was zu tun war – nicht einmal Rektorin Baranowa. Sie aber befand, dass ein solches Verhalten nicht übersehen werden durfte und erst mal die Mutter des unartigen Kindes kontaktiert werden musste.

»Wo haben wir nur die Telefonnummern der 1-c? Verfluchte Ordner«, murmelte sie in ihren penibel steif gebügelten Hemdkragen und ging nahtlos ins Schreien über: »Olga, kommen Sie doch bitte!« Nach diesem Ausbruch sank Baranowa tief in ihren Holzstuhl und atmete schwer, als ob sie eine große Anstrengung hinter sich hätte.

Aus dem Nachbarzimmer kam eine der beiden hörigen, bebrillten Sekretärinnen des Rektorats angedackelt, die sich derart ähnlich sahen, dass sie problemlos als Zwillinge durchgingen. »Ja?«

»Olga, suchen Sie mir bitte die Nummer der Mutter von Anna Smirnowa heraus, 1-c. In diesem Chaos kann man doch wirklich nichts finden. Immerhin haben Sie sich dieses System ausgedacht, dann können Sie auch«, weiter kam das Oberhaupt der Lehranstalt nicht, denn schon hielt Olga den passenden Schnellhefter in ihrer Hand.

»Bitte schön.«

Ungläubig prüfte Baranowa den Inhalt. »Gut, fürs Erste wäre das alles.« Sie wählte Feodoras Nummer, richtete ihren Blazer, schnaubte, einem Stier ähnlich, der sich auf einen Angriff vorbereitete, und wartete.

»Feodora Smirnowa.«

»Guten Tag! Hier spricht Warwara Baranowa…« Von Anfang an nahm sie einen strengen Tonfall an, um zu signalisieren, dass Feodoras Kind unartig gewesen war. Sie wollte nichts Genaues sagen, nur so viel, dass es einen Unfall gegeben habe, alle gesund und unverletzt waren, aber die Mutter bitte sofort in die Schule kommen solle, um die Angelegenheit zu besprechen und ihr Kind abzuholen, da es aufgrund des Vorfalls verschreckt und vom Nachmittagsunterricht freigestellt sei.

Ebenfalls überlegte Frau Baranowa, ob sie erwähnen sollte, dass Annas Verhalten ein Nachspiel haben müsse, da sie der Stadt Kosten verursacht habe, aber sie ließ es bleiben. Dieses Argument wollte sie sich aufheben, falls Feodora aufmüpfig werden würde.

Bisher war die Rektorin meistens gut damit gefahren, die Schuld für innerschulische Unfälle oder mutmaßliches Fehlverhalten möglichst den Schülern unterzujubeln. Ihr war zwar vollkommen bewusst, dass die Lehrer und letztlich sie für die Kinder verantwortlich waren, aber die meisten Eltern ließen sich einreden, dass ihre Kinder etwas ausgefressen hatten, was dem Direktorat eine Menge Papierkram und Ärger ersparte. Und damit diese Taktik aufging, musste sie möglichst selbstbewusst und aggressiv auftreten.

An diesem Tag aber würde sich diese Regel nicht bestätigen. Rektorin Baranowa hatte ihre Rechnung ohne Dora gemacht, mit der sie deutlich zuvorkommender gesprochen hätte, wäre ihr bewusst gewesen, mit wem sie es zu tun hatte.

Vermutlich hätte sie sogar die süßesten und beschwichtigendsten Worte gefunden, hätte sie geahnt, wer sich aufgrund ihres Anrufes vielmals bei der Büroleitung der Kanzlei Medwedew & Partner entschuldigen musste, um mitten am Arbeitstag und außerplanmäßig zur Schule fahren zu dürfen. Es war ein unbarmherziger Tornado, der sich auf den Weg zu ihr machte und der weder Verständnis noch Geduld für die Ausreden einer Direktorin hatte.

Aber da Frau Baranowa nicht wissen konnte, welches Unheil auf sie zukam, genauso wenig wie Komarow und Koslowa es wissen konnten, befanden sie es für sinnvoll und schlüssig, erst mal mit Anna zum Schularzt zu gehen. Das taten sie aber nicht, um das Mädchen auf Verletzungen untersuchen zu lassen, sondern mit der Hoffnung, dass Dr. Schtscherbakow eine psychische Ungereimtheit beim Kind diagnostizieren konnte, zumindest aber eine abnormale Verträumtheit.

Das Sprechzimmer des Allgemeinmediziners, der nicht nur für die Schüler der Schule Nr. 348 zuständig war, sondern zu bestimmten Uhrzeiten auch für Privatpatienten, befand sich im Erdgeschoss. Meistens aber, so wie jetzt, als der straßenseitige Eingang zur Praxis verschlossen und nur der innerschulische geöffnet war, drehte Schtscherbakow gelangweilt Däumchen, blätterte in Klatschblättern, die für Patienten bestimmt waren, und wartete auf verunglückte Kinder. Ein Plausch mit der Rektorin, einer Klassenlehrerin und dem Sportlehrer Komarow, mit dem der Herr Doktor auch privat ab und zu ein, zwei Wodka trank, war ihm somit sehr willkommen.

Anna wurde auf einem Stuhl platziert und musste warten, bis die vier Erwachsenen genügend höfliche Floskeln ausgetauscht hatten. Danach widmeten sie sich dem unartigen Mädchen, dem in den Mund gesehen, in die Augen geleuchtet und Temperatur abgenommen wurde. Zu viert standen sie über das Kind gebeugt, schüttelten mit den Köpfen und fragten, einer nach dem anderen, wieso es in die Fontanka gesprungen war. Eine Antwort bekamen sie nicht. Stattdessen sah Anuschka teilnahmslos zu Misha Masha, die auf ihren ausgebreiteten Handflächen saß.

»Das ist alles nur wegen diesem dämlichen Stofftier passiert«, bemerkte Komarow.

»Dieses Ding hat Anna pausenlos bei sich«, fügte Koslowa hinzu.

»Das kann doch nicht normal sein, verehrter Herr Doktor. Oder? Doch nicht in diesem Alter!«, ergänzte Rektorin Baranowa.

Der Schularzt beobachtete Anna noch ein paar Augenblicke, um sich sicher zu sein, und pflichtete seiner verdienstvollen Vorgesetzten bei. »Jaja. In der Tat, in der Tat. Hier stimmt etwas nicht. Folge meinem Finger, Mädchen.«

Anuschka gehorchte.

»Beine übereinanderschlagen. Nicht erschrecken, ich teste deine Reflexe.« Der Doktor klopfte ihr mit einem kleinen Kunststoffhammer auf das oben liegende Knie, was ihr Bein in die Höhe wippen ließ. Das amüsierte Anna und sie lächelte.

»Das findest du lustig, was?«, fragte Schtscherbakow und sie nickte. »Und du möchtest nicht verraten, weshalb du in den Fluss gesprungen bist?«

Anna hob Misha Masha und streckte sie dem Arzt entgegen.

»Ich sehe, du hast ein Bärchen, aber ich habe dich etwas gefragt. Nun?«

Anna senkte ihren Kopf und sah wieder abwesend aus.

»Herr Komarow, erzählen Sie bitte noch einmal, was passiert ist«, bat die Klassenlehrerin ihren Kollegen.

»Na, was soll ich sagen? Sie ist einfach gesprungen und ich dann hinterher. Mehr war da nicht. Es ging sehr schnell.«

»Solche Lehrer brauchen die Schulen!«, lobte Baranowa.

»Vorbildlich, vorbildlich«, bestätigte Schtscherbakow. »Nun, es ist eindeutig. Was wir hier vor uns sehen, ist ein mental zurückgebliebenes Kind. Es ist nichts Schlimmes, aber sie ist ein bisschen langsam im Kopf. Ich würde schätzen, dass sie auf dem Stand einer Vierjährigen ist.«

»Wusst ich's doch!«, freute sich die Rektorin.

»Das erklärt, wieso Anna immer so abgelenkt ist. Es ist, als wäre sie meistens sehr weit weg«, meinte die Klassenlehrerin, die glaubte, jetzt zu verstehen.

»Genau! So ist es! Die hellste Leuchte ist sie nicht und wird es auch nie sein«, schloss Schtscherbakow absichtlich harsch, damit seine Arbeitskollegen etwas zu lachen hatten, und tätschelte Annas Kopf, die starr sitzenblieb. Sie spürte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen, dass sie kribbelten und dass ihr Herz schneller schlug, gleichzeitig bemühte sie sich, ihre Hände nicht zu verkrampfen, um Misha Masha nicht wehzutun.

Danke, sagte das Bärchen und streichelte mit einer Pfote die Finger von Anna, was sie ein wenig beruhigte.

»Was sollen wir mit ihr tun, verehrter Herr Doktor«, fragte Baranowa.

»Als Erstes müssen wir ihr dieses dumme Spielzeug wegnehmen!«, beschloss Klassenlehrerin Koslowa plötzlich gereizt und riss Anna ihre Misha aus den Händen. »Wir betreiben hier doch kein Spielzeuggeschäft, sondern eine ehrbare Schule, richtig, Frau Baranowa?«

Ahh! Hilfe! Hilfe!

Von der Grobheit ihrer Lehrerin überrumpelt, begann Anuschka bitterlich zu weinen, aber nicht, wie sie es sonst tat, stumm und ausdruckslos, sondern laut und schrill, sodass den Anwesenden die kleinen Härchen auf Nacken und Armen zu Berge standen.

Frau Baranowa kam nicht mehr dazu, ihrer Kollegin zu antworten, denn in diesem Moment betrat Feodora das Sprechzimmer, deren Herz brach, als sie ihre leidende Tochter inmitten der vier Schulbediensteten sah.

»Was ist hier los?«, fragte sie entsetzt, stürzte zu ihrem Kind, nahm es in die Arme und fragte erneut, nun mit einer sanften und besorgten Stimme, was los sei.

»Sie haben Misha Masha gestohlen«, stammelte Anna und zeigte auf ihr Kuscheltier.

»Ihre Tochter, Frau Smirnowa, ist heute in die Fontanka gesprungen«, berichtete die Schulleiterin, darauf bedacht, möglichst energisch und einschüchternd zu sprechen. »So etwas hat es bei uns noch nicht gegeben!«

»Frau Smirnowa, ich muss Ihnen leider sagen, dass ihr Kind zurückgeblieben ist…«, ergänzte Komarow, der vom vielen Lob dieses Tages beflügelt war und mitreden wollte. Seiner Art entsprechend tat er es taktlos und ungeschickt. Selbst die Rektorin, die Klassenlehrerin und der Schularzt sahen ihn unverständig an, aber der einfach gestrickte Sportlehrer begriff nicht, weshalb. Und als er seinen Mund aufmachte, um nachzufragen, was los war, da durchschnitt ihm Feodora das Wort indem sie aufstand, sich vor ihn stellte, »Pscht!« zischte und ihre geballte Faust vor seiner Nase zittern ließ. Er hielt seinen Mund und tat gut daran, nicht so Koslowa, die Anstalten machte, etwas zu sagen.

Mehr als ein »Aber ich bitte Sie, Frau…« brachte sie nicht heraus, denn schon war Feodora bei ihr, packte sie fest am Handgelenk, nahm Misha Masha an sich und überreichte sie ihrer Anuschka.

Jetzt wird alles gut, jetzt ist Mama da, sagte das Bärchen und zeigte den Lehrern und dem Arzt die Zunge. Anna machte es ihrem Stofftier nach, bevor sie von ihrer Mutter nach draußen auf den Flur geführt und gebeten wurde, kurz zu warten.

Als Dora wieder im Ärztezimmer war, begann ein hysterisches Geschrei, wie Anna es von ihrer Mama noch nie gehört hatte. Dem Schulpersonal wurden die Leviten gelesen, auf äußerst laute und vernichtende Art. Keiner der vier noch wenige Minuten zuvor bestens gelaunten Arbeitskollegen traute sich, Paroli zu bieten. Das rückradlose Quartett ergab sich also den Beschützerinstinkten einer furchtlosen Mutter, gegen die es ohnehin nicht ankommen konnte.

Endlich begriffen Baranowa und Konsorten, dass sie sich dieses Mal vertan hatten, dass dieses Mal eines der wenigen Male war, da sich ein Elternteil nichts einreden ließ, sondern augenblicklich verstand, dass die Führungsriege dieser Schule unfähig und charakterlos war.

Dora hielt sich nicht zurück, erklärte, dass es unerhört sei, wie in dieser Institution mit den Kindern umgegangen wurde, dass sie allesamt gefeuert werden sollten, dass es die Verantwortung der Lehrer sei, auf die Kinder aufzupassen, und nicht, diese zu verängstigen und für dumm zu befinden. Weiter versprach sie, dass ihre Anwaltskanzlei über die Schule hereinbrechen werde wie Heuschrecken über ein biblisches Dorf, wenn einer von den Anwesenden ihre Tochter noch einmal unangemessen behandeln sollte.

Feodoras Drohungen zeigten Wirkung, vor allem, weil nur sie wusste, dass sie bluffte, dass kein Anwalt ihrer Kanzlei einen Finger rühren würde, ohne bezahlt zu werden, und dass sie keinen einzigen Rubel überhatte, der nicht für Miete oder Essen draufging.

Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte sie aus der Arztpraxis, hievte ihr Kind in ihre Arme und trug es erst nach draußen und dann den ganzen Weg nach Hause, um es zu umsorgen.

Anna war wieder ruhig geworden, weinte nicht mehr und besprach das Geschehene mit Misha Masha, und dennoch; Dora machte sich Sorgen. Sie fragte sich, wie viel eine Kinderseele ertragen konnte.

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