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Plattenbauten im Regen

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Anna und Misha Masha sahen beim Fenster hinaus. Es war ein verregneter Nachmittag im April, an dem keine Menschenseele nach draußen ging, wenn sie nicht musste. An solchen Tagen war Abenteuerlust rar gesät. Pyjama, Pantoffeln und Couch wiederum lockten verführerisch. Ein Tee oder ein heißer Kakao mit Marshmallows, ein halbwegs gutes Fernsehprogramm, zum Beispiel Mary Poppins, Annas Lieblingsfilm, und ein Kuschelpartner verliehen solchen Nachmittagen einen lebensbejahenden Zauber, aber hierzu sollte es an diesem Tag nicht kommen.

Aus der Küche schwappte ein Geruch von frischgekochtem Borschtsch zu Anna ins Wohnzimmer, das gleichzeitig Schlafzimmer war. Was dieser süßliche Geruch bedeutete, wusste sie. Ihre Mama würde bald nach ihr rufen, sie würden miteinander essen und gleich darauf würde Mama sie wieder allein lassen.

Feodora war zwar erst eine halbe Stunde zuvor von der Arbeit nach Hause gekommen, aber dort musste sie wieder hin, wie jeden späten Nachmittag. Es waren diese unbezahlten abendlichen Überstunden, dank derer sie ihre Arbeit behalten durfte, auf die genügend andere und auch qualifiziertere Anwärterinnen hofften. Feodora musste sich auf die Spielregeln ihres Arbeitgebers, des Advokaten Medwedew, einlassen. Was im Arbeitsvertrag stand, war irrelevant. Sie hatte zu tun, was er ihr sagte, ansonsten flog sie und mit ihr ihre Träume von einem besseren Leben für ihre Kleine.

Schlimm war das für die 43-jährige Dora aber nicht, die gerne arbeitete, weil ihre Arbeit sie erfüllte. Zum ersten Mal fühlte sie sich als Teil der Gesellschaft und das, obwohl sie ihrer Meinung nach nichts Großartiges leistete. Handschriftlich geschriebene Texte abzutippen, sie zu kopieren, einzuordnen oder zur Post zu bringen, Passagen aus Büchern zu kopieren und Ähnliches zu erledigen, was in einer Anwaltskanzlei an Hilfsarbeiten anfiel, konnte jeder, pflegte sie zu sagen.

Somit war es gar nicht Dora, die unter ihrer vielen Arbeit litt, sondern die kleine Anna, die nur bedingt verstehen konnte, weshalb ihre Mutter kaum bei ihr und sie Tag für Tag auf sich allein gestellt war. Sie ahnte, dass Mama tun musste, was sie tat, und dennoch konnte sie nicht anders, als während der einen Stunde, in der Feodora nachmittags zu Hause war und für sie kochte, zu schmollen und beleidigter zu tun, als sie es tatsächlich war.

Und deshalb blieb Anuschka, als ihre Mutter nach ihr rief, noch ein Weilchen sitzen und sah den Regentropfen zu, wie sie unberechenbare Wege über die Fensterscheibe nahmen.

Die drei Smirnowa-Damen hatten sich in der 14ten von 16 Etagen niedergelassen, in einer kleinen Wohnung, deren Inhalt und Bedeutung in Relation zur Größe des Plattenbaus verblassten. Der riesenhafte Bau verkümmerte wiederum im Großsiedlungsmeer, das sich wie ein Gürtel um die Stadt zog, zu einem vernachlässigbaren Pixel. So verhielt es sich auch mit den Straßen, Geschäften, Parks und Höfen dieser Gegenden, was noch zu ertragen gewesen wäre, aber genauso unsichtbar wie ihre Bezirke waren die Arbeiter selbst.

Diejenigen, die das größte Land der Erde in Gang hielten, waren Unsichtbare, und diejenigen, die das Land in den Ruin trieben, kannte die ganze Welt.

Während die einen immer reicher wurden, sich prachtvolle Paläste, Denkmäler und Feriendomizile errichten ließen, wurden die Unsichtbaren zunehmend ärmer. Und seit die unliebsamen Vorfälle auf der Krim ein Jahr zuvor begonnen hatten, war es besonders schlimm geworden. Der Rest der Welt konnte nicht mit ansehen, wie ein sowjetischer Prinz sein verlorenes Erbe zurückholen wollte, und ließ es Russland spüren. Doch dem Prinzen war es egal gewesen, denn er hatte, was er brauchte, und darüber hinaus noch viel mehr. Er musste die Rechnung nicht begleichen. Anders verhielt es sich mit den Unsichtbaren, deren Armut mit wachsender Unzufriedenheit Hand in Hand ging, Mundwinkel nach unten zog und Köpfe schwer von den Schultern hängen ließ.

Für die wenigen, die obenauf waren, war es gut, dass die Unsichtbaren keinen Ort hatten, um vor ihrem Schicksal zu flüchten. Sie mussten bleiben, wo sie waren, und mussten tun, was sie taten, sonst wären sie die ersten gewesen, die in den Abgrund geschlittert wären. Und sich selbst zu opfern, um die gesamte Föderation zu stürzen, dafür ging es den Unsichtbaren nicht schlecht genug. Noch wiederholte sich 1917 nicht.

Hätte es die Unsichtbaren aus einem wunderlichen Grund plötzlich nicht mehr gegeben, erst dann hätte die Obrigkeit bemerkt, dass es ohne sie nicht ging.

Und wäre es aus einem noch wunderlicheren Grund möglich gewesen, die Vielfalt des menschlichen Lebens sichtbar zu machen, wie Städte es bei Nacht aus der Vogelperspektive sind, dann wären es die Randbezirke gewesen, diese wunderbar chaotischen und leidenschaftlichen Ballungszentren, die von oben am besten zu sehen gewesen wären. Nirgendwo anders auf der Erde gab es derart viel Freude und Kummer, Lust und Schmerz, Verzweiflung und Hoffnung, wie in den Blocks an den Rändern der Städte. Dort lebten diejenigen, deren Stimmen nicht gehört wurden, was aber nicht hieß, dass die Unsichtbaren nichts zu sagen hatten.

Naturgemäß wusste die kleine Anna von solchen Dingen nichts. Sie konnte noch nicht einmal flüssig lesen und nur ein bisschen schreiben, denn ihr erstes Schuljahr würde erst im kommenden September beginnen. Was sie aber hervorragend konnte, war still dazusitzen und zu beobachten, was um sie herum geschah. Bisher war das nicht viel gewesen, denn sie kannte nur ihr Dorf Derevnya, das Innere ihrer Wohnung in St. Petersburg und den Hinterhof ihres Plattenbaus.

Manchmal ging sie mit ihrer Mutter Lebensmittel einkaufen, in einen nahegelegenen Park an der Newa spazieren oder für eine halbe Stunde in den Hof spielen, den vier massive Betonriesen umzingelten wie Aasgeier einen Kadaver. Aber meistens saß sie auf ihrem Lieblingshocker, unterhielt sich mit Misha Masha, die auf dem Fensterbrett vor ihr stand, und gemeinsam sahen sie hinunter in den Hof, der beinahe immer im Schatten lag. Nur in der Früh und am frühen Abend zwängte sich die Sonne zwischen den Gebäuden hindurch und erhellte diesen ansonsten düsteren Ort.

Zu diesen Zeiten sah Anna am liebsten hinunter, denn dann veränderte sich das graue Draußen und wurde für je eine halbe Stunde zu einer farbenfrohen Miniaturwelt. Die Bäume bekamen ein sattes Grün, der Sand im Sandkasten ein exotisches Beige, das metallene Gestell der Schaukel strahlte rot und die Rutsche trug ein wunderschönes Ostseeblau. Auch die vorbeigehenden Erwachsenen und Kinder, deren Häute und Gewänder, Hunde und Einkäufe, all das lebte und nahm das Sonnenlicht gierig in sich auf, bevor es wieder verschwinden würde und mit ihm alles Lebendige, Fröhliche, Positive.

Alles, was im Hof geschah, wirkte vom 14ten Stockwerk aus weit entfernt und ließ sich gut beobachten. Für Anna war es, als würde sie fernsehen, und je nach Tageszeit lief ein fröhliches oder ein trauriges Programm.

Feodora wusste, dass ihr Kind noch zu klein war, um häufig allein gelassen zu werden, aber es sollte nur für kurze Zeit so weitergehen. Früher oder später würde sie eine bessere Lösung finden, dessen war sie sich sicher. Abgesehen davon befand sie ihr Kind für schlau und vernünftig genug, dass es nichts Unüberlegtes tun würde, während sie weg war. Jeden Tag kochte Dora ihrer Anuschka genug Essen vor, sodass sie nicht hungern musste. Mittags kam sie für eine Stunde nach Hause und abends unterhielt sie Anna so lange, bis das Mädchen einschlief.

Und damit Anna es tagsüber möglichst guthatte, hatte Feodora während der ersten paar Tage, bevor sie im neuen Jahr zu arbeiten begann, alles in ihrer Macht stehende getan, um aus ihrer Einzimmerwohnung ein Wohlfühlparadies zu zaubern. Einfach war das nicht gewesen, weil die Wohnung kahle Wände und nur wenige Möbeln vorgewiesen hatte sowie kaum Geld für die Anschaffung neuer Einrichtungsgegenstände oder Dekorationsmaterialien vorgesehen gewesen war.

Aber Dora hatte sich zu helfen gewusst, hatte schon in Derevnya vorgeplant, bunte Papierbögen, Schere, Kleber und weitere Bastelartikel, die sie übergehabt hatte, mitgenommen, einen Bekannten aus früheren Tagen kontaktiert, der in Petersburg lebte, Malermeister war und ihr Farbreste überlassen konnte sowie eine Nachbarin besucht, deren Tochter Näherin in Petersburg war und ihr Stoffreste schenkte. In einem städtischen Anzeigeblatt, das wöchentlich herausgegeben wurde, hatte Dora alle Nummern durchgerufen, unter denen alte Decken, Tischlein, Hocker, Töpfe, Pfannen oder andere Gebrauchsgegenstände kostenlos abgegeben wurden – mit Erfolg.

Die ersten paar Tage in ihrer neuen Stadt waren eine Rennerei gewesen, von einem Gönner zum nächsten, von einem Bezirk zum anderen, aber am Abend des vierten Tages war es vollbracht gewesen; aus der farblosen Einzimmerwohnung war ein gemütliches Nest geworden. Die farbenfrohen und eigenhändig bemusterten Wände, die elegant eingesetzten Stoffe, die neu bestrichenen Holzmöbel und die vielen geschenkten Decken und Polster machten aus der Wohnung eine einzige Kuschelecke.

Fertig war das Projekt Kinderstube, wie Dora es Anna gegenüber scherzhaft nannte, noch lange nicht, aber das Gröbste war geschafft.

Eine einzige Sache hatte sie dazukaufen müssen, und zwar Kindersicherungen für die Fenster, den Ofen und den Herd sowie für den Schrank mit den Putzmitteln. So hatte Feodora ein Mindestmaß an Sicherheit für ihre Tochter geschaffen. Und um möglichst beruhigt zu sein, dass ihrem größten Schatz nichts passierte, sperrte sie ihr Kind während ihrer Abwesenheit ein, weniger, damit es nicht hinauskonnte, und mehr, damit keiner zu Anna und ihr etwas anhaben konnte.

Anuschka Tag für Tag wegzusperren wie ein Tier, das eine derartige Behandlung ebenfalls nicht verdient hätte, war das Traurigste, was Feodora in ihrem bisherigen Leben widerfahren war. Es brachte sie jeden Morgen dazu, auf ihrem Weg zur Arbeit ein paar Tränen zu vergieße. Damit war die Sorge um ihr einziges Kind natürlich nicht weggewaschen, denn die Angst, Anna könnte sich in ihrer Abwesenheit verletzen, begleitete die Mutter den ganzen Tag. Gleichzeitig wusste sie, dass es nur ein vorübergehender Zustand war, der nur bis zum Anfang des Schuljahres anhalten würde. Mit diesem Gedanken beruhigte sich Dora, wenn sie zu sehr in Sorge und manchmal in Panik um ihr Kind verfiel, doch eine tiefsitzende Gewissheit, dass sie eine Rabenmutter sei, würde ihr restliches Leben an ihr haften bleiben.

»Anna, komm jetzt! Essen ist fertig!«

»Komm Misha, gehen wir essen. Mama muss bald wieder los.« Anna schnappte sich ihr Stofftier, stieg vom Hocker und ging in die Küche, wo eine dampfendheiße Schüssel Suppe mit reichlich Gemüseeinlagen auf sie wartete.

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