Читать книгу Fontanka - Markus Szaszka - Страница 9
Kummer
ОглавлениеWährend des Sommers hatte sich Dora zunehmend viele Gedanken über die Zukunft ihres Kindes gemacht. Sie beschloss, dass es nicht weitergehen konnte wie bisher, womit sie in erster Linie Annas intensive Beziehung zum Eisbärenmädchen Masha meinte.
Feodora verstand sehr gut, dass ihre Tochter ein Stofftier brauchte, vor allem, weil sie häufig allein war. Sie verstand auch, dass Anuschka ihre Misha weniger als Spielzeug und mehr als beste Freundin betrachtete. Ihr entging aber auch nicht, dass ihre Kleine diese Beziehung zu ernst nahm.
Da diese spezielle Freundschaft bis zu dem unliebsamen Ereignis an der Fontanka keinen negativen Einfluss auf Anna gehabt hatte, hatte Feodora sie gewähren lassen, mehr noch als das, sie hatte es begrüßt, dass ihre Tochter stets mit jemandem sprechen konnte, selbst wenn dieser Jemand nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Watte, Kunststoffkügelchen, Plüsch, zwei schwarzen Plastikaugen und zwei Holzknöpfen bestand.
Aber jetzt kam Anna in ein Alter, dem nicht mehr jedes Verhalten verziehen oder als süß abgetan wurde, weder von Erwachsenen noch von den anderen Kindern. Es musste sich also etwas verändern, weil Dora befürchtete, dass Anuschka ein schweres nächstes Schuljahr haben würde, sollte sie Masha weiterhin überallhin mitnehmen.
Um diese Angelegenheit zu besprechen, unternahmen die drei Smirnowa-Damen ein Picknick. Einen Tag vor Schulbeginn mieteten sie ein Ruderboot und paddelten damit über einen nahegelegenen See im Bezirk Kolpinski Rajon.
Hierfür hatten sie zu Hause Erdnussbutter-Marmelade-Brote geschmiert, wie sie es aus amerikanischen Filmen kannten, Eistee aus abgekühltem Schwarztee und Zitronenscheiben vorbereitet sowie Äpfel und Bananen in handliche Stücke geschnitten und in Tupperware verpackt, um später gemütlich auf dem Wasser schlemmen zu können.
In diesem Sommer hatte Dora begonnen, sich wieder mehr um ihr Kind zu kümmern. Ihre Arbeitszeiten waren auf ein akzeptables Niveau gesunken. Sie musste nur mehr an drei Abenden pro Woche unbezahlte Abenddienste leisten. Der Grund dafür war die neunzehnjährige Jelisaweta, eine neue, seit August bei Medwedew & Partner beschäftigte Bürokraft, die eingestellt werden musste, weil eine der älteren Sekretärinnen in Rente gegangen war.
Jetzt war es Jelisaweta, die sich um die abendlichen, wenig fordernden, langwierigen und deshalb anstrengenden Routinetätigkeiten kümmern musste. Aber ihr machten sie nichts aus, genauso wenig wie die gehässigen Blicke der anderen weiblichen Angestellten, die ihrem guten Aussehen, ihren tiefen Ausschnitten und ihren kurzen Röcken galten.
Trotz ihrer schlechten Bildung und ihrer Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen war Jelisaweta gewillt, Erfolg zu haben. Und sie wusste, wie sie Erfolg haben würde, nämlich durch harte Arbeit und das geschickte Einsetzen ihrer femininen Reize. Sie hoffte zumindest, dass ihre straffe Haut und ihr üppiger Busen mehr Einfluss auf die Kanzleiführung haben würden als das Keifen der alten Büroschachteln, mit denen sie nicht einmal versuchte, befreundet zu sein. Jelisaweta wusste genau, was für ein Hühnerstall das Sekretariat dieser Unternehmung war, und davon wollte sie kein Teil werden.
Feodora war die einzige der älteren Bürodamen, die nichts an der Neuen auszusetzen hatte, mit ihr manchmal sogar plauschte oder ihr zeigte, wie ihre Arbeit zu erledigen sei. Immerhin war es Jelisaweta, der sie ihre freien Abende zu verdanken hatte. Und um die Zuneigung des Hühnerstalls nicht zu verlieren, machte sie hinter Jelisawetas Rücken beim gehässigen Gackern der Bürodamen mit. Freundschaft schön und gut, aber genauso wie die Neue hatte Dora auch nicht um ihre Pläne vergessen, Erfolg zu haben – was sie mehr denn je wollte, jetzt, da sie sich nicht sicher sein konnte, was aus ihrer leidgeplagten Anuschka werden würde.
Von unstillbaren Schuldgefühlen und Liebe gescheucht, versuchte Mama Dora sooft es irgend möglich war Anna etwas Gutes zu tun, vor allem indem sie etwas mit ihr unternahm. Herrgott, betete sie manchmal in Richtung Himmel, es kann doch nicht normal sein, dass ein sieben Jahre altes Mädchen sein Stofftier überallhin mitnimmt, ihm eine Stimme verleiht und selbst kaum spricht. Ihrer Kleinen die Schuld dafür zuzuschieben, das ging schwer, denn Anna hatte doch niemanden außer ihrer Mama und Misha Masha, mit dem sie reden konnte.
Zwar nahm Feodora ihr Kind mittlerweile immer mit, wenn sie eine ihrer beiden alten Bekannten aus Derevnya besuchte, die auch in St. Petersburg wohnten – die junge Näherin Shveya oder die Anwaltsgattin Zhena –, oder wenn sie Besorgungen am Gemüsemarkt unternahm, in Pekars Bäckerei oder Rybaks Fischerei, aber auch da sprach Anna kaum ein Wort. Stattdessen wurde sie schüchtern, versteckte sich hinter Mamas Rock oder erkundete, von ihrem Bärchen an der Hand geführt, die Räumlichkeiten.
Dennoch hoffte Dora, dass sie Anna, die sie zweifelsfrei im Alleingang verkorkst hatte, durch ihre Aufmerksamkeit wieder ein wenig aufpäppeln konnte. Deshalb betete sie regelmäßig für sich und ihre Anuschka, denn nur Gott konnte ihr verzeihen und einen neuen Weg für ihr Kind ebnen.
Nur der liebe Herr wusste und bestimmte, was passieren würde. Er lenkte die alleinerziehende Mutter, gab ihr Kraft und somit musste auch alles einen Grund haben, was bisher passiert war, auch Annas abnormales Verhalten – Amen.
»Liebling, wir müssen über etwas reden. Du weißt, dass du dabei bist, ein großes Mädchen zu werden, richtig?«, fragte Dora, während die beiden mit ihrem Ruderboot über das Wasser des kleinen Stadtsees mit dem Spitznamen Pfütze trieben.
»Es ist an der Zeit, dass du dein Stofftier nicht mehr in die Schule mitnimmst, weißt du?«
Anna sah ihre Mutter nicht an, sondern zu Masha, die sie über den Bootsrand blicken und mit verstellter Stimme »Nein!« sagen ließ.
»Anna, das war keine Bitte. Du musst aufhören, sie mitzunehmen. Und du musst aufhören, dein Spielzeug wie einen Menschen zu behandeln, sonst werden dich die anderen Kinder auslachen und nicht mit dir spielen wollen.«
»Das ist mir doch egal«, schrie Anna jetzt mit ihrer eigenen Stimme und ungewohnt bestimmt. »Ich mag die anderen Kinder nicht und dich mag ich auch nicht! Misha Masha bleibt bei mir!« Sie drehte den Kopf ihres Plüschtieres zu sich, als ob Masha sie ansehen würde, und dann wieder zum Wasser hin.
Erst wusste Feodora nicht, was sie erwidern sollte. Ihre Anuschka hatte ihr noch nie zuvor gesagt, dass sie sie nicht mochte. Diese Worte schmerzten das mütterliche Herz, das schneller schlug und Doras Atmung aus dem Takt brachte. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie tief ein- und ausatmete und ein Stück weiterpaddelte. Dann unternahm sie einen neuen Versuch.
»Anna, es ist nicht nett zu sagen, dass du deine Mama nicht liebhast. Ich liebe dich und ich will nur das Beste für dich.« Ohne eine Antwort zu erhalten, begann sie die Jause aus ihrem Rucksack zu packen. »Aber vielleicht hast du ja recht. Wieso eigentlich kann ein Kind sein Spielzeug nicht mit in die Schule nehmen?«, überlegte Feodora laut, mit dem Ziel, Anna zu beschwichtigen. »Hier, nimm und iss das Brot. Vielleicht fällt uns dann ein, wie wir Misha Masha bei dir behalten können. Du musst nämlich wissen, dass die Schule ein gefährlicher Ort für kleine Bärenmädchen ist.«
Anna bekam große Augen: »Ja, wieso?«
»Ach, das wusstest du nicht? Nun ja, Stoffbären können, wenn sie in einer Schule gesehen werden, hm, nun ja, sie können konfisziert und im Zimmer der Direktorin eingesperrt werden, wie jeder weiß. Dort gibt es so etwas wie ein Gefängnis, nur nicht für Menschen, sondern für Bärchen.«
»Wirklich? Aber wieso?«, fragte das Kind, vom Wahrheitsgehalt dieser Geschichte überzeugt.
»Ach, Anuschka, das ist doch ganz klar. Weil die Schule kein Ort für Bären oder andere Tiere ist. Oder hast du schon mal ein Tier in deiner Klasse gesehen?« Just fiel Dora ein, dass das sehr wohl möglich gewesen sein konnte, also fügte sie hinzu: »Außerdem haben viele Lehrer und Kinder Angst vor Bären. Immerhin sind das wilde Tiere und können Tollwut übertragen. Masha ist natürlich nicht so eine Art von Bär, aber das können die anderen doch nicht wissen!«
Mama Dora hoffte, dass sie mit dieser improvisierten Lüge davonkam und war erleichtert, als sie ein traurig verständiges »Oh« vernahm.
»Und was soll ich jetzt tun, Mama?«
»Na, wenn du sie schon mitnehmen musst, dann musst du mir versprechen, dass du sie unbedingt in deinem Tornister lassen wirst. Okay? Wir wollen doch nicht, dass deine Misha entführt und eingesperrt wird. Oder?«
»Nein! Nicht entführen!« Anna drückte ihr Bärchen fest an sich.
»Siehst du. Dann ist es ja gut, dass wir diese Angelegenheit besprochen haben.«
»Ja«, stimmte das Kind zu und war wieder fröhlich.
»Gut, jetzt iss dein Brot.«
*
Obwohl Anna vorsichtiger war, Masha fortan nicht mehr aus ihrem Tornister holte und nur noch flüsternd mit ihr kommunizierte, bewahrheitete sich Feodoras Befürchtung, dass ihr Kleines keine einfache Kindheit haben würde. Das Verstecken ihres Stofftieres vermochte nicht zu kaschieren, dass Anna anders als die restlichen Kinder war.
Sie war zwar nicht die einzige, die schüchtern war, aber sie hatte etwas unbestimmbar Besonderes an sich. Sie war verträumt und häufig geistesabwesend, ängstlich und naiv. Am liebsten sprach sie mit niemanden und wenn ihr jemand etwas erzählte, glaubte sie in der Regel alles.
Wie es unter Kindern üblich war, wurde jede Andersartigkeit erbarmungslos mit Hänseleien bestraft. Und hatte sich eine Klasse erst mal auf ein Kind eingeschossen, dann blieb dieses Kind meist für eine lange Zeit das Klassenopfer. In der 2-c war es Anna, die regelmäßig drangsaliert wurde, mal mehr, mal weniger und manchmal unaufhörlich, bis ihr stumme Tränen über ihre Wangen liefen oder schlimmer, sie aufgelöst nach Hause lief. In diesen Fällen hielt sie die Gemeinheiten, die ihr angetan wurden, nicht mehr aus und sie verstand nicht, weshalb die anderen Kinder ihr fiese Namen gaben, sie an den Zöpfen zogen, ihre Lernzettel zerknüllten und ähnlich kindlich Gemeines taten.
Von ihren Lehrern und Rektorin Baranowa, die Angst vor Feodoras Anwaltskanzlei Medwedew & Partner hatten, wurde Anna Iljinitschna Smirnowa in Ruhe gelassen. Aber sie sahen auch dann weg, wenn Anuschka misshandelt wurde, weil sie ihnen genauso suspekt war, wie sie es für die anderen Kinder war. Nur gingen die Erwachsenen anders mit ihrem Unbehagen um. Sie befanden das hässliche Entlein für zurückgeblieben und versuchten, es nach Möglichkeit nicht anzufassen. Ihrer Meinung nach brachte es Unglück.
Mama Dora hingegen sah ihr gemartertes Kind am Anfang eines Weges, von dem kein Mensch wissen konnte, wohin er führen würde - sie hoffte, ins gelobte Land. Immerhin prüfte Gott nur diejenigen, die stark genug waren, diese Prüfungen zu bestehen. Und er tat es niemals ohne Grund.