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Der erste Schultag
ОглавлениеEs war der erste September, Tag des Wissens, und Feodora hatte sich den Vormittag freigenommen, um ihre Tochter an ihrem ersten Schultag begleiten zu können. Mittlerweile hatte sich Dora in der Kanzlei Medwedew & Partner eingelebt. Sie mochte ihre Arbeit genauso wie ihre Mitarbeiter und diese Zufriedenheit strahlte sie aus, was in ihrem Kombibüro nicht unbemerkt blieb.
Vom Botenjungen über die Putzfrau bis zur persönlichen Sekretärin, jeder mochte die Neue, die häufig auch als Sonnenkind bezeichnet wurde, weil sie sich nie beschwerte, den anderen stets half und immer lächelte.
Dass die alteingesessenen Sekretärinnen und Assistentinnen, die verschworener als manch ein Geheimbund sein konnten, eine neue Mitarbeiterin derart schnell in ihre Reihen aufnahmen, geschah beinahe nie. Den positiven Einfluss Feodoras auf den Büroalltag und ihre guten Leistungen bemerkten auch die Anwälte, die im Alleingang entschieden, wer bleiben durfte und wer wieder gehen musste. Ihnen war vor allem eins wichtig, nämlich dass Ruhe und Ordnung in ihrer Kanzlei herrschten. Und mochten die obersten Bürodamen eine neue Mitarbeiterin nicht, dann gab es viel Wirbel, Geschnatter und wenig erledigte Arbeit.
In ihrer Position gefestigt traute sich Dora selten, aber doch, gerechtere Arbeitsbedingungen einzufordern, wie beispielsweise einen halben Tag freizubekommen, um ihre Tochter einzuschulen. Der erste September war zwar ohnehin ein Feiertag, aber das hieß bei Medwedew & Partner nicht viel.
Um sechs Uhr fünfzig waren Mutter und Tochter vom Läuten ihres Weckers wach geworden. Wie jeden Tag diente dieses erste Läuten als Vorwarnung. Feodora drückte auf die Schlummertaste, die beiden kuschelten sich für weitere zehn Minuten aneinander und schliefen bis zum zweiten Läuten um sieben Uhr. Dann erst rappelte sich Dora auf und redete so lange auf ihr Kind ein, bis es ebenfalls wach wurde.
»Komm, Anuschka, Zeit aufzustehen. Heute ist ein wichtiger Tag für dich.«
»Mag nicht«, protestierte Anna und versteckte ihren Kopf unter ihrem Polster.
»Mag nicht, schmag nicht. Das hilft dir heute nicht. Du wirst sehen, du wirst Spaß haben. Heute wirst du viele neue Freunde kennenlernen.«
Anna murmelte Unverständliches in die Matratze.
Selbst noch im Halbschlaf, stand Feodora auf, zog erst sich und dann ihrem Mädchen Socken an. Nur Misha Masha blieb noch eine Weile im Bett liegen, so wie meistens, bis Anna mit dem Zähneputzen fertig war.
Nach der Morgenroutine im Bad putzten sich Dora und Anna heraus. Mutter trug ihr einziges gutes Kostüm, das rot war und eng anlag, und ihre Tochter eine traditionell dunkelblaue Schuluniform, bestehend aus einem Rock, einer Weste und einem weißen Hemd mit Spitzenkragen. Da es Doras alte Schuluniform war, waren vor allem Weste und Hemd schon ein wenig abgetragen, aber um ihrem Kind eine neue Uniform zu nähen, fehlte es ihr an Zeit.
Das machte nichts, da viele Kinder die Schuluniformen ihrer Eltern trugen, wenn die Bekleidungsvorschriften, die sich mit jedem politischen Wandel veränderten, es zuließen.
Während Feodora das Frühstück zubereitete, beobachtete Anna sie still. Misha Masha saß auf dem Tisch gegen ein Glas mit warmem Kakao gelehnt und trug wie immer ein verschmitztes Lächeln auf der Schnauze. Dann ließ Anna ihr Plüschtier zum Fensterbrett hüpfen, ein Marshmallow aus der Verpackung holen und in den Kakao legen.
»Anna! Es ist noch zu früh für Süßes. Gleich gibt es Rührei.«
»Aber das war ich nicht, das war Misha.«
»Na dann soll sie damit aufhören.«
»Blää!« Anna streckte ihrer Mutter die Zunge raus. »Das war auch Misha Masha.«
»Na! Was ist das denn für ein Verhalten? Sie wird immer frecher.«, scherzte Feodora. »Hör zu, Anuschka, ich werde nicht jeden Tag mit dir zur Schule kommen oder dich abholen können, deshalb musst du heute ganz genau aufpassen, was ich zu dir sage. Gut?«
Anna sah beim Fenster hinaus und antwortete nicht. Feodora wusste, dass ihr Mädchen zuhörte und nur abwesend wirkte, weil es schwermütig war, wie so häufig – viel zu häufig, für ein sechsjähriges Mädchen.
Und an diesem Tag gesellte sich vermutlich auch Aufregung in das junge Herz, dachte Dora, konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen. Angst oder Aufregung hatte sie in ihrem Kind nie leicht lesen können. Meistens war es Kummer, den sie in Annas Augen sah, zumindest seitdem die Kleine immerzu allein war, eingesperrt, Insassin einer potenziell besseren Zukunft.
Dora zweifelte an diesem Morgen nicht zum ersten Mal, ob ihre Entscheidung, mit Anna nach St. Petersburg zu ziehen, richtig gewesen war. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie tatsächlich wegen Anna hergezogen war oder ob sie sich das nur eingeredet hatte und in Wahrheit sich selbst etwas Gutes tun wollte, arbeiten wollte, für ihre eigene, bessere Gegenwart.
Sie hoffte, dass sie es für Anna tat, denn wenn nicht, dann hätte sie sich nicht mehr in den Spiegel schauen können. Dann hatte sie das Glück ihres Kindes für ihr eigenes eingetauscht.
So oder so blieb Dora nur, zu beten, dass bald alles besser werden würde, ihre Anuschka Freunde in der Schule finden und merken würde, dass das Leben auch Schönes zu bieten hatte.
Auf dem Weg zum Blumengeschäft, das sich unweit ihres Blocks befand, erklärte Feodora ihrer Tochter, was sie zu tun und worauf sie zu achten haben würde, sollte sie allein zur Schule und zurück nach Hause gehen.
Sie bekam ein eigenes Paar Haus- und Wohnungsschlüssel an einer dicken Schnur um den Hals gebunden, auf das sie achtgeben musste.
Ferner durfte sie mit keinen fremden Männern sprechen und am besten mit niemandem, außer mit den Omas aus der Siedlung, das ginge in Ordnung.
Des Weiteren sollte sie keine Spaziergänge oder Umwege machen und das Essen würde, wie gewohnt, zu Hause auf sie warten.
In Zukunft würden die beiden gemeinsam aufstehen, sich anziehen, frühstücken und zur Tür hinausgehen. So würde Anna nur mehr ein paar Stunden täglich allein zu Hause sein. Endlich war der Zeitpunkt gekommen, hoffte Dora, da alles einfacher werden würde.
Die Sonne strahlte und es war dennoch kühl an diesem Dienstagmorgen, an dem Mutter und Tochter beinahe stritten, nämlich als Feodora von Anna wollte, dass sie ihr Misha Masha gab, da ein Foto mit allen Frischlingen gemacht werden sollte und sonst keines der Kinder ein Stofftier bei sich hatte. Dora befürchtete, dass Anna ein schlechtes Bild abgeben würde, aber um keine Szene zu provozieren, ließ sie die Kleine gewähren. Und siehe da; dank des Bärchens kamen sogar Gespräche mit ein paar anderen Mädchen und deren Müttern zustande.
Masha wurde zum Gesprächsmittelpunkt der Erstklässler. Manche fragten, wie sie hieß und wie alt sie sei, und andere erzählten, welche Stofftiere sie zu Hause hätten. Anna antwortete zögerlich und zeigte sich wenig begeistert, aber das würde schon werden, beschloss Dora zu glauben. Gott würde sich um ihren Nachwuchs kümmern, ganz bestimmt. Schließlich war es der erste Schultag. Da waren die meisten Kinder nervös und schüchtern.
Alles Weitere verlief nach Plan. Die Blumen, fünf Tulpen, die Glück und möglichst viele Fünfer im Zeugnis bringen sollten, wurden der Klassenlehrerin überreicht, die freundlich aussah. Nach knapp zwei Stunden waren die Feierlichkeiten der Einschulung beendet, die Eltern erleichtert und die Kinder vor lauter neuen Eindrücken energiegeladen und deshalb zappelig. Der erste richtige Schultag, an dem unterrichtet werden sollte, würde erst am kommenden Tag folgen.
Feodora brachte Anna, die am liebsten noch den ganzen Tag draußen verbracht hätte, nach Hause, sie kochten und aßen ausgiebig zusammen und das Kind machte einen entspannteren und fröhlicheren Eindruck als in der Früh. Es tollte mit Misha Masha durch die Wohnung und die beiden besprachen, was sie in der Schule erlebt hatten. Sie plauderten über die Jungs und Mädchen, die Lehrer, die enorme Größe der Schule und wie toll es werden würde, wenn sie morgen wieder hingehen würden.
»Anuschka, ganz ruhig! Du weißt doch: Über das Morgen soll nicht zu viel nachgegrübelt werden, das Heute muss gelebt werden! Und tue mir bitte einen Gefallen, ja? Bitte nimm Misha Masha nicht überallhin mit oder lass sie wenigstens in deinem Tornister, okay? Ich will nicht, dass die anderen Kinder sich deshalb über dich lustig machen. Andere Kinder können grausam sein, weißt du?«
Anna antwortete nicht, wurde aber ruhiger, ging zu ihrem Hocker beim Fenster und sah hinunter in den Hof, der trotz des sonnigen Wetters grau und blass war, als ob eine Krankheit ihn befallen hätte. Auf dem Spielplatz tollten ein paar Jungs in ihrem Alter.
»Mama, was tragen die da Komisches?«
Feodora kam ans Fenster und sah drei Erstklässler der Marineschule um den Sandkasten herumlaufen und Schießen spielen.
»Das sind Schüler aus der Marineschule. Sie hatten heute auch ihren ersten Schultag. Aber sie gehen auf eine besondere Schule, deshalb sehen sie so lustig aus. Ein bisschen, wie Donald Duck, nicht?«
»Ja!«, pflichtete das Kind seiner Mutter bei und zog das A in die Länge. »Sie sehen lustig aus.«
»Halt dich trotzdem lieber fern von ihnen, Schatz. Man weiß ja nie.«
Anna blieb sitzen und sah den drei Jungs weiter beim Spielen zu.
»Anuschka, ich muss jetzt wieder zur Arbeit«, sagte Dora, während sie sich ihren Mantel anzog. »Wir sehen uns heute Nachmittag. Ich liebe dich.« Sie küsste Anna auf den Mund. »Und nicht hinausgehen, gut? Jetzt hast du einen Schlüssel, aber du sollst ihn nur in Notfällen verwenden und wenn du zur Schule oder nach Hause gehst. Hast du verstanden?«
Eine Antwort blieb aus.
»Hast du verstanden, frage ich dich?«, wiederholte Dora in der geöffneten Wohnungstür stehend.
»Ja, Mama. Ich habe verstanden«, sagte Anna, ohne zu ihrer Mutter zu sehen.