Читать книгу Nirgendsmann - Markus Szaszka - Страница 10
VI
ОглавлениеWie kann das nur sein?, fragte ich mich. Ich war 32 und es fiel mir schwer zu verstehen, dass ich einmal der Säugling, das Kind, der Teenager oder der Mittzwanzigjährige gewesen war. Was ich jetzt dachte, sprach und tat, war so grundlegend anders als früher. Doch da, vor meinen Augen, auf meiner Hand, hatte ich den Beweis.
Mir begann es schwindlig zu werden.
Zu viel Nachdenken tut dir nicht gut, das weißt du doch. Hör auf damit!
Für diesen Tag war meine Arbeit getan und ich konnte endlich hinaus auf die Straßen, wo ich mich am wohlsten fühlte. Nicht, dass es mir in meiner Wohnung an irgendetwas gefehlt hätte, ganz im Gegenteil, ich mochte meine zwei Zimmer sehr, doch sie waren nicht die Straßen. Nur sie vermochten mich von den seelischen Wunden des vergehenden Lebens zu heilen, wenn ich ziellos herumwanderte, die Geschäfte links liegen ließ und die Menschen beobachtete; miteinander vernetzte, nach unten sehende User, die ab und an gegen Laternenpfähle oder Häuserwände prallten. Hier fühlte ich mich wie ein Geist, der zusah, aber nicht gesehen wurde. Und hätte es mich nicht gegeben, wäre rein gar nichts auf der Erde anders gewesen, dessen war ich mir sicher.
Von der Arbeit und den verwirrenden Gedanken aufgescheucht, machte ich mich in der Diele ein bisschen zu hektisch gehfertig, um schnellstmöglich auf die gut belebten Straßen zu gelangen, die auch an diesem warmen und leicht nieseligen Abend im Spätsommer unaufdringlich mit ihrer Lebhaftigkeit lockten.
Während ich auf dem Hocker saß und mir die Schuhe zuband, beobachtete mich mein Spiegelbild missmutig. Ich weiß nicht, was mit ihm los war, aber es sah mich auf eine beängstigend musternde Art an. Ich fühlte, wie seine Blicke an mir hochwanderten. Es begutachtete meine braunen Lederschuhe, die noch gut in Schuss waren, auch wenn sie mich schon weit getragen hatten, und es dachte, dass es bald Zeit für neue war. Dann inspizierte es meinen Anzug: einen Zweiteiler, Hose und Sakko, beide in einem schwarzweißen Bildrauschmuster. Wem willst du hier etwas beweisen?, fragte es mich. Der schicke Anzug, das existenzialistisch anmutende schwarze T-Shirt mit dem V-Ausschnitt, die braune Leder-Umhängetasche und die auffällige Retrobrille mit dem dünnen Gestell und den großen Gläsern. Willst wohl allen zeigen, wie intellektuell du bist, hä?
Mein Spiegelbild konnte sehr gehässig werden, aber da musste ich durch. Ich schaffte es nie, mich von ihm loszureißen, wenn es mir eine Standpauke hielt.
Ein Mann, der auf der Straße nicht sonderlich auffällt, der weder eine extrovertierte Ader besitzt, wie sie heutzutage en vogue ist, noch finanzielle Argumente sein Eigen nennen kann, die einen Mann schon seit jeher interessant erscheinen ließen. Dafür siehst du ganz schön schick aus, viel schicker, als du es bist.
Da musste ich ihm recht geben. Aber was sollte ich tun? Es war 2018 und alles, was es teuer gab, gab es auch billig. Natürlich wollte ich gut aussehen, also kaufte ich, was mir in meiner niedrigen Preiskategorie gefiel. Das tat jeder. Man wusste zwar genau, dass irgendwer anderer dafür zahlen musste, mit Arbeit, Schweiß, Blut und manchmal auch dem Leben, aber es kaufte trotzdem jeder die billigen Sachen.
Es begann, mein Gesicht zu inspizieren.
Nicht mehr jung, noch nicht alt. Kurze blonde Haare, eine andere Frisur geht bei diesen Geheimratsecken ohnehin nicht. Ein Wochenbart, weil du ohne wie ein Milchbubi aussiehst. Kleine Augen, große Zähne, eine Hakennase – was für eine Visage!
Ich fing an zu lachen. Mein Spiegelbild mochte es, mich zu foppen, was lustig war, wenn es derart übertrieb.
»Halt's Maul!«, sagte ich, zeigte meinem Kontrahenten den Mittelfinger und ging hinaus.