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IX

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Das Labyrinth war eine gemütliche Kneipe mit vielen winzigen, über enge und verästelte Flure miteinander verbundenen Räumen, gutem Bier und unanständiger Rockmusik. Drinnen sah es aus wie in Draculas feuchtesten Träumen: schwaches Licht trotz unzähliger Kerzen, gepolsterte Sitzmöbel, samtene Tischdecken, Kunst an den kahlen, unrenovierten Wänden, an denen nur mehr stellenweise Tapetenreste hingen, die Räumlichkeiten in burgunderrot und kastanienbraun gehalten. Im Labyrinth war es zu jeder Tageszeit dunkel, dafür sorgten dicke schwarze Stoffvorhänge. Viele Gäste störten sich an dieser vampirischen Atmosphäre, weil sie sich beim Sehen anstrengen mussten, andere fanden sie kultig, ich hatte einfach nur Glück, dass der Besitzer a) ähnlich lichtscheu war wie ich und b) eine ausgezeichnete Bierauswahl anbot.

Um diese Uhrzeit, kurz vor zwanzig Uhr, war der Laden blutleer und beinahe leblos, denn zur Geisterstunde kamen lediglich Gespenster, solche wie ich. Richtig voll würde es erst zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr werden.

Ganz hinten, in einer Ecke, am Ende des länglichen Tresens, saß ein mir unbekanntes Phantom. Es hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, trank wässriges Bier und unterhielt sich sporadisch mit Jens dem Barkeeper, um nicht gänzlich zu vereinsamen. Das konnte ich sehen, weil es manchmal auch meine Taktik war.

Die Giftmischer der Stadt waren diejenigen Unsichtbaren, die ich am häufigsten sah und die mich am besten kannten, abgesehen von Anastasia, natürlich. Ein bisschen armselig, oder? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, mochte ich mein Schattendasein gerne. Es kam vor, dass ich mich anpassen wollte, denn es war verlockend, so zu sein wie all meine alten Freunde, die über beide Ohren und aus dem Bildschirm heraus strahlten, immer so verdammt glücklich und erfolgreich. Meistens wollte ich aber ein Geist bleiben, weil ich mir bewusst war, dass die Gesellschaft krank war, ihre Mitglieder Lügner und keiner so glücklich, wie er sich gab. Mich nicht anzupassen, war besser für mich. Nur so konnte ich gesund bleiben.

Aus einem der hinteren Räume hörte ich erregtes, hyänenähnliches Lachen mehrerer hyänenähnlicher Statisten. Es waren also doch schon Menschen hier, ganz untypisch für die Geisterstunde.

»Jens«, sagte ich und nickte ihm zu.

»Herr Nirgendsmann«, grüßte er zurück und streckte mir seine Hand zum Schütteln entgegen.

»G-geht's gut?«

»Ja, wenig aufregend, und selbst?«

»Gut.« Ich sah hoch zur großen schwarzen Tafel, die über den Getränken hinter der Bar angebracht war und alle Blicke auf sich zog, als ob Moses höchstpersönlich sie angefertigt hätte. Zehn Namen waren dort zu lesen, weiße Kreidestriche, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Es handelte sich um die aktuellen Fassbiere.

Ein oder zwei waren immer gleich, Plörre für das geschmackliche Gesocks, das sich in diese Bierbar verirrte, die nicht weniger wollte, als ihrer Kundschaft die besten Biere der Welt zu präsentieren. Die anderen Hähne hatten stets etwas Neues für den experimentierfreudigen Craft Beer-Gaumen zu bieten.

»Heute habe ich Lust auf e-e-etwas Fruchtiges und gleichzeitig Bit-t-teres für den Anfang. Kannst du mir da was empfehlen? Ein New England IPA oder ein T-t-tropical vielleicht?«

»Lass mal überlegen …« Er sah ebenfalls hoch zur Tafel. »Vom Fass eher nicht, sorry. Aber als Dose …«, er griff zielsicher in einen kleinen Kühlschrank mit durchsichtigen Wänden neben dem mir unbekannten Phantom an der Bar, »… haben wir ein neues Tropical von BrewDog. Ist eher mittelmäßig.«

Ich nahm die Dose in die Hand und sah sie mir kurz an, um höflich zu sein und winkte ab. Das Wort mittelmäßig passte nicht zu Bier, schon gar nicht im Labyrinth.

»Weißt du was, ich glaube, heute brauche ich etwas, d-das mich fröhlich s-s-stimmt. Welche Barley Wines habt ihr momentan?« Ich schämte mich für mein Stottern, das mich erst seit wenigen Wochen vereinzelt attackierte.

Was ist das nur?

Jens sog die Luft deutlich hörbar und demonstrativ angestrengt durch seine Zähne ein. »Uiuiui, da ist's auch dünn. Lass mich schauen.« Er begann, in einem der hüfthohen Kühlschränke unter der Ablage hinter der Theke herumzukramen, um schließlich mit zwei 0,33-Liter-Flaschen aus der Versenkung aufzutauchen.

»Immerhin, zwei habe ich gefunden. Beide sehr gut. Der Erste von De Molen, ein standardmäßiger Barley Wine, also ohnehin fantastisch und vom Preis her ganz okay. Der Zweite von Põhjala, in einem Bourbon-Fass gereift, ist ein Erlebnis. Ich habe ihn selbst noch nicht getrunken, aber nur Gutes gehört.«

»Scheiße«, bemerkte ich, »ein Barley Wine von Põhjala. Den muss ich probieren! Und b-bitte, tue mir einen Gefallen, sag mir nicht den Preis, okay?«

Jens grinste. »Wirklich?«

»Ja, ehrlich. Gib mir die Flasche, gib mir ein G-Glas, tipp den Betrag ein, lass mich die Karte drüberziehen und wir vergessen die g-g-ganze Sache.«

»Du bist der Kunde, du bist der Boss.«

Nach getaner Transaktion prostete ich Jens und dem Eck-Gespenst, das unserem Fachsimpeln aufmerksam zugehört hatte, symbolisch aus der Ferne zu. Ich bekam zwei erhobene Gläser als anerkennenden wohl-bekomms-Gruß zurück und verkrümelte mich an einen der Tische bei der Tür auf der anderen Seite des Raumes, um ebenfalls zu einem Eck-Gespenst zu werden.

Von dort aus, meinem Lieblingsplatz, überblickte ich einen großen Teil des Labyrinths, darunter die Theke und die Toiletten, was im Verlauf eines Abends sehr nützlich sein konnte. Das unscheinbare Plätzchen neben der Tür war mir auch deshalb sympathisch, weil ich mit meinem Stuhl gegen die Wand gelehnt niemanden mehr hinter mir hatte und jederzeit nach draußen spähen konnte, indem ich den Vorhang neben mir ein paar Zentimeter beiseiteschob.

In wohlig warme Vorfreude gebettet goss ich etwa 0,1 Liter aus der 0,33-Liter-Flasche in das kelchförmige Bierglas, hielt es gegen das spärliche Licht einer Kerze und begutachtete das rötliche, für Bier-Verhältnisse dickflüssige Getränk, das Nonplusultra unter den Bieren, ein sechzehnprozentiges Meisterwerk aus den Händen eines Künstlers. Um zu wissen, dass ich einen außergewöhnlichen Tropfen in der Hand hielt, musste ich ihn nicht einmal kosten. Das Aussehen und der fruchtig hopfige Geruch, den ich genussvoll auf mich einwirken ließ, bevor ich einen ersten vorsichtigen Schluck nahm, sagten alles. Der Akt des Trinkens diente, außer dem Genuss, nur mehr einer fortwährenden Bestätigung meines ersten Eindrucks.

»Ja, zufallsverdammt, ja! Fantastisch«, murmelte ich, fühlte mich schlagartig gut, nicht mehr fehl am Platz, wieder in der Spur, ähnlich, wie ich mich gefühlt hatte, als ich eine Stunde zuvor aus dem Haus getreten war.

*

Das Labyrinth füllte sich, ich hatte die Hälfte meines Barley Wines ausgetrunken und meine Stimmung blühte vom Hopfen in meinem Bauch beflügelt auf. Ich sah abwechselnd runter, blätterte in meinem Siddhartha, den ich von Anastasia geschenkt bekommen hatte, und hoch zu den Menschen und ihren Kinkerlitzchen. An einem der Nachbartische buhlten zwei Jungs um die Gunst eines Mädchens. Am zweiten Nachbartisch saßen drei junge Frauen und sprachen über das, was ihnen an diesem Tag wiederfahren war.

Wertlos, so schien es ihm, wertlos und sinnlos hatte er sein Leben dahingeführt; nichts Lebendiges, nichts irgendwie Köstliches oder Behaltenswertes war ihm in Händen geblieben. Allein stand er und leer, wie ein Schiffbrüchiger am Ufer.1

An einem Tisch auf der anderen Seite des Raumes spielten vier Freunde Karten.

Nicht steht mir zu, über eines andern Leben zu urteilen! Für mich allein muss ich urteilen, muss ich wählen, muss ich ablehnen.2*

An der Theke angelehnt führten zwei Typen ein Fachgespräch über Bier.

Schreiben ist gut, Denken ist besser. Klugheit ist gut, Geduld ist besser.3*

Und jedes Mal, wenn ich hochsah, stellte ich mir vor, was ich zu den Menschen sagen wollte für den Fall, dass ich mich aufraffen und zu ihnen gehen würde, um sie kennenzulernen. Insgeheim wollte ich nichts mehr als das, aber ich wusste auch, dass es nicht passieren würde. Dazu war ich zu lange Geist gewesen.

Aber in meiner Vorstellung, da war ich äußerst eloquent, viel eloquenter, als ich es tatsächlich hätte sein können.

»Einen schönen guten Abend, ich habe mich gefragt, ob Sie ein paar Minuten entbehren könnten?«, würde ich zuerst sagen, dachte ich. Dieser charmanten Einleitung könnte ein geistreiches »Ich weiß, das ist viel verlangt. Immerhin haben wir 2018 und Ihr Leben wird nicht weniger ausgelastet sein als meines.« folgen. Ja, wunderbar! Garniert mit einem »Sie werden vermutlich ebenso wie ich in der Verpflichtung stehen, möglichst zeitnah wieder auf eine Nachricht zu antworten, vielleicht auf die eines Arbeitskollegen, Freundes, Familienmitgliedes oder der Beziehung, oder nachzusehen, ob es Neuigkeiten in irgendeiner Form gibt, im sozialen Netzwerk ihres Vertrauens oder derjenigen Nachrichtenseite im Internet, die ihrer Gesinnung am nächsten steht …«.

Zufall, was für ein Gelaber!

Zum Glück sagte ich nichts, stand nicht auf, sondern blieb sitzen, genoss weiterhin mein Getränk und beobachtete. Das war okay so. Ich war es gewöhnt, nur zu beobachten. Darin war ich gut. Außerdem konnte ich nicht einfach aufstehen und die armen Menschen belästigen. Sie wollten wahrscheinlich unter sich sein. Hätten sie plötzlich einen Geist gesehen, hätten sie sich erschrocken. Das wollte ich nicht. Geister sollten unsichtbar bleiben, denn Geister wurden missverstanden.

Als ich den letzten Schluck Bier aus der Flasche ins Glas goss, war ich in bester Laune und lächelte unwillkürlich in die Menge. Alles ist gut, dachte ich, mehr als das, perfekt. Nicht einmal die Hyänen störten mich noch.

Man soll sich nicht immer so viele unnötige Sorgen machen und einfach das Leben seinen Lauf nehmen lassen. Wie's kommt, so kommt's, nicht? Es geht um den Moment, richtig? Angeregt sprach ich im Geiste mit mir selbst und war keineswegs betrübt darüber, allein zu sitzen, obwohl die Bar, es war mittlerweile zwanzig nach neun, aus allen Nähten platzte.

Nirgendsmann

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