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Anna und die Eisenlok

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Auf einem kleinen Fähnchen aus Pappe, das mit Bindfaden und einem Zahnstocher bewundernswert filigran auf dem Rauchfang einer dunkelgrün lackierten, metallenen Spielzeuglok befestigt war, stand: Das Leben ist schön, weil es vergeht. Die elektrisch betriebene Zugmaschine zog drei baugleiche Güterwaggons im Kreis hinter sich her, gesäumt von einer Landschaft aus Stofftieren verschiedenster Gattungen, Farben und Größen, hübschen Geschenkpäckchen, die als Dekoration dienten, beräderten Holzenten, kunterbunten Spiraltreppenläufern, einer mechanischen Vorrichtung, die Seifenblasen durch das Schaufenster blies, und einer Menge weiterem Spielzeug.

Das Spielwarengeschäft myagkaya igrushka1 konnte mit gutem Recht als der wahrgewordene Traum eines jeden Kindes bezeichnet werden, vielleicht sogar als das schönste Spielwarengeschäft der Welt, sicher aber als das älteste und bekannteste St. Petersburgs.

Kinder wurden von dem Schaufenster angezogen wie Motten vom Licht, was nicht selten zu innerfamiliären Disputen führte, wenn die Kleinen scheinbar paralysiert und mit offenen Mündern mitten auf dem schmalen Gehsteig der Gorokhovaya Straße stehen blieben, während die Großen ihren Terminen hinterherhetzten.

Den meisten Erwachsenen fiel es schwer, den Zauber, der dem Spielzeug innewohnte, zu bemerken.

Und so, wie es schon unzählig viele andere Kinder vor der fünfjährigen Anna Iljinitschna Smirnowa getan hatten, blieb auch sie regungslos auf den locker im Mineralbeton steckenden Pflastersteinen stehen, um sich von der monoton im Kreis fahrenden Lok hypnotisieren zu lassen.

Rund um das brünette Mädchen mit dem spitzen Näschen, das in ihrem gelben Regenmantel und ihren wasserdichten Galoschen mit ihren beiden schulterlangen Zöpfen spielte, war ganz schön was los. Immerhin war es der 28. Dezember, das neue Jahr stand vor der Tür und viele Stadtbewohner hatten ihre Geschenke noch nicht zusammen.

Die Schneeflocken waren dick, die Luft nicht zu eisig und der tiefblaue Stadthimmel mit weihnachtlichen Lichterketten behangen. Es war ein prachtvoller Nachmittag und der baldigen Ankunft von Väterchen Frost, seiner Enkelin Snegurotschka und dem Jungen mit dem bezeichnenden Namen Neujahr stand nichts mehr im Wege.

Auf Annas Schultern und ihrem Kopf hatten sich kleine Häufchen Schnee angesammelt, die jetzt, unter dem beleuchteten Vordach des Spielwarenladens, dahinschmolzen. Hiervon merkte das Kind aber nichts, denn es war in einen Tagtraum hineingetaucht. Es war zu einem Teil des Spielzeugparadieses geworden, zu einem Mädchen in Miniaturformat, in der Größe einer Murmel, die inmitten riesenhafter Stofftiere, bunter Bälle und einer Spielzeuglock herumtollte. Über der kraftvoll an ihr vorbeisausenden Lokomotive wehte ein bettlakengroßes Stoffbanner, auf dem stand: Das Leben ist schön. Vor lauter Aufregung hielt Anna ihre Mütze fest gegen ihre Brust gepresst, weshalb die Haut über ihren Knöchelchen weiße Flecken bekam.

Für ein Geschäft dieser Art war es die allerbeste Jahreszeit. Dank des liebevoll geschmückten Schaufensters bimmelte das Glöckchen an der Tür von früh bis spät.

Für die kleine Anuschka, wie ihre Mutter sie liebevoll nannte, war es ein wahrhaft bezaubernder Augenblick, denn sie hatte noch nie zuvor etwas derart Schönes gesehen.

Das Schaufenster vor ihr war der Höhepunkt eines aufregenden und mit lauter Neuheiten gespickten Tages. Erst an diesem Morgen hatten Mama Feodora und sie ihr Dorf verlassen, um in der nahegelegenen Stadt einen Neuanfang zu wagen. Sie hatten nicht nur das ärmliche, aber sichere Nest bei Oma und Opa hinter sich gelassen, sondern auch alles Bekannte, ihre Heimat.

Feodora hatte dank einer glücklichen Fügung eine Arbeitsstelle als Bürokraft ergattert. Ihre ehemalige beste Freundin, die ein knappes Jahr zuvor aus dem Dorf nach Petersburg in wohlhabendere Verhältnisse geheiratet hatte, hatte in der Anwaltskanzlei ihres Mannes ein gutes Wort für die alleinerziehende Mutter einer Tochter eingelegt. Es würde die erste regelmäßig bezahlte Arbeit ihres Lebens werden.

Für diese in ihren Augen gottgeschenkte Möglichkeit etwas dazuzuverdienen, ihren Eltern unter die Arme zu greifen und ihrem Mädchen eine gute Zukunft zu ermöglichen, war Dora zutiefst dankbar. Das äußerte sich nicht zuletzt durch ihr silbernes Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trug und dessen Vergoldung auf Oberkörper und Kopf des gemarterten Jesu vom vielen Küssen abgerieben worden war.

Für Mutter Feodora war es zum einen ein aufregender und zum anderen ein besorgniserregender, aber zuallererst ein glücklicher Tag. Anna hingegen wusste kaum, was vor sich ging. Die vielen neuen Eindrücke prasselten auf sie ein und sie ließ sich berieseln. Nie zuvor war das Mädchen mit dem engelsgleichen Gesicht und dem dezenten Muttermal über einem Mundwinkel in einer Stadt gewesen, nicht einmal in einer kleinen, weshalb ihr das heilige Petersburg wie ein Traum vorkommen musste.

Alles, was Anna bisher gekannt hatte, waren ihr Dorf Derevnya und das Land drumherum, sprich Felder und Wiesen, Trampelpfade und Dorfstraßen sowie lichte Wälder und ein See, in dem manche der Dorfbewohner an heißen Tagen plantschten. Anna hatte das nie gedurft, weil Gerüchte die Runde machten, dass auch Schweine ab und an im See badeten, dort ihre Notdurft verrichteten und das Baden deshalb krank machte.

Nun war Derevnya, ihre Heimat, eine zweistündige Zugfahrt entfernt, und doch veränderten diese 120 Minuten alles. Anstatt steriler, winterlicher Stille, gab es unentwirrbares Stadtgetose. Anstatt von Dorfstraßen und eigenhändig zusammengehämmerten Einfamilienhäusern, gab es Prunkbauten, Denkmäler, Kanäle, breite und vollgepackte Straßen, unzählbar viele Menschen und den kunterbunten Spielwarenladen myagkaya igrushka.

Anna stand wie angewurzelt da und träumte von Abenteuern, in denen sie die Hauptrolle spielte. Mama Dora, die in jeder Hand einen Rollkoffer hinter sich herzog, war weitergegangen. Als sie nach wenigen Metern bemerkte, dass ihr Kind nicht mehr bei ihr war, machte sie Kehrt, rüttelte ihr Mädchen an der Schulter und forderte es auf, nicht herumzutrödeln, woraufhin Anuschka stumme Tränen über die geröteten Wangen flossen. Es waren die Müdigkeit und die vielen neuen Eindrücke, die an ihr zehrten.

Feodora sah in die wässrigen Augen ihres Mädchens und ihr wurde warm ums Herz. Sie wollte keine schlechte Mutter sein. Sie liebte ihr Kind, aber manchmal vergaß sie, dass Anna erst fünf Jahre alt war und Kinder in diesem Alter intensiver Zuwendung bedurften, damit sie nicht eingingen. Und in diesem Moment, vor dem Spielzeugladen in der Gorokhovaya Straße, war Anna kurz davor einzugehen wie ein zu lange nicht mehr gegossenes Blümchen.

Weil Mama Dora eine strenge Erziehung erhalten hatte und mit sich selbst im Großen und Ganzen zufrieden war, befand sie es auch für ihre Anuschka als das Beste, die Härten des Lebens frühestmöglich kennenzulernen. Aber sobald sie ihre Tochter weinen sah, vergaß sie all solche erziehungstheoretischen Überlegungen, denn dann war auch sie den Tränen nahe und konnte nicht anders, als weich zu werden.

Sie kniete sich auf das frisch beschneite Kopfsteinpflaster, drückte ihre Kleine fest an sich und flüsterte ihr ins Ohr, dass alles gut sei und sie sich um nichts auf der Welt sorgen machen müsse. Vorbeigehenden Passanten, die das Versperren des Gehsteigs durch Mutter und Tochter unbedacht kommentierten, warf sie lediglich böse Blicke zu, ohne zurückzufauchen, um das Nervenkostüm ihrer Tochter nicht weiter zu strapazieren.

»Anna, mein Liebes, wein doch nicht. Mama kümmert sich um alles, damit es uns beiden gutgeht. Soll dir Mama ein Spielzeug kaufen? Ja? Das hast du dir auch verdient, so tapfer, wie du heute warst. Weißt du, heute ist ein aufregender Tag für uns beide, deshalb sollten wir uns etwas gönnen.«

Feodora wusste über ihre Finanzen genau Bescheid. Sie hatte jeden einzelnen ihrer über die Jahre mühsam ersparten Kopeken für die anstehende Miete und das Essen für die kommenden Wochen verplant. Und ihr erstes Gehalt würde noch einen Monat auf sich warten lassen. Aber in diesem Moment ließ sie jede Vernunft außen vor. Irgendwie würden sie schon über die Runden kommen, dachte Dora, und weiter, dass sie ihr Kind nicht ohne ein Geschenk ins neue Jahr entlassen konnte.

klingelingeling

Im Geschäft fragte Mama Dora ihre Tochter, die aufgrund der Spielwarenvielfalt erneut dem Staunen verfallen war, welches Spielzeug sie gerne hätte und hoffte insgeheim, dass es kein teures sein würde. Anna sah sich um, sah zunächst zu dem Regal mit dem Holzspielzeug, dann zu einem mit Bällen und Puppen drauf, aber nichts davon umgarnte ihr Seelchen in dem Maße, wie es das richtige Spielzeug mit einem Kindergemüt tun sollte. Dann fiel ihr Blick auf ein Eisbärenmädchen, ein Plüschtier, das nicht größer als die Handfläche eines erwachsenen Mannes war. Es hatte zwei schwarze Knopfaugen, eine weiche Schnauze, eine braun-beige gestreifte Latzhose mit zwei Holzknöpfen vornedran und es blickte gleichermaßen frech und süß drein.

»Die will ich haben, Mama!«

Ohne auf eine Antwort zu warten, lief Anna auf ihr erstes Stofftier zu und umarmte es, wie ihre Mutter es zuvor mit ihr getan hatte. Währenddessen fiel ihre Mütze zu Boden, aber das machte nichts, weil Feodora wachsam war, den Verlust der Kopfbedeckung bemerkte, sie aufhob und, wie versprochen, dafür sorgte, dass alles gut war.

»Das ist jetzt meine beste Freundin, Mama.«

»Sie ist sehr hübsch. Wie heißt sie denn?«

»Das ist Misha Masha.«

»Das ist ein schöner Name. Jetzt musst du mir Masha aber kurz geben, damit ich sie bezahlen kann.«

»Nein! Sie will nicht, sie will bei mir bleiben!«, protestierte Anna, ließ nicht los, sah ihrem Stofftier in die Augen und verlieh ihm eine eigene Stimme, indem sie ihre verstellte: »Ja, genau, ich bleibe hier.«

»Ach je«, seufzte Feodora auf und wandte sich zu dem älteren Herrn hinter der Bezahltheke, der einen weißen Schnauzer unter seiner Nase und eine Halbglatze in Form eines weißen Haarrings auf seinem Kopf trug. »Darf ich auch so zahlen, bitte?«

»Ist der heilig?«, fragte Anna und spielte auf den Haarring an, der einem Heiligenschein ähnlich sah.

»Pscht, Anuschka, so was sagt man nicht.«

Der Herr hinter der Theke, dem dieses Geschäft scheinbar gehörte, lachte herzhaft auf.

»Das ist schon in Ordnung, verehrte Frau. Das Kind hat Fantasie. Und das ist etwas Gutes, nicht?«

»Ja, ich schätze schon«, gab Feodora ihm recht. »Was kostet das Bärchen, gnädiger Herr?«

»Nun, eigentlich ist es nur als Dekoration gedacht, wissen Sie, meine Frau hat es selbst genäht. Es ist nicht zum Verkauf gedacht.« Er sah zu Anna, kratzte sich am Kopf und musste nicht lange überlegen. »Aber wenn ich mir ihr Mädchen so ansehe, denke ich, dass das Bärchen gut bei ihr aufgehoben sein wird. Na gut, geben Sie mir 500 Rubel und es gehört Ihnen!«

»Vielen Dank, verehrter Herr, das ist sehr christlich von Ihnen.«

Es war ein guter Preis, den der freundliche Verkäufer, der vermutlich schon zufrieden mit seinem Weihnachtsgeschäft sein konnte, Mama Dora gemacht hatte. Vielleicht hatte auch das verträumte Gesicht ihres Kindes, das unschuldig zu ihm hochsah, die Stimmung des Spielzeugbauers beeinflusst – ihn milde gestimmt.

Der ältere Herr kniff Anna zum Abschied ein bisschen zu doll in ihre Wange, was sie gar nicht mochte und das auch zum Ausdruck brachte, indem sie ihn ansah, als ob sie in eine frisch gepflückte Zitrone gebissen hätte.

»Auf Wiedersehen, der Herr.«

»Auf Wiedersehen, die Damen.«

Fast hätte die kleine Anuschka dem für sie nun blöden Herrn die Zunge ausgestreckt, aber dafür war sie schon wieder zu sehr damit beschäftigt, Misha Masha von allen Seiten zu begutachten.

Zu dritt verließen Mutter, Tochter und das Eisbärenmädchen das traditionsreiche Geschäft in der Innenstadt St. Petersburgs, gerade noch rechtzeitig, bevor eine wahre Flut an geschenklosen Bürgern ins Innere des Ladens drängte.

»Was für ein freundlicher Verkäufer«, bemerkte Feodora und zog ihrer Kleinen, die sich da nicht so sicher war, Mütze und Fäustlinge an. »Und was für ein süßes Bärchen du jetzt hast. Sie scheint auch recht zufrieden zu sein, dass sie mit uns nach Hause kommen kann, oder?«

»Ja«, meinte Anna kurz angebunden, mit Masha in ihren Händen, die sie an ihre Brust gedrückt hielt wie zuvor ihre Mütze. Nun ließ sie sich widerstandslos durch die Straßen der Stadt führen, ohne weiter zu hinterfragen, weshalb sich alles um sie herum verändert hatte. Sie glaubte ihrer Mutter. Alles würde gut werden.

Mama Dora hingegen konnte sich den Luxus Sorgenfreiheit nicht erlauben. Sie wusste nicht, ob alles gut werden würde. Sie konnte sich nicht einmal sicher sein, ob der wortkarge Vermieter, mit dem sie wenige Tage zuvor telefoniert hatte, tatsächlich zur vereinbarten Zeit und am vereinbarten Ort auf sie warten würde, um ihr die Schlüssel zur versprochenen Einzimmerwohnung zu übergeben. Eine weitere ihrer Sorgen galt dem Zustand der Wohnung und eine nächste, ob sie es an diesem Tag noch schaffen würde, einzukaufen, um sich und ihrer Tochter ein Abendessen kochen zu können, das beide schon jetzt nötig hatten.

Diese und andere Gedanken drehten sich wie rastlose Kreisel in Feodoras Kopf und es fiel ihr schwer, sie ruhen zu lassen. Aber jedes Mal, wenn sie ihre Anuschka ansah, wusste die fürsorgliche Mutter, weshalb sie diese Strapazen auf sich nahm und nicht in ihrem Dorf blieb, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und zwar, damit nicht auch Anna ihr ganzes Leben dort verbringen musste. Nicht, dass es dort derart schrecklich war, aber das Leben musste mehr zu bieten haben, als die immergleichen Strommaste, Kuhherden und Nachbarn.

Es ging nicht einmal um die Strommaste, Kuhherden und Nachbarn, vielmehr ging es ihr um die Entscheidungsfreiheit, diese sehen zu müssen oder auch nicht, eine Qualität des Lebens, die sie nie gehabt und die ihr, zumindest in jungen Jahren, gefehlt hatte.

Es war eine Qualität, von der Feodora wusste, dass sie einzig mit Geld zu erkaufen war. Und um Geld zu haben, war Bildung von Nöten, jedenfalls im Falle ihrer Tochter. In ihrem war es zu spät für Bildung, dessen war sie sich ebenfalls sicher. Aber es gab einen zweiten Weg, um an Geld zu kommen, nämlich die Schufterei, und die war sie schon von klein auf gewohnt, seit sie mit sechs Jahren gelernt hatte, auf dem Hauseigenen Acker in Derevnya das Obst und Gemüse selbständig zu säen, zu pflegen und zu ernten.

Das alles vergaß Dora für wenige Augenblicke, wenn sie zu ihrem schutzbedürftigen Kind und dessen Plüschtier sah. Denn dann war sie froh, dass es sie beide überhaupt gab.

»Mama, Misha Masha hat Hunger. Können wir etwas essen?«

»Ja, mein Mädchen. Wir sind gleich da und danach können wir nach Hause fahren und etwas essen.« Feodora wusste, dass es noch mindestens zwei Stunden dauern würde, bis sie in ihrem neuen Zuhause ankommen würden, und auch, dass sie es sich nicht leisten konnten, unterwegs zu essen, aber sie wusste nicht, was sie ihrem Mädchen anderes sagen sollte.

Feodora war gezwungen, erneut zu hoffen. Dieses Mal bat sie den kleinen Jesus, der auf ihrem Brustbein lag, dass Anna durchhalten würde. Sie konnten nach der Schlüsselübergabe irgendwo in der Nähe einkaufen gehen und das Kind konnte eine Banane oder ein Brötchen für Zwischendurch bekommen, überlegte Dora. Die mit Mohn bestreuten mochte es doch so gerne. Dann würden die beiden zwar mit ihren Rollkoffern und den Einkäufen durch die ganze Stadt fahren müssen, aber die Öffnungszeiten der Lebensmittelläden würden kein Problem mehr darstellen.

Vor der Nr. 32 in der Sadovaya Straße blieben sie stehen.

»Anuschka, ich muss für ein paar Minuten hier rein.« Während Feodora das sagte, klingelte sie bei der Nummer drei und ihr wurde aufgemacht. Sie zog erst die Koffer und dann ihr Mädchen mit hinein und stellte allesamt an der Wand entlang im Flur auf. »Du wartest auf mich. Ich komme gleich wieder und dann gehen wir etwas zu essen für Misha Masha kaufen.« Sie beugte sich zu Anna, zog ihr Fäustlinge und Mütze aus, steckte sie in ihre eigene Jackentasche und gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. »Gleich bin ich da, gut? Pass auf Masha auf. Rühr dich nicht vom Fleck und mach keinen Mucks. Ich bin gleich wieder da«, wiederholte sich die besorgte Mama, die ihre Tochter nicht allein in einem kaum beleuchteten Gang in einem Stiegenhaus mitten in St. Petersburg zurücklassen wollte, aber keine andere Möglichkeit sah.

Sie hatte dem ungalanten Vermieter am Telefon versichert, dass sie allein lebte, damit die Miete günstiger ausfiel. Im Nachhinein war sie sich nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee gewesen war. Wenn er ihre Anna jetzt sehen sollte, würde er ihr vielleicht doch noch absagen. Aber nun, da es nicht anders ging, hieß es Augen zu und durch.

Dora war der Überzeugung, dass Gott jedem Menschen mindestens eine Chance gab, sich ein besseres Leben zu ermöglichen, aber nicht jeder erkannte oder nutzte sie. Diesen Fehler, hatte sie sich geschworen, würde sie nicht begehen.

Sie wollte ihrem Kind ein besseres Leben ermöglichen, koste es, was es wolle, also nahm sie all ihren Mut zusammen, ging zur Tür Nummer drei, die sich nur ein paar Schritte weiter im Erdgeschoss befand, und klopfte.

Anna sah ihr zu und wusste nicht, was von ihr erwartet wurde. Sie wollte einen Schritt nach vorne tun, da deutete ihr Feodora energisch, haltzumachen. Sie gehorchte, blieb in ihrer dunklen Ecke am Ende des Ganges stehen und beobachtete, wie sich die Tür öffnete und eine Männerstimme ihre Mutter ins Innere der Wohnung dirigierte.

Die Türe wurde geschlossen. Anna blieb reglos stehen und lauschte. Die Stimme ihrer Mutter und die des unbekannten Mannes wurden leiser und verschwanden schließlich.

Nach wenigen Augenblicken ging die schwache Flurbeleuchtung aus, da sich im gesamten Treppenhaus niemand bewegte. Bis auf einen dünnen Streifen gelben Lichtes, das in der Ritze zwischen Boden und Tür der Wohnung Nummer drei eingeklemmt lag, war es stockdunkel. Annas Augen würden noch ein Weilchen benötigen, bis sie erste Umrisse wieder schemenhaft erkennen konnten. Für einen Moment konnte sie nur hören. Das Holz unter ihren Füßen knarrte und von draußen drangen Geräusche von Autos ins Wohnhaus, die über matschig verschneite Straßen rollten.

Anuschka spürte ihr kleines Herz zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst in ihrer Brust schlagen und ihre Handflächen begannen zu kribbeln. Ohne zu wissen, was mit ihr los war, schnappte sie tief nach Luft. Und nochmal. Und nochmal. Obwohl sie nichts lieber getan hätte, als ihrer Mama nachzulaufen, tat sie es nicht. Sie durfte es nicht tun, also blieb sie weiterhin an Ort und Stelle stehen und bemerkte gar nicht, dass sie mit ihrem Mund lautlos die beiden Silben Ma-ma formte.

Am oberen Ende der Treppen zum ersten Stockwerk raschelte es, Anna sah hin und dachte, ein schwärzeres Schwarz im helleren Schwarz hin- und herpendeln zu sehen. Sie machte einen kleinen Schritt zurück, die Wand berührte ihren Rücken und sie presste ihre Augenlider so fest sie konnte zusammen.

Hey, sagte jemand.

Im ersten Moment erschrak das Kind, aber die junge, mädchenhafte Stimme, die das Hey geäußert hatte, hatte etwas Lebensfrohes und Beruhigendes an sich. Sie lenkte Anuschka ab und ließ sie die Schatten am Treppenende vergessen.

»Hallo? Wer ist da?«

Kannst du mich bitte nicht so fest drücken? Sonst tut mein Bauch weh!

»Misha?« Anna sah in ihre aufgefalteten Hände, wo tatsächlich das lächelnde Eisbärenmädchen saß, die weichen Stoffbeinchen übereinandergeschlagen und die Fäustchen in die Hüften gestemmt.

Du musst vorsichtig mit mir sein, ich bin doch eine Lady. Masha stand auf, machte einen Knicks und tat, obwohl sie kein Kleid anhatte, als ob sie eines hochheben würde. Siehst du?

Der kleinen Anna entwischte ein knappes Freudenquieken. Vor lauter Begeisterung über ihre neue Freundin fing sie an, kindlich auf dem Fleck zu Hüpfen, besann sich aber sofort wieder, als ihr einfiel, dass sie leise sein musste.

Vorsichtig zog sie ihr Plüschtier an sich und drückte es diesmal behutsam.

So ist es richtig, flüsterte das Eisbärenmädchen Anna ins Ohr, küsste sie auf die Nasenspitze, hüpfte ihr auf die Schulter, kletterte auf ihren Kopf und dann rüber auf ihre andere Schulter, wo es sich setzte und wieder die Beinchen übereinanderschlug. Mir ist es hier zu dunkel, Mama. Wollen wir durch das Schlüsselloch auf die Straße schauen? Vielleicht sehen wir ja etwas Spannendes?

»Au ja. Das ist eine tolle Idee!« Anna wollte sich vorsichtig an der Wand entlang zur Haustür tasten, als Schritte in der Wohnung Nummer drei lauter wurden, die Tür aufging und Licht das Vorzimmer durchflutete. Sie öffnete ihre Augen und sah ihre Mutter, wie sie die Tür schnell hinter sich zumachte und ihr zuzwinkerte. Kurz wunderte sich Anna, wann Misha Masha sich in ihre Hände gezwängt hatte, die sie jetzt wieder fest gegen ihre Brust gepresst hielt. Das fünfjährige Mädchen besann sich und lockerte ihren Griff, um Masha nicht wehzutun.

»Oh, meine arme Anuschka, wie erschrocken du bist. Nicht weinen, Mama ist wieder da.« Feodora küsste ihr Kind auf die Stirn und auf den Mund, machte die Haustür auf, stellte erst ihre beiden Koffer auf den Gehsteig, nahm dann Anna an die Hand und führte sie nach draußen. »Jetzt können wir einkaufen gehen. Was meinst du?«

»Mhm.«

»Jetzt schmoll doch nicht so.« Dora musste ihr Lächeln nicht mehr spielen. Sie hatte den Schlüssel zu ihrer neuen Wohnung in der Tasche und der Vermieter war nicht so unfreundlich gewesen, wie sie befürchtet hatte. Es würde zwar noch anstrengend werden, mit den Koffern und Anna einkaufen zu gehen und dann mit den Einkäufen nach Hause zu fahren, aber das Wichtigste hatte sie erledigt.

Bald würde alles ruhiger werden und ein neues Leben für sie beide beginnen. Feodora wischte Anna ein paar Tränen aus dem Gesicht und vermutete, dass es Tränen der Anspannung waren, da der Blick ihrer Tochter leer war und sie weder traurig noch wütend aussah.

»Wie müde du bist, Anuschka.«

Ich habe noch immer Hunger, quengelte Misha Masha, halb ernst, halb spielerisch.

»Hast du gehört, Mama?«, fragte Anna ruhig und sah ihrem Bärchen in die Augen. »Misha hat noch immer Hunger.«

»Was mag die Kleine denn?«

Bananen.

»Bananen, sagt sie.«

»Dann holen wir ihr gleich ein ganzes Kilo. Okay?«

Anna nickte.

»Lass uns die Kleine in deiner Jackentasche verstauen, so, damit ihr nicht kalt wird, und du ziehst wieder deine Mütze und deine Handschuhe an.«

Feodora steckte das Stofftier in Annas äußere Brusttasche, sodass es mit dem Köpfchen herausguckte.

»Also, folgt mir wie vorher, dicht neben mir, und nicht mehr trödeln!«

»Ja.«

Jaja, bemerkte Masha und rollte frech mit den Augen, weshalb Anna kicherte.

Feodora ging voraus und ihre Tochter folgte ihr. Die imperiale Architektur, die sie umgab und an glorreiche Zeiten erinnerte, wurde vom fallenden Schnee und der festlichen Straßenbeleuchtung malerisch in Szene gesetzt.

Mama Dora bemühte sich, ihre Tochter bei Laune zu halten. Sie wollte vermeiden, nebst den Koffern und Einkäufen noch ihr müdes Kind nach Hause tragen zu müssen.

Wäre jemand vor dem Haus Nr. 32 in der Sadovaya gestanden und hätte dieser jemand den beiden hinterhergeschaut, wie es der polnische Vermieter Kowalski problemlos hätte tun können, dann hätte er Frau und Kind bereits nach wenigen Metern in der Menschenmenge aus den Augen verloren. Derart kurz vor Neujahr waren die Straßen St. Petersburgs besonders voll. Und wäre dieser jemand ein aufmerksamer Beobachter gewesen, wäre ihm nicht entgangen, dass die Gesichter der Passanten in den vergangenen Jahren zunehmend grimmig geworden waren, vermutlich, weil die Feiertagsbesorgungen nicht weniger geworden waren, das Geld in den Taschen aber schon.

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