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Im Hof der Puschkin-Siedlung

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Anna stand in der Wohnungstür und Feodora musterte sie. »Wann bist du nur so groß geworden?«

»Mama, ich muss los, Polina wartet schon.«

»Sie kann sicher ein paar Sekunden warten«, winkte Mama Dora ab. »Wenn ich daran denke, dass du bald Vierzehn wirst, Anuschka, verstehe ich nicht, wo die Zeit abgeblieben ist!« Sie zupfte ihrem Kind die Schuluniform zurecht und wischte ihm mit dem Daumen eine verlorengegangene Wimper von der Wange.

»Zu hübsch«, murmelte Feodora gedankenverloren und betrachtete die flachen Ballerinas, die dunklen Strümpfe, den kurzen dunkelblauen Faltenrock, die weiße Bluse mit dem Kragen aus Spitze, die beiden brünetten Zöpfe, die reine weiße Haut, rosa Wangen, das dezente Muttermal über Annas linkem Mundwinkel und deren haselnussbraune Augen. »Du bist zu hübsch geworden«, sagte sie. »Ohne jede Schminke, eine Augenweide.«

»Danke, Mama, aber darf ich jetzt gehen, bitte?«

Dora hatte nicht vorgehabt, ihrem Kind ein Kompliment zu machen. Sie sorgte sich, weil sie wusste, wie gefährlich Mädchen lebten, die so schön wie ihre Anuschka waren.

»Ja, lauf Mädchen, lauf und hab Spaß.«

»Danke.«

Dora konnte sich nicht entscheiden, ob es gut war, dass Anna aus ihrer Stummheit herausgewachsen war, auch wenn sie dafür gebetet und Gott ihre Gebete erhört hatte. Aber jetzt verstand sie die Bereitschaft ihres Kindes, mit anderen zu kommunizieren, als eine neue Gefahr. Dass sie nur an niemand Böses gerät, hoffte sie.

»Wenigstens ist sie noch zu keinem Plappermaul geworden«, sagte Feodora zu sich, während sie Anna nachsah, die im Flur davonstürmte. »Und gegen sechs Uhr gibt es Abendessen, hörst du?«, schrie sie hinterher und ging zurück ins Innere der Wohnung. Just, als sie die Türe schließen wollte, hielt Anna sie auf, die zurückgelaufen war. Erst küsste sie ihre Mutter auf die Wange und dann ließ sie Misha Masha es tun.

Manches änderte sich nie.

»Ich habe das Kuchenstück für Polina vergessen, gibst du es mir bitte.«

»Wenn dein Kopf nicht angewachsen wäre, würdest du auch ihn vergessen.«

Masha wanderte in die Rocktasche und das in Papier eingewickelte Stück von dem Himbeer-Joghurt-Kuchen, den die drei Smirnow-Damen am vorigen Abend gemeinsam gebacken hatten, wurde von Anna behutsam in Empfang genommen, als ob es fragil wie ein frischgeschlüpftes Küken wäre.

Das Kind war deshalb so fahrig, weil es sich beeilte. Es war erst zehn Minuten zuvor von der Schule nach Hause gekommen, um einen Apfel zu essen, ein Glas Milch zu trinken und den Schulranzen dazulassen, vor allem aber aus Gewohnheit, um Mutter Hallo zu sagen. Polina hatte in etwa das Gleiche getan und jetzt beeilten sich die beiden Mädchen wieder zueinander, weil sie einander noch viel zu erzählen hatten – wie immer.

An diesem Tag hatten sie in der großen Pause begonnen, sich eine Geschichte auszudenken. Es ging um zwei Mädchen in ihrem Alter, die in einem verwunschenen Wald lebten. Dort hatte jedes der Mädchen ein eigenes Haus, es gab geheime Gärten, Labyrinthe und traumhafte Lichtungen, die versteckt waren und von denen nur sie beide wussten. An dieser Geschichte wollten sie noch ein bisschen feilen und bald vielleicht sogar ein Buch zusammen schreiben.

Als Anna ihren Wohnblock, den westlichen der vier baugleichen Betonklötze, durch die hofseitige Tür verließ, sah sie Polina schon von weitem bei den Schaukeln auf sie warten. Sie lief ein Stück, stolperte über eine nach oben ragende, von Witterung und Zeit gelockerte Betonkachel, fing sich gerade noch rechtzeitig vor dem Fall und beschloss, lieber doch im Schritttempo weiterzugehen. Sie wollte Polinas Kuchenstück nicht vom Boden kratzen müssen.

»Na, Tollpatsch, noch mal gutgegangen«, rief Polina ihr zu.

»Ja, hier, habe ich gestern Abend mit meiner Mutter gebacken. Das Stück ist für dich.«

»Danke. Apropos deine Ma. Ich glaube, sie will, dass du ihr winkst.«

Anna drehte sich um, sah nach oben zum 14. Stockwerk und winkte Feodora, die beim Fenster stand und hinuntersah. Polina winkte auch.

»Gehen wir an die Newa spazieren?«

»Ich weiß nicht, lieber nicht. Bleiben wir hier. Ich muss in eineinhalb Stunden wieder da sein.«

»Na gut, aber dann werden wir die ganze Zeit von deiner Mutter beobachtet.«

»Stört dich das?«, fragte Anna verwundert.

»Nein, ist schon okay.« Polina sah zu den Fenstern ihrer Wohnung, wo niemand zu sehen war.

»Musst du dann nicht auch zu Abend essen?«

»Nein, bei uns ist grad keiner. Mutter und Vater sind verreist. Aber wir haben Geld bekommen. Iwan hat gesagt, dass er uns später Hot Dogs besorgt.« Polina versuchte fröhlich zu klingen, klang aber betrübt.

»Das tut mir leid.« Anna verstand, dass es ziemlich langweilig sein musste, den ganzen Tag allein zu Hause zu sein. Das kannte sie von früher. Und immer nur Hot Dogs zu essen, die Iwan brachte, weil weder er noch seine Schwester wussten, wie man kochte, war sicher auch nicht besonders lecker.

»Wieso? Ist doch alles gut.« Polina wollte weder Schwäche zeigen noch bemitleidet werden und schämte sich ein bisschen, weil ihr anscheinend beides nicht gelang. Um ihre Freundin zu überzeugen, versuchte sie es mit einem »Sturmfrei, juhu!«, das allerdings gekünstelt und wenig froh klang.

»Okay«, erwiderte Anna verunsichert.

»Gut.« Polina vermochte weder sich selbst noch ihre beste Freundin davon zu überzeugen, dass es ihr nicht an elterlicher Führsorge fehlte. Offen konnte sie darüber aber auch nicht sprechen.

Nun schmollten beide, aber da Anna sich noch sehr gut daran erinnern konnte, wie schlecht und einsam sie sich gefühlt hatte, als sie häufig alleingelassen wurde, wusste sie auch, was Polina in ihrer Situation am meisten brauchte, und zwar ein bisschen Aufmunterung. Also ging sie zu ihr, die sich auf eine der beiden Schaukeln gesetzt hatte, umarmte sie und setzte sich dann auf die Schaukel daneben.

»Na gut, dann lass uns weiter überlegen, was Chloe und Sarah noch alles in ihrem verwunschenen Wald anstellen können.«

»Gut«, Polinas Kinn zitterte ein wenig, weil sie von der körperlichen Nähe, die sie nicht gewohnt war, gerührt war. Um ihre Gefühlsregung zu kaschieren, packte sie ihr Kuchenstück aus, biss herzhaft hinein, sah nach oben zu Dora, die nach wie vor dastand, und streckte ihr einen Daumen entgegen. Erst jetzt, zufrieden mit dieser Reaktion, zog sich die wachsame Mama zurück. »Mhh, der ist wirklich gut!«, murmelte Polina mit vollem Mund und fühlte sich besser, was das ehrliche Lächeln in ihrem Gesicht bestätigte.

Auf diese Worte hatte Anna gewartet. »Das freut mich.« Sie holte ihr Stofftierbärchen aus ihrer Rocktasche, setzte es sich in den Schoß und begann zu schaukeln. »Auf jeden Fall brauchen wir noch ein drittes Haus, aber ein kleineres, damit Misha Masha drinnen wohnen kann. Dort kann sie den ganzen Tag machen, was sie am liebsten macht, nämlich naschen, richtig, Misha?«

Ja, genau richtig!

Die eineinhalb Stunden vergingen unbemerkt und viel zu schnell, wie meistens, wenn die beiden besten Freundinnen zusammen waren. In fünfzehn-Minuten-Abständen prüfte Feodora, ob es ihren Mädchen gutging, was Anuschka und Polina die ersten beiden Male noch bemerkten und mit Zurückwinken honorierten, später aber nicht mehr beachteten. Dafür waren die Tiere, Fabelwesen und vielleicht sogar Prinzen, die sich in ihrem verwunschenen Wald tummelten, zu spannend gewesen.

Erst als Iwan ihnen auf einem der vier Wege entgegenspazierte, die zwischen den vier Blockbauten der Puschkin-Siedlung ein Kreuz bildeten und in deren Mitte der Spielplatz lag, sah Anuschka wieder hoch zu ihrer Mama, die ihr mit heftig winkenden Handbewegungen deutete, nach oben zu kommen. Wieso diese Blocks von den Anwohnern als Puschkin-Blocks bezeichnet wurden, das wussten sie selbst nicht mehr so genau, aber es ging das Gerücht um, dass ein Nachkomme des berühmten Dichters Alexander Sergejewitsch Puschkin hier gewohnt haben soll.

»Essenszeit, Polina. Ich muss nach oben.«

»Hallo, Zwerge«, rief Iwan von weitem.

»Was zum…«, begann Polina zu fluchen. Iwan wankte, hielt eine in einer Papiertüte eingewickelte Flasche in der einen Hand und in der anderen nichts.

»Iwan! Du hast gesagt, dass du etwas zum Essen mitbringst! Und was ist das?« Sie ging zu ihrem Bruder, riss ihm die Flasche aus der Hand und roch daran. »Wodka? Spinnst du? Das darfst du nicht.«

Iwan grinste sie betäubt und gleichgültig an, ohne etwas zu sagen. Polina zögerte kurz, ihre Oberlippe zuckte einmal, dann schmierte sie ihm eine Ohrfeige – und was für eine.

»Aua!«, schrie er, mit einer Gesichtshälfte roter als der anderen.

»Du kleines Arschloch! Du wirst jetzt wieder zurückgehen und uns etwas zu essen kaufen, so wie du es versprochen hast. Hast du verstanden?«, schrie sie und ihr standen die Tränen in den Augen. Iwan versuchte nach dem Wodka zu schnappen, torkelte im Stand und verfehlte ihn.

»Oh! Das hast du nicht getan!?« Polina schleuderte die Flasche mit all ihrer Kraft gegen die Rutsche und das Glas zersprang in viele Scherben. Er sah sie verwundert an und wollte etwas sagen, da verpasste sie ihm noch eine Ohrfeige.

»Scheiße, okay, okay. Ich geh ja schon. D-du bist ja verrückt.«

Nachdem er gegangen war, zitterte Polina noch immer vor Wut und sah ihm nach, bis er außer Sichtweite war. Auch wenn Anna schon gehen musste und ihre Mutter nicht mehr nur hinter dem geschlossenen Fenster stand, sondern es aufgemacht hatte, auf dem Fensterbrett lehnte und die Szenerie genau beobachtete, blieb sie noch ein bisschen und umarmte ihre Freundin wie zuvor.

»Danke. Das tut gut.« Polinas Zittern legte sich und zum Dank gab sie Anna einen Kuss auf die Wange.

»Anuschka! Nun komm doch! Deine Wareniki werden kalt!«

»Ich komme!«, rief das Mädchen mit dem Stoffbärchen nach oben und wandte sich wieder zu Polina. »Möchtest du mitkommen? Es gibt sicher genug für uns alle.«

»Nein, danke. Lass mal. Ich gehe lieber nach Hause und warte auf diesen Idioten. Außerdem habe ich nach dem Kuchen eh keinen Hunger. Aber ich muss auf meinen Bruder aufpassen, weißt du?«

»Ja, ich weiß. Dann bis morgen in der Schule.«

»Ja, bis morgen.«

Anna lief zu ihrem Block und Polina ging zurück zu den Schaukeln, wo sie noch eine Weile saß, bevor sie nach Hause ging.

*

Es kam vor, dass Anna und Polina sich nach der Schule treffen und länger Zeit miteinander verbringen wollten, als bis um sechs Uhr, wenn das alltägliche Abendessen angesetzt war. Das Recht, länger draußen bleiben und sich auch außerhalb des Hofs befinden zu dürfen, mussten sie sich allerdings mühsam erkämpfen. Ohne Quengeln ging das nicht. Es war ein Gezerre zwischen jugendlicher Neugierde und übervorsichtigen Erfahrungswerten.

Erst wollten die beiden Mamas nicht zustimmen, also bedienten sich die Mädchen zweier höchst effektiver Werkzeuge ihres Alters; des unaufhörlichen Nörgelns und zaghaften, doch sukzessiven Überschreitens der aufgestellten Grenzen.

Manchmal gelang es Anna und Polina sehr gut, sich davonzustehlen, erst nur außer Sichtweite, also weg vom Hof und auf die andere Seite einer der vier Blockbauten, dann schon weiter weg, zum Beispiel zur nächstgelegenen Hauptstraße, der Pribrezhnaya Straße. Dort befanden sich zahlreiche Geschäfte, etwa ein Supermarkt, eine Bäckerei, ein Eisladen, ein Stoffladen und weitere Detailgeschäfte, und die Mädchen hatten es sich zum Ziel gesetzt, jedes einzelne dieser Geschäfte zumindest einmal zu besuchen.

Wenn solche Ausflüge problemlos verliefen und die Mädchen nicht allzu spät zu Hause waren, bekamen sie keinen Ärger. Dann mussten sie sich höchstens ein paar erzieherische Kommentare anhören. Wenn aber etwas Außerplanmäßiges geschah, zum Beispiel Anna ihre Schlüssel zu Hause vergaß, was ihr immer wieder passierte, und sie deshalb nach einer Regelbrechung von ihrer Mutter von unten raufgeholt werden musste, weil das elektrische Türschloss defekt war, dann drohten zeitlich begrenzte Ausgehverbote.

Oder einmal, als Anna aufgebracht und weinend heimgekommen war, weil ein Obdachloser die beiden Mädchen forsch angeschrien hatte, da hatte es auch Konsequenzen gegeben; eine Woche Spazierverbot. Dabei hatte Anna dem älteren, nach Schweiß und monatelang ungewaschenem Gewand stinkenden Herrn lediglich angeboten, dass sie ihm gerne ein Stück Kuchen von zu Hause holen könne, weil sie kein eigenes Geld besäße, aber das hatte ihn nur noch wütender gemacht.

Nach solchen Vorfällen wurden Anna und Polina ermahnt, dass sich von nun an einiges ändern würde und sie in Zukunft wirklich im Hof bleiben sollten, damit nichts Schlimmes passieren konnte. Das taten sie dann auch, zumindest für ein paar Tage oder höchstens eine Woche. Danach fingen die zaghaften Grenzüberschreitungen wieder von vorne an: Das Verschwinden hinter einem der Wohnhäuser, das Spazieren zu einem der Läden an der Hauptstraße oder, wenn sie sich besonders verwegen fühlten, ein Ausflug hinter den östlichen der vier Blocks, über die Rybatskiy Allee, wo sich ein kleiner Park direkt an der Newa befand.

Da Anna im westlichen Block wohnte und Polina im nördlichen, ihre Mütter theoretisch also eine gute Sicht auf die Ausreißerinnen hatten, wenn sie nach Osten hin ausbüxen wollten, mussten sie sich in diesen Fällen besonders geschickt anstellen. Sie konnten nicht auf direktem Wege, zwischen Block Nord und Block Ost beziehungsweise zwischen Block Ost und Block Süd davonspazieren. Das wäre zu frech gewesen, sollte eine der beiden Mütter gerade aus dem Fenster sehen. Stattdessen war es die bessere Taktik, erst ein bisschen auf dem Spielplatz rumzulungern, dann hinter einem der „Mütter-Blocks“ zu verschwinden und sich von dort aus an die Newa zu beeilen, um den Bogen nicht vollends zu überspannen.

Diese Vorsichtsmaßnahmen waren notwendig, da der Park an der Newa tabu war, noch mehr als die Pribrezhnaya Straße oder sonstige Gegenden rundherum. In letzter Zeit waren es nämlich zunehmend mehr Verarmte, Bettler oder Trinker, die sich laut Dora in ihrem Bezirk breitmachten, weshalb man nicht vorsichtig genug sein konnte. Und der Park an der Newa, der unter diesem Namen auf jeder Stadtkarte zu finden war, war Doras Meinung nach der gefährlichste Ort in ihrer Umgebung.

Tagsüber ging es noch, aber abends trafen sich dort die vielen Armen, die Verzweifelten, also die besonders bemitleidenswerten Exemplare der Unsichtbaren. Und dort tranken sie dann gemeinsam ihren Billigfusel, debattierten über die Missstände in ihrem Land und lachten hin und wieder unnatürlich hysterisch auf, wenn sie den heilsamen Moment des Alkohols erwischten.

»Die Menschen haben keine Arbeit mehr, keine Beschäftigung, und deshalb kommen sie auf komische Gedanken. Sie sind unzufrieden, das ist doch kein Wunder, denn sie haben doch nichts. Und dann werden sie neidisch… und gefährlich«, hatte Feodora einmal zu ihrer Tochter gesagt. Und weiter: »Was machen sie denn den lieben langen Tag? Sie trinken sich die Rüben weich. Und das ist sogar noch gefährlicher.«

Alles in allem waren diese Grüppchen harmlos, aber sie ließen die Stadt zerlumpter aussehen, als sie es ohnehin schon war. Ein Jammer, dachten die Bürger, die sich ein selbstloses Denken noch erlauben konnten. Würden sich die Politiker ein bisschen besser um unsere Stadt kümmern, würde es hier so schön wie in Wien aussehen. Oder schöner.

In den Nachrichten predigten sie immer wieder, dass es den Russen besser denn je gehe, dass es im Ausland viel schlimmer als zu Hause sei, beispielsweise in Deutschland, wo Ausländer die Städte überrannten und die Menschen nicht mehr sicher waren. Über so etwas sprach man natürlich, auf den Straßen, über Geschäftstheken hinweg und in der Arbeit, aber kaum einer glaubte den Sendern noch – zumindest wenn es um die Zustände im eigenen Land ging. Aber freilich, besser war es in Russland vielleicht schon als in manchen europäischen Ländern, denn arm zu sein, das war eine Sache, aber ständig in Furch vor den Arabern leben zu müssen, das war ein ganz anderes Paar Schuhe. Und wenigstens das würde Präsident Wladimir Wladimirowitsch Nikitin niemals zulassen, waren sich alle einig. Wenigstens etwas.

Obwohl Feodora ihre Anna und Polina explizit und mit Nachdruck vor dem Park an der Newa gewarnt hatte, wussten die Mädchen überhaupt nicht, was die Aufregung sollte. Sie nahmen den Park ganz anders wahr, nämlich als etwas Schönes, Abenteuerliches und Behagliches. Das eine Grüppchen mit den Trinkern und das andere mit den nüchternen Armen bemerkten sie kaum, denn in ihrer Welt spielten andere Dinge eine wichtigere Rolle.

Entweder flanierten sie über die Wege des Parks und am Ufer der Newa, dann fühlten sie sich wie in einem Film über das viktorianische England, oder sie verbuddelten eines ihrer alten Spielzeuge, damit sie irgendwann wieder nachsehen konnten, ob es noch immer da war, oder sie spielten Prinzessinnen, und dann stellten sie sich den Park als ihren Garten vor. Manchmal beobachteten sie Händchen haltende oder kuschelnde Pärchen und mussten schmachten. Das wollten sie auch einmal haben, ohne genau zu wissen, weshalb eigentlich.

Eines warmen, frühherbstlichen Septemberabends, während eines ihrer verbotenen Ausflüge auf die andere Seite der Rybatskiy Allee, spazierten sie am Fluss entlang und plauderten darüber, welche Namen ihre Pferde hätten, wenn sie Prinzessinnen wären. Da hörten sie Iwan gutgelaunt nach ihnen rufen: »Schwesterherz! Und Freundin von Schwesterherz! Kommt zu uns.« Er hockte vor einer Bank am Flussufer, nippte an einer in Papier eingewickelten Flasche und war in Gesellschaft von weiteren Jugendlichen.

»Was meinst du? Sollen wir hin?«, fragte Polina.

»Ja, wieso nicht. Ich finde deinen Bruder lustig.«

»Na ja, wenn er grad kein Idiot ist, dann ist er ganz okay, schätze ich.«

Die beiden kicherten und gingen zu Iwan. Abgesehen von ihm waren da noch zwei andere Jungs und ein Mädchen, das auf den ersten Blick auch wie ein Junge aussah – ein kleiner, dicker.

Sie hieß Molle und fiel auf. Abgesehen von ihrer untersetzten Statur, hatte sie einen kurzen grünen Irokesen, Piercings in Nase und Ohren, schwarze Klamotten mit Aufnähern von satanistischen Bands drauf und eine Attitüde, die klarmachte; komm her und versuch's doch, ich kämpfe bis zum Umfallen.

Jaroslaw saß neben Molle auf der Bank und wurde von den anderen „Stange“ genannt, weil er so groß und dünn war. Seine weiten Hip-Hop-Hosen und sein XXL-Shirt verstärkten diesen Eindruck. Wenn er sprach oder lächelte, stach eine Zahnlücke prominent aus seinem Mund – ihm fehlte ein Einser.

Der dritte im Bunde war Lew, der um die Bank herumstreunte, Steine vom Boden aufhob und schwungvoll in den Fluss warf. Er trug Converse, abgewetzte Jeans, ein My Chemical Romance-T-Shirt und ein schwarzes New York Knicks-Cap. Er war wortkarg und sah nur selten zu den anderen, selbst wenn er sich mit ihnen unterhielt. Es sah nachdenklich aus und war ständig beschäftigt. Wenn er nicht gerade Steine suchte und warf, dann betrachtete er zu Boden gefallene Blätter, balancierte eine Ameise auf einem Finger oder beobachtete angestrengt die gegenüberliegende Uferseite.

Jaroslaw war gleichalt wie Iwan, also neunzehn, Molle und Lew waren beide sechzehn und kannten sich aus der Schule. Anna und Polina waren mit ihren vierzehn Jahren die Jüngsten.

Molle, Jaroslaw und Iwan hatten sich bei den Rutschen im Hof der Puschkin-Blocks kennengelernt, so wie das gang und gäbe war. Erst hatten sie ihre sporadischen Begegnungen dem Zufall überlassen, aber da sie einander gut riechen konnten, verabredeten sie sich mittlerweile auch gezielt zum Herumlungern.

Iwan und Jaroslaw ähnelten sich. Beide waren lethargisch, kaum für irgendetwas außer Fußball und russischen Hip-Hop zu begeistern und sie beide tranken gerne gemeinsam Wodka, bevorzugt aus kleinen, handlichen 200-Milliliter-Fläschchen. Molle ähnelte Polina in vielerlei Hinsicht, vor allem in ihrer Direktheit, aber in Sachen Assigkeit konnte Molle keiner das Wasser reichen. Sie fluchte, spuckte, kaute Kaugummi, saß breitbeinig da und ließ auch sonst keinen Zweifel aufkommen, dass sie ein harter Brocken war.

Lew schien eine Art Anführer dieser kleinen Gruppe zu sein. Ihm haftete eine Ruhe an, die Aufmerksamkeit schuf. Er war schlau, das merkte man sofort, und er hatte einen trockenen Humor, an den man sich in der Regel aber erst gewöhnen musste, um ihn überhaupt als solchen verstehen zu können.

Anna und Polina gefiel es, Teil dieser Clique zu sein, auch wenn sie sich darin noch etwas schüchtern bewegten. Sie waren jünger und unerfahrener als die anderen und konnten kaum mitreden, wenn es um Alkohol, Musik, Partys oder brenzliche Schlägereien in der Nachbarschaft ging. Und Lew hatte mit seinen sechzehn Jahren sogar schon Tattoos, nämlich einen schmalen Ring um das rechte Handgelenk und eine erhabene, mit ihren Flügeln schwingende Schwalbe auf der rechten Leiste, die jedes Mal zum Vorschein kam, wenn er sich zum Werfen nach hinten beugte.

»Meine Schwester ist richtig klug, wisst ihr? Und ihre Freundin auch. Sie schreiben nur gute Noten in der Schule«, schwärmte Iwan, dem anzuhören war, dass er die ersten 100 Milliliter seines Wodkas intus hatte.

»Ich mag dein Kleid, Anna«, lobte Molle. »Ich kann keine Kleider tragen. Ich sehe wie ein verfickter Sack darin aus.«

Die Jungs lachten.

»Du bist die schönste Satanistin in ganz Petersburg, Molle«, meinte Lew. »Du brauchst keine hübschen Kleider.«

»Die würden auch gar nicht zu dir passen«, ergänzte Jaroslaw.

»Ja, ich will auch keine tragen. Aber es sieht sehr schön aus, wenn so ein hübsches Mädchen wie Anna welche trägt. Sieht sie nicht zauberhaft aus?«

»Ja, sie sieht aus wie ein Engel«, sagte Jaroslaw und kam aus dem Starren nicht heraus.

»Hör mal auf, so zu schauen, Mann! Sie steht unter meinem Schutz. Schlag dir das also aus dem Kopf«, warnte Iwan seinen angetrunkenen Saufkumpanen.

»Ist ja gut, Mann. Ich mach ja nichts.«

Anna verstand nicht, worum es ging, Polina schon und sie war froh, dass ihr Bruder etwas gesagt hatte.

»Vielleicht wollen die beiden ja ein Schlückchen Wässerchen haben«, fragte Jaroslaw, starrte Anna und Polina weiterhin bedenklich animalisch an und hielt ihnen seine Flasche hin. Molle und Lew sahen zu ihm und sie hätten ihn gerügt, wenn Iwan ihm nicht unmittelbar an die Gurgel gesprungen wäre, ihn kniend am Shirt gepackt und ihm bedrohlich zugeflüstert hätte, dass er aufpassen solle, sonst würde er diese Nacht nicht überleben. Diese spürbar ernst gemeinte Ansage zeigte Wirkung bei Jaroslaw, der eine Entschuldigung stammelte, zu Boden sah und für eine Weile die Schnauze hielt.

»Sorry, Mädels, Stange ist nicht immer so ein Idiot«, sagte Lew wieder auf die Newa blickend. »Wir halten ihn schon im Zaum, keine Sorge.«

»Danke«, sagte zuerst Polina.

Anna tat es ihr nach, sehr leise: »Danke.«

Es war ein aufregender Abend für die beiden jungen Mädchen. Normalerweise wollten ältere Schüler nichts mit ihnen zu tun haben, weil sie so brav und kindlich waren. In dieser Clique fühlten sie sich aber wohl, durchaus schüchtern, allerdings nicht unerwünscht.

Die untergehende Sonne färbte den Himmel über der Newa orange. Anna beobachtete Lew, wie er vor diesem Hintergrund unermüdlich Steinchen ins Wasser warf. Ihr entging nicht, dass auch er immer wieder zu ihr sah. Er versuchte es unauffällig zu tun, aber das gelang ihm genauso wenig wie ihr.

Lew verstand sofort, dass Anna ihm gefiel, aber das wollte er nicht offen zeigen, ihr nicht und den anderen schon gar nicht. Er fragte sich, was wäre, sollte sie ihn nicht mögen, und das herauszufinden traute er sich nicht.

Anna hingegen verstand ganz und gar nicht, was mit ihr los war, wieso sie so ein angenehmes Kribbeln im Bauch spürte, wieso sie so häufig zu Lew sehen wollte und wieso sie schwitzige Hände bekam, wie manch anderes Mal auch, nur viel schöner. So wie an diesem Abend, wenn sie Lew ansah, wie er sich bückte und auf dem Boden nach Steinchen suchte, hatte sie sich noch nie zuvor gefühlt.

Polina und die anderen, die mit dem Beginn ihrer vielversprechenden Hoffreundschaften beschäftigt waren, merkten nichts von der jugendlichen Verliebtheit, die an diesem Abend im Park an der Newa geboren wurde. Deren Anzeichen, der stockende Atem, die flüchtigen Blicke und nervösen Übersprungbewegungen, waren zu dezent gewesen, um sie als Außenstehender wahrnehmen zu können.

»Anna!«, rief jemand mehrere Male. »Anna, wo bist du?« Es war Feodora, die voller Sorge und hektisch umherschauend durch den Park lief.

»Oh nein, Polina, wir haben die Zeit vergessen. Mama ist schon wieder böse. Was soll ich nur machen?«

»Keine Bange, Kleines«, entgegnete Molle. »Ich kläre das. Jungs, weg mit den Flaschen, sofort!« Die Jungs gehorchten und versteckten den eingewickelten Wodka unter ihren Shirts.

Dora hatte die Clique schon von weitem gesehen, war schnurstracks auf sie zugegangen und fing aus einigen Metern Entfernung an, ihre Standpauke zu halten. »Anna, was erlaubst du dir eigentlich? Wir haben gesagt, dass du um sechs zu Hause bist und jetzt ist es kurz vor sieben! Was machst du hier und wer seid ihr überhaupt?«

»Guten Tag, Frau Smirnowa«, begann Polina, die Feodora schon ein bisschen kannte. »Ich und mein Bruder wollten gleich nach Hause gehen und Anna bei Ihnen absetzen. Tut uns leid.«

»Ja, tut uns leid«, sagte Molle, trat vor, sah auf ihre Uhr und streckte Dora ihr Handgelenk entgegen. »Sehen Sie, muss wieder kaputt sein. Bei mir ist es erst kurz vor sechs Uhr. Geben Sie nicht Anna die Schuld, es war meine. Ich habe ihr die falsche Uhrzeit gesagt.« Es war ein bewährter Trick, den Molle gerne anwendete, wenn jemand Ärger bekam, weil es wieder mal später wurde. Das unauffällige Zurückdrehen der Uhr beherrschte sie im Schlaf. »Wir wollten uns nur ein bisschen den Sonnenuntergang ansehen.«

Die Jungs beschlossen, lieber nichts zu sagen. Sie wussten aus Erfahrung, dass die Mädchen eine besänftigendere Wirkung auf eine Mutter haben konnten als sie. Hinzu kam, dass Jaroslaw und Iwan mit großer Sicherheit gelallt hätten und da Lew Tattoos auf seiner Haut trug, war er bei den meisten Eltern ohnehin von Anfang an unten durch. Und deshalb versuchten die Jungs möglichst unschuldig zu Lächeln und reglos sitzen zu bleiben, was allerdings weniger sympathisch aussah, als sie dachten, sondern eher verdächtig.

»Na gut«, sagte Dora zögerlich und sah sich das Grüppchen genauer an, vor allem Jaroslaw, der ihr aufgrund seiner verkrampften Bewegungslosigkeit besonders suspekt vorkam. »Jetzt komm, wir gehen. Es ist schon spät.«

»Auf Wiedersehen«, sagte Polina mit möglichst süßlicher Stimme.

»Ja, auf Wiedersehen«, wiederholten die anderen.

Und während Anna auf dem Weg nach Hause eine energisch geflüsterte Standpauke über sich ergehen ließ, sahen die anderen Hofkinder ihr nach.

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