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Drei Tage später sah Lucas im Wartezimmer seine alte Freundin Dina. Er reichte ihr kurz die Hand und wandte sich dann dem gebeugten kleinen Mann zu, der ihm von Evelyn als nächster Patient angewiesen wurde. Er ließ ihn bei sich unterhaken und führte ihn ins Sprechzimmer. Der Mann war ihm seit Jahren bekannt. Lucas sah mit einem Blick, dass sich sein Zustand seit dem letzten Kontrollbesuch nicht verändert hatte. Er führte ein paar Routineuntersuchungen durch und stellte ein paar Fragen. In Gedanken war er aber bereits bei Dina, die nicht sehr glücklich ausgesehen hatte. „Ich schreibe Ihnen ein neues Rezept, und behalten Sie die Dosierung bitte so bei, damit es weiter gut läuft“, sagte Lucas und reichte dem kleinen Mann die Hand, um ihn danach wieder zur Tür hinaus zu begleiten.

Dann bat er Dina herein und gab ihr, nachdem die Türe verschlossen war, einen freundschaftlichen Kuss. Sie war gewissermaßen seine älteste Patientin. Gegen Ende des Studiums hatte er die ersten Patienten im Krankenhaus unter Aufsicht selbst behandelt, darunter auch die attraktive Dina. Ihr fehlte damals nichts Ernstes. Es mussten nur einige Schilddrüsentests durchgeführt werden. Dina hatte gerade ihr Architekturstudium abgeschlossen. Lucas und sie fanden schnell heraus, dass sie einen gemeinsamen Freund hatten und lösten rasch mit dem „Du“ das übliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient auf. Schon bald nach Dinas Klinikaufenthalt hatten sie sich privat getroffen und Lucas wäre gerne bei ihr gelandet. Ihr gefiel sein Charme, das merkte Lucas schnell, doch irgendetwas hatte sie immer zurückgehalten. Mit der Zeit wurde das Verhältnis kameradschaftlich. Lucas hatte sie sich abgeschminkt, und in den letzten Jahren sah er sie fast nur noch in ihrer Eigenschaft als Patientin, auch wen sie ihn immer noch interessierte.

„Hallo, Dina“, sagte Lucas, „Setz Dich doch.“

Sie setzte sich an die andere Seite des Tisches, so wie jeder Patient.

„Wie geht es Pia und Lena?“ fragte sie.

„Danke, ganz gut, zumindest gestern Abend noch. – Und wie steht´s mit dir? Was kann ich für dich tun?“

„Ach, es ist immer das gleiche“, sagte sie und ließ den Kopf hängen. Das deprimierte Gesicht ließ ihre Attraktivität beinahe völlig verschwinden.

„Wieder Frank?“

„Ja, auch, ich bekomme ihn einfach nicht in den Griff. Er tanzt mir auf der Nase herum. Ich wünschte, er würde endlich eine Ausbildung anfangen oder so ein Freiwilligenjahr. Robert war in dem Alter viel einfacher. Ich glaube, er nimmt auch Drogen.“

„Und Ewald?“ Sie und ihr Mann Ewald hatten schon einige Krisen überwunden, aber immer auf Dinas Kosten, so sah es zumindest für Lucas aus. „Ist er ruhiger geworden?“

„Pah! Er betrügt mich nach Strich und Faden! Er glaubt, ich würde es nicht spitzkriegen. Offenbar hält er mich für minderbemittelt.“ Ihre Hände krallten sich in die Jacke auf ihrem Schoß.

Lucas schüttelte den Kopf. „Dina, Dina, wie soll das nur weitergehen!?“

Er schaute zum Fenster hinaus. Er mochte es nicht, wenn sie litt.. Sie wirkte dann so hilfsbedürftig, aber ihre Ehe konnte er nicht behandeln. Eine Weile schwiegen sie.

„Hast Du schon mal über Scheidung nachgedacht? Jetzt, wo die Jungs beinahe aus dem Haus sind?“

Dina begann zu schluchzen. Mehrmals versuchte sie etwas zu sagen, aber es klappte nicht. Lucas ging zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter, worauf sie nur noch heftiger schluchzte.

„Dina...“

Schließlich gelang es ihr, sich etwas zu fangen.

„Vor zwei Wochen habe ich versucht, mit ihm zu reden. Ich hab ihm gesagt, dass ich die Scheidung will. Und dann....“ Sie riss sich einen Moment zusammen, um einen möglichst beiläufigen Ton hinzubekommen, „Er hat mich geschlagen, zweimal - ins Gesicht.“

„Warum verlässt du ihn nicht? Soll er doch sehen, wie er zurechtkommt.“

„Beruflich hätte ich keine Chance, finanziell sieht es sowieso schlecht aus, Ewald ist praktisch pleite, seit einiger Zeit leben wir vom Geld meines Schwiegervaters. Sein Vermögen ist unsere Versicherung.“

„Und wenn du dich direkt an Deinen Schwiegervater wendest?“ meinte Lucas.

An Ewalds Vater, Merkel senior, hatte er gar nicht mehr gedacht. Der Mann hielt sich selbst für einen Pflegefall und ließ Dina für alle möglichen Dienstleistungen antanzen, aber Lucas sah das etwas anders. Er hatte ihn einige Male erlebt. Er ließ sich bedienen, spielte den Familienfürsten. Die meiste Zeit über lag er auf dem Sofa herum und benötigte diese und jene Medikamente, aber er konnte geradeso gut aufstehen und sich selbst versorgen. Doch er zog es vor, sich von Dina den Hintern nachtragen zu lassen. Lucas wusste das alles nicht nur von Dina, sondern hatte es bei Besuchen selbst erlebt. Wahrscheinlich hatte sich die Lage eher verschlimmert. Merkel konnte sich das erlauben. Er war reich und es gab einiges bei ihm zu erben, wenn er eines Tages den Löffel abgab. Wann dieser Tag kommen würde, stand aber in den Sternen.

„Ewald steckt mit seinem Vater unter einer Decke. Ich habe vor einiger Zeit versucht, mit dem Alten darüber zu reden. Aber davon wollte er nichts wissen. Dann bist du enterbt, sagte er nur, und ich solle es mir gut überlegen.“

Verzwickt. Lucas hatte keinen Rat für sie. Das war frustrierend, aber zuhören half ja den meisten Menschen. Er konzentrierte sich dann lieber auf ihre körperlichen Beschwerden, da hatte er mehr Erfolgsaussichten.

„Wie schläfst du denn? Kommst du überhaupt zur Ruhe?“

„Nicht gut. Ab und zu nehme ich eine von deinen Tabletten, aber nur wenn`s gar nicht anders geht. Ich will ja nicht abhängig werden.“

Er reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher.

„Aber nein, davon wirst du nicht abhängig. Es ist ein pflanzliches Präparat. Stärkere Sachen würde ich dir nicht einfach so aufschreiben. Du weißt ja selbst, dass das nur Krücken sind. Du musst deine privaten Probleme lösen, sonst wirst Du irgendwann noch richtig krank. Ich stelle dir ein neues Rezept aus. Nimm sie mal eine Zeit lang regelmäßig und dann komm in zwei Wochen wieder. Darüber hinaus kannst du mich immer anrufen, wenn es Probleme gibt, das weißt du, auch zu Hause und auch abends.“

„Ja, ich danke dir. Du bist der einzige, mit dem ich darüber reden kann.“

Lucas gönnte ihr eine kurze Atempause und brachte sie dann zur Tür. Hoffentlich erholte sie sich. Sie gefiel ihm einfach besser, wenn es ihr gut ging.

Danach setzte er sich in die kleine Küche der Praxis, um zwischendurch ein paar Schluck von dem immer viel zu schwarzen Kaffee zu nehmen.

Schon nach wenigen Momenten klingelte das Telefon in der Küche. Evelyn hatte durchgestellt.

„Ja“, sagte Lucas leicht genervt.

„Ein Anruf für Sie, Doktor, Ihre Ex-Frau. Soll ich sagen, Sie rufen zurück?“ Evelyn hatte gemerkt, dass Lucas etwas Ruhe wollte.

„Nein, nein, stellen Sie durch.“

Es klickte in der Leitung.

„Hallo Ann, wie geht`s?“, sagte er so freundlich wie möglich.

„Oh, gut, danke. Und selbst?“

„Alles bestens.“

„Du, pass auf...“

Wenn sie einen Satz so begann, verhieß das nichts Gutes.

„Ich bin in der Nähe. Ich wollte gleich in der Praxis vorbeikommen. Du machst doch gleich Schluss, oder? Tim ist auch dabei. Vielleicht gehen wir noch einen trinken. Geht das?“ Sie telefonierte scheinbar aus dem Zug heraus.

Sie war sich sicher, dass es ging, und, nun ja, es ging.

„Ja, ist in Ordnung. Äh... wirst du denn...?“

„Also dann um sechs. Cia-ao!“

Er knallte das Telefon auf den Tisch. Es brachte ihn zur Weißglut, wenn andere über ihn bestimmten.

Drei Stunden später verließ der letzte Patient die Praxis. Evelyn und die Azubi Heike hatten schon alles für den nächsten Tag bereitet.

„Tschüss, wir sind weg, Doktor“, rief Heike mit den nur beinahe lockigen blonden Haaren.

„Ja, schönen Feierabend.“

„Machen Sie noch nicht Schluss?“

„Nein, muss noch arbeiten und gleich kommt meine Ex.“ Das klang ungewollt klagend.

„Sie Ärmster“, sagte Heike im Gehen wie zu einem kleinen Kind, das quengelte. Ganz schön frech, aber auch süß dabei. Die Mischung hatte ihm bei der Einstellung gefallen. Trotzdem wollte er auch mal über seinen Führungsstil nachdenken.

Die Beiden waren noch nicht ganz zur Tür hinaus, als Ann und Tim eintrafen. Tim war jetzt vierzehn. Er ging voran, streckte die Hand aus und sagte „Hi, Dad“. Schlecht synchronisiert, dachte Lucas. Wieso sagt der Junge „Hi, Dad“?

„Wieso sagst du „Hi, Dad“?“ fragte er gereizt.

„Nur so´n Film“, sagte Tim und zuckte mit den Schultern.

Lucas versuchte nicht zu sagen, dass er wohl wieder ein Stück gewachsen war, auch wenn es unverkennbar war. Tim wandte sich ab. Pia, die hinter Tim stand, zuckte mit den Schultern und umarmte Lucas. Tim schlenderte mit beiden Händen in den Hosentaschen durch das offene Wartezimmer. Er verhielt sich wie ein verwöhnter Teenager. Lucas wurde für ihn immer mehr zu einem netten Onkel.

„Du siehst gut aus“, sagte sie. Lucas war überrascht. Wenn hier jemand gut aussah, dann war sie es. Lucas konnte kaum den Blick von ihr lassen. Er hatte sie einst wirklich geliebt, das wusste er jedes Mal, wenn er sie sah. Sie war die Lebenslust in Person, der Typ Frau, der in einem offenen Cabrio mit Haartuch und Sonnenbrille an der Cote d‘Azur von einer Cocktailbar zur nächsten unterwegs war. Jetzt trug sie einen leichten Mantel, der ein paar Tropfen abbekommen hatte, ihr braunes Haar legte sich prächtig um ihre Schultern. Sie war vielleicht manchmal etwas überdreht, und in 20 Jahren würde er sie wahrscheinlich eine alte, hysterische Kuh schimpfen, aber jetzt musste er schlucken.

„Du siehst auch gut aus“, sagte er. Aber das war zu hölzern geraten. „Ich meine, wow, du siehst toll aus!“ Er schaukelte ein wenig einladend mit den Armen. Ann überging das.

„Wir sind heute Abend auf dem 60. meines Onkels. Eigentlich wollte ich nicht kommen, hab´ mich dann aber kurzfristig umentschieden.“

„Komisch“, sagte Lucas, während er seinen Kittel auszog, „ist doch sonst nicht Deine Art.“

Ann verstand die kleine Spitze, aber sie kokettierte auch gerne mit ihrer Sprunghaftigkeit.

Er sah die ganze Bagage vor sich: ihren feisten Onkel, der sich beklagte, wenn seine Aktien plötzlich hunderttausend Euro an Wert verloren, ihren Bruder Alex, ein Tagedieb wie aus einem alten Film, der nichts zu Wege brachte und auf Papas Erbe wartete, und nicht zu vergessen der schwuchtelige und waaahnsinnig begabte Neffe von Ann, der sicherlich wieder einen Auszug aus seinem neuesten Bühnenstück vortragen durfte. Lucas hatte immer das Gefühl gehabt, für diese Familie nicht gut genug zu sein. Ann gegenüber hatte er sich gerne über sie lustig gemacht, aber gegen die kühle, aristokratische Arroganz, die sie verströmten, konnte er sich nur schwer zur Wehr setzen. Eigentlich war es ganz praktisch, dass er sich dem ewigen „Na, wie läuft´s?“ nicht mehr aussetzen musste. Er war sich mit seiner Feld-, Wald- und Wiesenpraxis immer wie ein Eisverkäufer im Fußballstadion vorgekommen.

Sie ließ den Blick durch die Praxis schweifen.

„Immer noch eine hübsche kleine Praxis. Aber ein frischer Anstrich täte auch mal ganz gut, oder?“ Das war schon die Retourkutsche. Lucas zuckte mit den Schultern. Wann tat ein neuer Anstrich nicht gut!? Alles eine Frage des richtigen Zeitpunkts.

„Dass du immer noch im weißen Kittel in der Praxis herumläufst...“ Sie schmunzelte, oder verkniff sie sich bloß ein Lachen? „Ich kenne überhaupt keinen Arzt mehr, der einen Kittel trägt.“

„Dann darfst du eben nicht nur zum Psychiater gehen. Ich schlage vor, du gibst diesen Kittel mal in die Mikrobiologie zur Untersuchung. Dann kennen die Ärzte ohne Kittel dich bald auch nicht mehr. Diese Dinge haben einen Sinn!“ Wieder musste er sich ihr gegenüber aufplustern wie ein Gockel, er konnte nicht anders.

„Sei doch nicht gleich eingeschnappt“, sagte sie, „War doch nicht bös´ gemeint. – Lass uns über etwas anderes reden. Wir wollten doch einen trinken gehen... Zur Einstimmung! Wie wär´s mit dem Stich“, sagte sie unternehmungslustig. Sie freute sich auf den Abend, Lucas gab es sozusagen als Vorspiel, aber er stimmte zu. Um diese Zeit war das Café Stich noch gähnend leer. Der Name klang nach einem Ort, wo ältere Damen Strickmuster tauschten. Tatsächlich war es ein Szene-Treff, besonders spät abends, wenn der Diskothekenbetrieb begann. Ann war hier Stammgast und tanzte auch heute noch gerne die ganze Nacht. Sie hatte dort immer mehr hingehört als er.

Weil Ann und Tim mit dem Taxi gekommen waren, übernahm Lucas die Fahrt, die in die Stadt hinein eine knappe Viertelstunde dauern würde. Als er die Praxis hinter sich abschloss und sich in den Wagen setzte goss es wie aus Kübeln. Die Scheibenwischer hatten selbst auf höchster Stufe ihre liebe Müh und Not, und das herabströmende Wasser erlaubte kaum klare Sicht durch die Frontscheibe. Wenn gerade kein Wagen vor ihm war, konzentrierte Lucas sich auf den Mittelstreifen im Scheinwerferlicht, um die Spur zu halten.

Als er durch eine überspülte Unterführung fuhr, glaubte er plötzlich, am Straßenrand ein Gesicht gesehen zu haben, das ihn angeblickt hatte, nur für den Bruchteil einer Sekunde, wie ein Gespenst. Hatte da jemand gestanden?

„Hast du den gesehen!?“

„Alter! Da liegt ne dicke Maschine voll im Graben“, sagte Tim.

Es gab an dieser Stelle in unmittelbarer Nähe der Autobahnauffahrt keinen Bürgersteig und auch keinen Fußweg. Hatte sich jemand untergestellt? Aber irgend etwas war seltsam gewesen. Lucas setzte den Blinker und fuhr rechts heran. Es gab nur einen spärlichen Seitenstreifen, weil die Straße in ein Waldstück mündete.

„Sah unheimlich aus“, sagte Ann.

„Ich werd mal nachsehen“, sagte Lucas, hielt sich notdürftig die Jacke zu, während er aussteig.

Er lief durch den Regen das kurze Stück entlang der Straße zurück zu der Unterführung. Ein paar Autos kamen ihm entgegen. Im Scheinwerferlicht wurde Lucas bewusst, wie nass er in jeder weiteren Sekunde wurde. Seine Schuhe hatten sich längst den Wassermassen gebeugt.

Schemenhaft erkannte er in der Unterführung eine Gestalt und verlangsamte seinen Schritt. Lucas fragte sich, ob es gefährlich sein könnte, aber vielleicht brauchte die Person Hilfe. Es war ein Mann. er trug Motorradkleidung und blieb völlig regungslos stehen. Er stand einfach dort am Straßenrand. Die Lederjacke zierten allerlei martialische Symbole, in der Rückenmitte prangte ein Totenkopf. Lucas war unmittelbar vor ihm. Wäre alles in Ordnung gewesen, hätte er eine Regung gezeigt.

„Hallo!“, rief Lucas ihn durch den Regen an, doch der Mann bewegte sich nicht. Vielleicht stand er unter Drogen, das war nunmehr noch die günstigste Annahme. Wahrscheinlicher war ein Schock nach einem Unfall. Tim hatte ja eine Maschine im Straßengraben gesehen. Lucas blickte sich um. Ein Helm war weit und breit nicht zu sehen.

„Hallo“, rief Lucas erneut. Er streckte den Arm aus und berührte den Mann, doch der starrte nur weiter geradeaus. Er konnte durchaus schwere innere Verletzungen haben, auch wenn er hier so scheinbar ruhig stand. Lucas stellte sich in sein Blickfeld und versuchte, seinen Blick auf sich zu ziehen.

„Können Sie mich hören? Sind Sie verletzt?“ Lucas sah sich etwas ratlos um. Der Mann, vielleicht Mitte 20, so weit in dem Sauwetter erkennbar leicht ungepflegt, kurzes, mittelblondes Haar, bärtiges Gesicht, bewegte ein wenig den Kopf und begann, Unverständliches zu stammeln.

„Ich hole den Wagen und fahre Sie ins Krankenhaus“, sagte Lucas, „Bleiben Sie hier stehen. Oder, noch besser, gehen Sie ein Stück von der Straße weg. Ich bin sofort zurück.“

Er schob ihn vorsichtig ein Stück zurück, was er sich gefallen ließ. Immerhin konnte er sich auf den Beinen halten.

Lucas lief zurück zum Fahrzeug und setzte sich triefend vor Nässe hinters Lenkrad.

„Tut mir leid“, sagte er zu Ann und Tim, „der muss ins Krankenhaus. Er hatte wohl einen Motorradunfall. Wahrscheinlich nur ein Schock, aber ich kann ihn hier unmöglich stehen lassen. Ich schätze, das dauert eine Weile. Ich glaube, wir müssen unser Treffen verschieben. Ruft euch ein Taxi. Ich lass euch in der Unterführung raus und nehm´ ihn dann mit in die Klinik.““

Ann schaute verdutzt, doch Lucas passte bereits einen günstigen Moment ab, um den Wagen auf der Straße zu wenden. Lucas nannte Ann eine Taxinummer, die er auswendig wusste und verfrachtete den Motorradfahrer auf den Beifahrersitz. Als er sich quer über ihn beugte, um ihn anzuschnallen, roch er Alkohol.

„Vielleicht sehen wir uns ja morgen noch“, sagte er und gab Ann und Tim einen eiligen Kuss, bevor er so schnell, wie es die Verhältnisse zuließen, in Richtung Klinik fuhr. Sein Passagier verhielt sich weiterhin ruhig. Ab und an stieß er einen leisen Stöhnlaut aus. Seine Augen blinzelten nur sehr selten. Als er in der Notaufnahme der Klinik ankam, fuhr er so weit wie möglich an die breite Schleuse zum Notaufnahmebereich heran. Eine Schwester und ein junger Arzt liefen herbei.

„Bringen Sie eine Trage mit“, rief Lucas ihnen entgegen. Die Schwester machte auf dem Absatz kehrt, während der junge Arzt seinen Schritt verlangsamte. Wahrscheinlich wollte er sich nicht von jemandem herumkommandieren lassen, der kein Arzt war.

„Fassen Sie bitte mal mit an“, bat Lucas ihn, „Ich habe ihn am Straßenrand stehend gefunden. Er ist kaum ansprechbar, vielleicht ein bisschen eingetrübt. Wahrscheinlich ein Motorradunfall, keine sichtbaren äußeren Verletzungen. – Ich bin übrigens Arzt, Doktor Robert.“ Die Miene des jungen Arztes hellte sich sogleich auf. Glück für ihn, die Verantwortung lastete jetzt nicht mehr allein auf seinen Schultern. Außerdem konnte er Lucas’ Angaben ernst nehmen, was die Sache für ihn ebenfalls erleichterte.

„Ich bin Doktor Steinmann. Angenehm“, sagte er lächelnd, während sie den Motorradfahrer auf die Trage hievten, welche die Schwester herbeigeschafft hatte. Lucas begleitete sie ein Stück in die Ambulanz hinein. Der Abend war für ihn sowieso gelaufen. Sie fuhren in einen freien Untersuchungsraum. Steinmann durchsuchte die Taschen des Mannes nach Ausweisen und eventuellen Informationen, die für die Behandlung wichtig sein konnten.

„Der Mann heißt Ludwig Breck, 25 Jahre alt.“ rief er der Schwester zu, die am PC hantierte. „Schauen Sie doch mal, ob der Mann bei uns bekannt ist.“

Gleichzeitig sprach er immer wieder den Patienten an und versuchte, Antworten oder wenigstens eine Reaktion zu bekommen. Aber da war so gut wie nichts, und er ließ alles scheinbar unbeteiligt über sich ergehen.

„Scheint ganz schön unter Schock zu stehen, was? Vielleicht hat auch das Gehirn was abbekommen“, sagte Lucas, aber Steinmann war zu sehr beschäftigt, um sich auf ein Gespräch einzulassen.

In der Tür erschien ein kleiner Mann im weißen Kittel.

„Hallo Lucas! Du hier?“

Lucas erkannte Dirk Hauser sofort, obwohl die lang einwirkende Schwerkraft an seinem Körper offenbar ganze Arbeit geleistet hatte. Die Haare waren vom Kopf ans Kinn gerutscht, die muskulöse Brust in den Bauch und es kam Lucas vor, als wäre Hauser noch weiter geschrumpft.

Er schilderte Hauser kurz die Situation. „Und wie geht es Dir?“

„Ich bin Oberarzt in der Chirurgie und schaue Grünschnäbeln wie Steinmann auf die Finger“, sagte Hauser, nicht ohne Steinmann dabei zuzuzwinkern. Der scherte sich nicht darum, sondern ging weiter seiner Arbeit an dem Motorradfahrer nach. Offenbar verfügte er über das erforderliche dicke Fell für eine chirurgische Karriere.

„Prima“, sagte Lucas anerkennend, „und was ist aus Kai geworden?“

Eine Zeit lang waren Dirk, Kai und Lucas die Schrecken der Professoren gewesen, weil sie sich immer noch wie in der Schule aufgeführt hatten.

„Kai ist ziemlich heruntergekommen.“

Lucas wartete einen Moment, weil er spürte, dass eine Pointe in der Luft lag.

„Er ist zwei Etagen weiter unten im Keller – als Pathologe.“

Dirk konnte die Begeisterung für seinen Scherz kaum verbergen.

„Auch nicht schlecht“, sagte Lucas anerkennend, „Macht Ihr noch viel zusammen?“

„Oh, ja, er ist der Pate meines Ältesten.“

„Dann habt Ihr es ja gut getroffen. Freut mich!“

„Na ja, ich möchte trotzdem nicht mit Kai tauschen. Kannst Du Dich an Klaus Töller erinnern?“

„Klaus, die Klette?“

Dirk nickte.

„Oh Gott, ja!“ Lucas machte ein entsetztes Gesicht.

Dirk schob Lucas aus dem Behandlungsraum und zog die Türe etwas zu, damit Steinmann und die Schwester sie nicht hören konnten. Die beiden waren eifrig damit beschäftigt, den jungen Mann gründlich auf den Kopf zu stellen.

„Irgendwie hat er es geschafft, in die Pathologie zu kommen. Er ist da schon seit Jahren, länger als Kai, arbeitet aber immer noch als Kais Assistent. Kai hat den Job trotzdem angenommen, aber er stöhnt nicht schlecht über ihn. Die Hälfte der Arbeit muss Kai miterledigen. Klaus’ Vater war irgend ein hohes Tier. So verlaufen die Beschwerden im Sande, und so lange er keine echten Katastrophen anrichtet, ist da wenig zu machen.“

„Niederträchtig“, sagte Lucas, „die Toten können sich doch gar nicht wehren.“

Dirk lachte kurz. „Aber sieh es mal so: Hätte man ihn auf die Lebenden losgelassen, wäre er ein echtes Risiko für die Menschheit!“

Die Tür des Behandlungsraums wurde von innen geöffnet. Steinmann und die Schwester schoben den Patienten wieder hinaus.

„Und?“, fragte Hauser knapp.

„Wir machen ein CT. Tippe auf Schädel-Hirn-Trauma, müssen Blutungen ausschließen. Dann sollen sich ihn die Neurochirurgen ansehen.“

„So machen wir das, oder?“, sagte Dirk und schaute Lucas fragend an, der gar nicht mit einer Frage gerechnet hatte.

„Was? Ich? Ja, gut. Passt zu den Symptomen. Ich habe ihn nicht untersucht. Er musste aufgrund der Situation auf jeden Fall ins Krankenhaus.“

Hauser nickte ab, und Steinmann schob den Mann über den Flur zu den Aufzügen, die zur Röntgenabteilung führten.

„Wir sollten uns noch mal treffen. Du hast eine Hausarztpraxis, richtig? Was meinst du? Kai hätte bestimmt auch Lust.“

„Gerne“, sagte Lucas, „aber ohne die Klette.“

Dirk lachte und klopfte Lucas im Hinausgehen noch einmal jovial auf die Schulter.


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