Читать книгу Nirgendsmann - Markus Szaszka - Страница 11
VII
ОглавлениеWährend ich das Treppenhaus hinunterlief, war ich ungeduldig, wollte endlich draußen sein, schmutzige Straßenluft atmen und mich erfrischt fühlen. Das Haus war ein in der Nachkriegszeit erbautes, städtisches Mietshaus. Dieser Zeit entsprechend war auch der Flur farblos und nur darauf ausgerichtet, seine Funktion ordnungsgemäß zu erfüllen. Ein Jammer, bedachte man, was davor für ein Prachtbau an dieser Stelle gestanden hatte. In der Torstraße war '45 ja gar nicht einmal so viel kaputtgegangen, mit wenigen Ausnahmen, so wie hier, wo kein Stein mehr auf dem anderen gelegen hatte; zwar nicht durch die Nazis, aber wegen ihnen. Wie es hier vor Hitler ausgesehen hatte, zeigte eine im Erdgeschoss an die Wand genagelte schwarzweiß Fotographie. Auf ihr war ein geräumiger Eingangsbereich mit hoher Decke, Stuck, handbemalten Berlin-Motiven an den Wänden und einer in der Eingangstür eingefassten Glasmalerei, die einen brüllenden Braunbären abbildete, zu sehen. Und jetzt? Beton, Spanplatten, Gräue.
Dumme Nazis!, überkam mich eine richtige und gleichzeitig recht stumpfe Emotion, bevor sie von einer anderen Empfindung verdrängt wurde, nämlich einer unangenehmen Trockenheit in meiner Kehle und auf meinen Lippen.
Ein Bier musste her, so wie an fast jedem Tag, früher oder später, meistens aber in etwa um diese Zeit, gegen sieben Uhr abends das erste.
Ein wenig übermotiviert stieß ich die Eingangstüre mit beiden Händen und dem Außenrist meines Schuhs auf. In Gedanken versunken vergaß ich, dass ihr Schloss vor Kurzem aufgebrochen worden war und sie keinerlei dämpfenden Mechanismus besaß. Hinzu kam, dass diese Tür nach außen aufging und nicht nach innen, wie es eigentlich sein sollte; womöglich der Streich eines gelangweilten Bauarbeiters, vielleicht auch nur ein Versehen, aber in jedem Fall brandgefährlich für vorbeilaufende Passanten. Wie man sich erzählte, hatte es in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals handfeste Rangeleien, Veilchen und allerlei Tränen gegeben, weil Hunde- oder Menschennasen zertrümmert worden waren, Fahrradfahrer beinahe ihre Leben verloren hätten oder Omas vor Schreck das Gebiss aus dem Mund gefallen war. Mit einem geräuschlosen und doch bedrohlichen Ruck öffnete sich die hohle Holztüre auch dieses Mal in die falsche Richtung, doch an diesem Abend war glücklicherweise keiner da, um Schaden zu kassieren.
Es war soweit. Ich musste nur noch hinaustreten, durch die 0,9 x 2 Quadratmeter, die mir nicht weniger präsentierten als pure Freiheit, a.k.a. die Straßen der Stadt, a.k.a. ein verheißungsvolles Versprechen.
Ich machte einen Schritt nach vorne und nahm einen Atemzug, der sich für mich anfühlte wie ein Schuss Heroin für den Herrn Junkie. Es war, als wäre mir mit einem Ruck ein Klumpen aus der Luftröhre gesaugt worden, der mich zuvor stundenlang am freien Atmen gehindert hatte.
Jetzt ging es rasch. Vitalisierender Sauerstoff drang in meine Lunge, von dort aus in die Blutbahn, ritt auf den Blutkörperchen durch Venen, schien sie in alle Regenbogenfarben einzufärben und füllte meine Gliedmaßen bis in die Enden der Finger- und Zehennägel mit Energie.
Zugegeben, dafür, dass ich derart high wurde, passierte noch nicht viel. Nur wenige Passanten dackelten über die abendliche Torstraße. Ein hippes Pärchen hier, ein Hip-Hop-Junge mit Kopfhörern da, eine stark verbrauchte, Zigarette rauchende Fünfzigjährige mit zur Hälfte rosa eingefärbten Haaren dort, doch alleine die Möglichkeit, dass irgendetwas passieren könnte, machte für mich den Unterschied zwischen drinnen und draußen, zwischen Wohnzimmercouch und der Straße aus.
Aber da die Welt kurzlebig geworden war, ließ schon der zweite Schritt meinen Puls wieder sinken. Ein Blick nach rechts, einer nach links, ach ja, ein Bier.
Ohne gleich zu verstehen, woher es kam, ob es sich um einen Menschen, ein Tier oder ein Fahrzeug handelte, vernahm ich ein Geräusch.
Wououououou. Ich erschrak, weil es so nahe war.
Die schwer zu definierenden Laute kamen von Olli, meinem Nachbarn aus dem Erdgeschoss, der auf seiner Fensterbank saß und seinerseits erschrocken dreinblickte, weil er aufgrund meines wuchtigen Auftrittes offensichtlich aus seinen Tagträumereien gerissen worden war.
»Sorry, Mann«, sagte ich.
»Kein Ding«, erwiderte er, mit dem Po auf dem Brett, dem Rücken gegen den Drehflügel gelehnt und die Füße am gegenüberliegenden Gemäuer abgestützt. Im Inneren seiner Wohnung brannte kein Licht, trotzdem erkannte ich Raudis Umrisse auf dem Sofa, Ollis Hund, ein junger Schäferhund-Mischling, der nur kurz den Kopf hob, um mich anzusehen und dann weiterzudösen. Sein Herrchen hielt eine Rotweinflasche in der einen Hand, in der anderen ein Stofftaschentuch, mit dem er sich alle paar Minuten Tränen von einer Wange wischte, denn Olli hatte ein chronisch erkranktes, tränendes Auge.
Im Fenster zu sitzen und den Passanten beim Vorbeigehen zuzusehen, war eines seiner Hobbys. Es befriedigte seine sadistische Ader, wenn die Fußgänger ihn im letzten Moment entdeckten und einen Schreck bekamen, obwohl er nichts tat, nichts sagte, sich nicht rührte, sie lediglich beobachtete, von Dunkelheit umhüllt. Das unsichere Wegschauen der Menschen bereitete ihm große Genugtuung, denn dann fühlte sich Olli zur Abwechslung auch mal überlegen.
Die dunkelblonden Haare wuchsen dem – seiner Aussage nach – enddreißigjährigen Urberliner, der älter aussah, nur dünn um das Gesicht herum. Ein hübsches Antlitz hatte er noch nie gehabt, nicht einmal als junger Knabe. Der Dreitagebart, die spitze Nase und die tiefen Falten auf der Stirn und um die Augen ließen ihn wie ein Wiesel aussehen.
Das T-Shirt, das Olli anhatte und auf dem Slayer, Diabolus in Musica World Tour 1998 stand, war ihm ein paar Nummern zu groß. Im Gegensatz zum Shirt lagen seine Jeansjacke und -hose derart eng an seinen dürren Gliedmaßen an, dass sie ihn wiederum wie eine Spinne aussehen ließen, wenn er sich bewegte, was nicht so häufig geschah, denn die Wieselspinne Olli war ein Slacker.
Er rauchte gerne die Bong, trank gerne Alkohol und arbeitete so wenig, wie es ging, indem er sich sporadisch etwas dazuverdiente, entweder als Barkeeper in der Rockkneipe um die Ecke oder bei einem seiner Singer-Songwriter-Gigs in den vielen kleinen Cafés, Kneipen und Restaurants der Stadt, in denen es Kleingeld im Gitarrenkoffer und flüssige Bezahlung gab.
Hatte er die Kohle für sein tägliches Gras, Bier und Fast Food beisammen, konnte er sich ungestört seiner eigentlichen Leidenschaft zuwenden, nämlich dem Hören von Grunge-, Punk-, Rock- und Metal-Alben aus den Achtzigern und Neunzigern, was ihn glücklicher als sonst etwas auf der Welt machte.
Das Wohnen war in Ollis Leben inklusive, wie er zu sagen pflegte. Damit meinte er die abbezahlte Eigentumswohnung, in der er die meiste Zeit rumlungerte, seit sie im Alter von sechzehn Jahren auf ihn überschrieben worden war, nachdem seine Mutter das Zeitliche gesegnet hatte.
Mit den Worten War 'ne scheiß Kindheit jewesn, umschrieb Olli seit jeher die Zustände um seinen stets abwesenden Vater und seine krebskranke Mutter. Mehr wollte er dazu nicht sagen. Er konnte es auch nicht, denn was auch immer Nachbar Olli in den letzten beiden Jahrzehnten hätte aufarbeiten können, war zusammen mit dem nach teerigen Ablagerungen riechenden Schmand am Glasboden seiner Bong klebengeblieben.
»Wohin so zackig?«, fragte mich die Wieselspinne und wischte sich eine hinunterkullernde Träne weg. Ich trat zu ihr ans Fenster, obwohl mich mein Bedürfnis nach einem kühlen Bier zu malträtieren begann. Für ein kurzes Schwätzchen am Fensterbrett war immer Zeit und ich mochte meinen Nachbarn, meinen Bekannten, denn um Olli einen Freund nennen zu können, dafür waren unsere gar nicht mal so seltenen Begegnungen zu ungeplant.
»Nur s-s-spazieren, nichts Besonderes. W-wie geht's denn so?« Verflixtes stottern. Das hatte ich, wenn es frühabends und meine selten benutzte Zunge noch nicht warm war.
»Same ol' same ol'«, erwiderte Olli tiefenentspannt, offensichtlich gut sediert, in einem unangenehmen, weil berlinerisch angehauchtem Englisch (ssemol ssemol), und streckte mir seine Flasche entgegen, die ich dankbar nickend ablehnte. Der erste Schluck, der mir die Trockenheit aus dem Mund vertreiben sollte, durfte kein Fusel sein, kein billiger Rotwein, an dem mein Nachbar schon den ganzen Abend genuckelt hatte und der mit Sicherheit schon aus einem inakzeptabel hohen Prozentsatz Olli-Speichel bestand.
»Suit yourself«, sagte er, erneut mit grässlicher Aussprache (ssut jorsjelf), die mich innerlich zusammenzucken ließ. »Hab mir schon eenen anjedudelt und wär' startklar«, stellte der Mann im Fenster fest, der fälschlicherweise eine Einladung vernommen hatte. Sein hoffnungsvoller Blick, an den ungewaschenen Strähnen vorbei, und sein halb aufgerichteter Oberkörper unterstrichen das.
»A-alleine«, brach es aus mir heraus. Olli sah mich verwundert an. Ein wenig zu spät schob ich einen weiteren Satzteil hinterher, den ich mir fix ausdenken musste, um den ersten, etwas unhöflichen Impuls zu verdecken. »… muss ich sein, um nachzudenken.«
Enttäuscht lehnte sich die Wieselspinne wieder gegen das geöffnete Fenster und begann schweigend, über meinen Kopf hinweg, nach irgendetwas Ausschau zu halten. Olli konnte sehr schnell beleidigt sein, schlimmer als ein kleines Kind, und dann schmollte er, was seine Visage noch mehr entstellte, weil sich dann seine feuchten Rotweinlippen nach vorne stülpten wie glitschige Regenwürmer.
Aufgrund meiner nicht selbst verschuldeten und doch unbezweifelbar vorhandenen Unhöflichkeit fühlte ich mich dazu verpflichtet, noch etwas hinterherzuschieben, obwohl ich nichts anderes wollte, als alleine zu sein und ein kühles Bier zu trinken. »Wenn du magst, v-v-vielleicht bin ich später im Labyrinth, so in einer Stunde. Also vielleicht sehen wir uns dann dort?«
»Ja, klar, mach mal.« Gleichgültigkeit mimend winkte Olli mit einer Hand ab und sah noch demonstrativer weg von mir, nach oben, an der Hauswand vorbei, wo sich einige wenige rosa Wolken vor hellblauem Hintergrund auflösten.
Eine kurze Weile blieb ich noch stehen, betrachtete meinen Nachbarn ungläubig und fragte mich, wie alt er wohl wirklich war. Dann war es an der Zeit zu gehen, also tat ich das, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in Richtung nächstgelegener belebter Kreuzung: dem Rosa-Luxemburg-Platz.