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VIII

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Als Stadtgespenst führte ich ein zurückgezogenes Leben. Soziale Kontakte war ich nicht gewohnt und große Menschenansammlungen machten mir Angst. Auf den Straßen fühlte ich mich trotzdem gut, obwohl es dort von Passanten nur so wimmelte. Es bereitete mir das größte Unbehagen, gesehen zu werden, doch genau das musste ich hier nicht befürchten, denn die Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts sahen meistens entweder auf ihre Smartphones oder durch einen hindurch.

Auf den rund hundert Metern zwischen meinem Haus und dem Rosa-Luxemburg-Platz passierten ein junges Mädchen, um die sechzehn Jahre, zwei Kumpel, Mitte zwanzig, und eine weitere junge Frau, Anfang dreißig, meinen Weg. Keiner von ihnen hatte mir direkt in die Augen gesehen. Das junge Mädchen war als Einzige nahe dran gewesen, für einen kurzen Augenblick, als sie ihren Kopf gehoben hatte, um meine Umrisse zu erkennen, ihren Kurs minimal zu korrigieren und folglich nicht in das menschliche Hindernis vor ihr zu laufen. Das hatte ihr genügt, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem handlichen Endgerät, dem Tor zu einer anderen Welt, mit der es die echte schwer hatte, mitzuhalten.

Dass sich die Menschen gegenseitig nicht mehr ansahen, störte mich nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil; so hatte ich meinerseits die Gelegenheit, sie in Ruhe zu beobachten, ohne meinen Blick nervös senken zu müssen, wenn mein Gegenüber einen standhafteren draufhatte oder, wenn es eine Frau war, ein hübsches, mich einschüchterndes Gesicht.

Am Rosa-Luxemburg-Platz angekommen lehnte ich mich gegen eine Hausmauer mit Premium-Blick auf die gesamte Kreuzung. Ich beschloss, mir etwas Kultur reinzuziehen. Wäre doch zu schade gewesen, hätte ich mir das weltbeste Theaterstück entgehen lassen. Der imaginäre Vorhang ging auf.

Ich sah eine Straßenbahnhaltestelle, einen U-Bahn-Abgang, einige Cafés, Imbisse, Einkaufsgeschäfte, Restaurants und natürlich all die hin und her wuselnden Akteure, die den Straßen Leben einhauchten und authentischer spielten, als man es von Schauspielern in den renommiertesten Theatersälen gewohnt war.

Offensichtlich ging es in dem Stück um eine kunterbunte Stadt, die einlud, sich zu amüsieren. Aber das war nur der Rahmen. Worum ging es wirklich? Es gab doch immer eine zweite Ebene, zumindest in guten Aufführungen, und das versprach eine fantastische zu werden. Ich musste genauer hinsehen.

Da gab es vorwiegend gut gelaunte Jugend, Jungs und Mädchen jeglicher Hautfarben, denen es dem Anschein nach an nichts fehlte. Sie waren gut angezogen, hatten alle ihre obligatorischen Smartphones in ihren Händen und gingen, im Nebenbei, freundlich miteinander um. Manche waren allein, kamen aus Geschäften und hatten Besorgungen gemacht. Andere verbrachten ihren frühen Abend mit ihren Freunden, saßen vor einem Restaurant oder auf den Treppen eines Hauseinganges. In diesem Jahr würde es nicht mehr lange warm bleiben, das spürte man und das war auch der Grund, weshalb so viele ihre Zeit draußen verbrachten.

Mich überkam ein Gefühl, dass es uns 2018 in dieser Ecke der Welt richtig gut ging, aber nahezu zeitgleich erinnerte mich ein junger Mann in etwa meines Alters, der unweit meines Logenplatzes an einem Tisch vor einer Pizzeria saß, dass ich mich auch irren konnte. Seine Freundin war gekommen, um ihn abzuholen. Sie war hübsch. Ich hörte, dass sie sich auf den Weg in eine Bar machten, um ein oder zwei Drinks zu nehmen. Die Hälfte seiner Schinkenpizza ließ er liegen und das Letzte, was ich ihn zu seiner Begleiterin sagen hörte, war: »Heute ist ein richtiger Scheißtag!«

Wieso er das dachte, entzog sich meiner Kenntnis. Das musste sich der Zuschauer dieses Stückes wohl dazu reimen.

Apropos Drinks … was wurde da vor meinen Augen weggetrunken! Für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel war etwas dabei, weshalb beinahe jeder ein Getränk in der Hand hielt. Soweit ich das beurteilen konnte, stellte der Alkohol den Kitt dieser Berliner Abendgesellschaft dar, und ohne ihn wäre sie mit Sicherheit in viele traurige Einzelteile zerfallen.

So weit, so gut. Das alles war nichts Außergewöhnliches für diese Kreuzung, an der sich die Schönhauser Allee, die Alte Schönhauser Straße, die Rosa-Luxemburg-Straße und die Torstraße auf ein Schwätzchen trafen. Da war aber noch etwas anderes, das mir erst an diesem Abend auffiel.

Diese vielen jungen Menschen strotzten nur so vor Kraft, und wenn sie es gewollt hätten, hätten sie die gesamte Welt aus den Angeln heben können. Sie sahen gut aus, waren gepflegt, gut genährt, gebildet und mit Technologien ausgestattet, die das Apollo 11 Raumschiff zum Spielzeug degradierten. Man hätte denken können, dass tatsächlich alles gut war, 2018, auf der Torstraße, in Berlin.

Ein Trugschluss.

Dann passierte etwas, was noch nie zuvor passiert war. Ich, der Beobachter, wurde Teil des Stückes. Wider Willen fand ich mich auf der Bühne wieder und sah mir selbst dabei zu, wie ich über die anderen richtete. Aber es waren nicht mehr die anderen, sondern es waren wir, die keine Tageszeitungen lasen und keine Nachrichten sahen, um möglichst effektiv zu vergessen, woher unsere Burger, Drinks, Klamotten und Handys kamen.

Plötzlich fiel es mir schwer zu leugnen, dass jeder, der an diesem Abend und an diesem Ort anwesend war, inklusive mir, die Möglichkeit dazu hatte, für die ungeschriebene Zukunft dieser Erde, einer Tabula rasa, die etwas Farbe vertragen konnte, etwas Gutes zu tun. In Wirklichkeit tat aber niemand etwas und wir ließen das Blatt weiterhin vergilben, obwohl jeder wusste, dass es so nicht weitergehen durfte.

An Meinungen mangelte es nicht, an Überzeugungen auch nicht, aber was konnte man schon tun? Etwas zu tun, bedeutete, sich anzustrengen, und das wollte kaum einer. Die meisten von uns wollten sich nur gut fühlen, gut essen, trinken und sich anderweitig berauschen.

Sich ab und zu aufzuregen, wie schlecht die Bedingungen in den Fabriken in Bangladesch waren, oder darüber zu staunen, wie viel Wasser verbraucht wurde, damit ein Steak seinen Weg auf den Teller finden konnte, das genügte, um kein allzu schlechtes Gewissen zu haben, während man ein 5-Euro-Shirt trug und einen fetttriefenden Doppel-Cheeseburger für 2,29 € verdrückte.

Wir waren zu gemütlich geworden, um wirklich begreifen zu können, was wir da anrichteten; weichgemacht von einer Generation, deren Selbstbild noch intakt war. Du kannst alles werden, was du willst, hatten sie uns gesagt.

Da waren wir also, erwachsen, und stellten fest, dass unsere Eltern uns angelogen hatten.

Was für eine Szenerie! Das neue Jahrtausend, wie es leibte und lebte. Dreißigjährige, die sich immer noch wie Teenager verhielten, lächerliche Klamotten trugen, jegliche Verantwortung von sich wegschoben, infantile Scherze machten, sich durchs Leben wuselten, in den Tag hineinlebten und noch immer unzufrieden waren.

So lief es in einer der angesagtesten Städte der Welt, hier konnte man ein gedankenloses Arschloch sein und fiel nicht weiter auf.

Wozu ein Buch lesen, wenn es Bier gibt?, wäre ein passender Titel für diese Aufführung gewesen.

The End.

Die Laterne über mir ging an und bald würde es auch dunkel genug sein, damit das künstliche Licht Sinn ergab. Direkt neben mir fuhr ein Typ auf einem Segway beinahe eine Frau in einem futuristisch anmutenden Plastikfetzen als Kleid über den Haufen.

Man konnte sich wirklich leicht täuschen und denken, die Zukunft sei hier, aber wie konnte die Zukunft hier sein, wenn der Mensch der gleiche geblieben war, wie ein Anfang zwanzigjähriges Mädchen auf der anderen Straßenseite deutlich machte, indem sie ein AfD-Plakat auf einem Rohrpfosten montierte, danach mechanisch etwas in ihr Smartphone tippte und seelenruhig weiterging, mit einem vollen Rucksack weiterer blauer Plakate auf dem Rücken?

Kaum einer bemerkte, was sie getan hatte, denn dazu waren die meisten von uns Millennials viel zu sehr mit Nichtstun beschäftigt. Und die, die sie bei ihrer Schandtat gesehen hatten, unternahmen nichts dagegen. Das war meine Gruppe.

Jetzt wird's Zeit, dachte ich und meinte ein kühles Bier, überquerte die Torstraße, bog erst in die Alte Schönhauser Straße und dann in die Linienstraße, wo ich in Ruhe flanieren und nachdenken konnte, so wie ich es von Anfang an geplant hatte.

Das einzige Problem war, dass ich gar nicht mehr allein sein wollte. Die paar Straßenzüge, in denen ich herumgewandert war, und die wenigen Gedanken, die ich mir gemacht hatte, hatten ausgereicht, um meine Welt wieder geradezurücken und mich zu erden. Ich war bereit, sehnte mich sogar nach einem Gespräch mit einem anderen Gespenst – zur Not auch mit einem menschlichen Wesen.

Mit meinen Händen in den Taschen, leicht gebeugt und meinen Blick nach vorne gerichtet, spazierte ich die Linienstraße entlang in Richtung Rosenthaler Platz.

Anastasia.

Gemeinsam mit diesem Namen entfaltete sich ungewöhnlich detailreich ein Gesicht vor meinem inneren Auge. Es war ein sehr hübsches Gesicht, rundlich, aber nicht dick, blass, aber nicht ungesund, die gewellten blonden Haare reichten bis zur Schulter, und wenige Sommersprossen zierten rosa Wangen. Diese Wangen gehörten meiner besten Freundin, der einzigen richtigen Kumpanin, die ich in Berlin hatte und die ich liebte, wie man nur seinen besten Freund lieben konnte.

Sie zu treffen, das ging nicht. Seit drei Monaten lebte Anastasia bereits in Paris, wo sie ein Praktikum absolvierte, aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie zurückkehrte, und mit ihr die Normalität. Das war ein Grund zur Freude, denn ohne meinen Engel drohte ich, meinen Verstand zu verlieren. So fühlte es sich zumindest an.

Soll ich nochmal zurück und Olli holen?, fragte ich mich. Der saß bestimmt noch immer am selben Fleck und trank seine Flasche Fusel leer. Nein, Zurückgehen war keine Option. Zurückgehen war nie eine Option, nicht während meiner Spaziergänge, meiner unspektakulären Abenteuer, die mir heilig waren. Abgesehen davon hatte ich nicht gerade eine hundertprozentige Lust auf die Wieselspinne. Mein Nachbar war schon okay, aber wir kannten uns noch nicht derart gut, dass ich in seiner Gegenwart ich selbst sein konnte.

Olli hatte mir mit ein paar Kartons geholfen, als ich ins Haus eingezogen war, danach hatten wir bei ihm gekifft und Super Smash Bros. auf der N64 gezockt. Ein anderes Mal hatten wir uns zufällig beim thailändischen Imbiss im Erdgeschoss unseres Hauses getroffen, gemeinsam gegessen, ein paar Biere getrunken und dann bei ihm gekifft und Musik gehört. Ein paar weitere Male hatten wir bei seinem Fenster geplauscht, über das, was wir beruflich taten und woher wir kamen, was wir zu tun gedachten und Ähnliches. Währenddessen hatten wir – natürlich – gekifft. Mit Olli ging das schwerlich anders.

Jetzt, während ich den Rosenthaler Platz überquerte, hatte ich keine Lust auf ein Kennenlern-hin-und-her-Geplänkel, das anstrengend für mich gewesen wäre, weil ich schon beinahe verlernt hatte, wie das ging. Von einem Geist war das wohl nicht anders zu erwarten, nahm ich an.

Nirgendsmann

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