Читать книгу Doktor Robert - Markus Vieten - Страница 9

5

Оглавление

Lucas war am nächsten Tag schon nervös aufgewacht. Die Zeit in der Praxis hatte er irgendwie und nicht sehr konzentriert hinter sich gebracht. Wenn das Telefon klingelte und seine Helferin sich meldete, lauschte er mitunter gebannt, ob es wohl Krott war, der einen Rückzieher machte und es vorzog, im Laufe der nächsten Wochen selbst zu sterben.

In den freien Minuten und auch nach Praxisschluss befasste er sich mit dem Sterbehilfethema im Internet. in einigen Ländern hatte man es da schon leichter. Lucas malte sich aus, wie es wohl sein musste, die Top-Praxis für Sterbehilfe zu sein. Für jeden Patienten den besten, individuell abgestimmten Cocktail zusammenzumixen, aber dafür hätte er schon auswandern müssen.

Dem Abend sah Lucas schon etwas gelassener entgegen. Er traf die Jungs zum Bowling – der einzig nennenswerte Sozialkontakt, den er noch pflegte. Fünf Freunde, nicht von Enid Blytons Gnaden, sondern übrig geblieben aus gemeinsamen Studententagen. Außerhalb des wöchentlichen Bowlings beschränkte sich ihr Kontakt auf Geburtstagsfeiern und ähnliche Anlässe. Alle waren viel beschäftigt, hatten Familien und Verpflichtungen, in der Tiefe ihrer Gespräche konnte man gut stehen. Da waren Karl, der Kahle, Stefan, der Stete, Philipp, der sich nichts nachsagen ließ, und Carsten, Pias Ex. Das Spiel war wie immer spannend und ein paar Bier taten ein Übriges, um Lucas für einige Stunden auf andere Gedanken zu bringen. Trotzdem musste er in den Pinkelpausen immer wieder an den kommenden Tag denken. Ein Gedanke, der ihn wieder wacher werden ließ, aber auch ablenkte. Entsprechend waren auch seine Ergebnisse auf der Bahn. Philipp, der sich nichts nachsagen ließ, hätte an diesem Abend auch blind werfen könne. Er traf einfach alles. Lucas wurde nur deshalb nicht Letzter, weil Carsten wieder seinen mangelnden Ehrgeiz zelebrierte, wofür Lucas ihm ab und an gerne einmal mit der Bowlingkugel den Schädel eingeschlagen hätte.

Später im Bett hatten ihn die Gedanken an den nächsten Tag wieder. Er ging den Ablauf immer wieder durch. Die Zeit würde knapp sein, wenn er seine Frau zum Einkaufen schickte. Er würde gleich nach der Begrüßung loslegen müssen. Die Infusion an sich war keine große Sache. Er hatte zur Sicherheit die Dosierung erneut recherchiert und dann noch mal dreißig Prozent draufgeschlagen.

Am nächsten Morgen war er früh wach, hellwach. Er lag im Bett und wartete darauf, dass der Wecker klingelte und Pia aufstand. Danach würde auch er aufstehen, wie immer. Er fühlte sich an diesem Tag vom ersten Moment an quicklebendig und voller Energie. Ein wenig schämte er sich dafür, dass der anstehende Tod eines Menschen ihm einen solchen Schwung gab.

Gegen Nachmittag entspannte er sich langsam. Die Nervosität wich einer kühlen sachlichen Ruhe, doch er spürte immer noch den hohen Puls. Es hatte etwas von einer Prüfung. Schon im Studium war er im Gegensatz zu seinen Kommilitonen oft in der Lage, bei großer Nervosität große Ruhe einkehren zu lassen. Damit war er wie geschaffen für einen Chirurgen-Job. Hatte er wohl von seinem Vater geerbt, doch die Vorstellung, auch diesen Weg einzuschlagen und sich auch weiterhin anhören zu müssen, was er alles nicht konnte und wie großartig Robert senior doch als Chirurg gewesen war, machten alle chirurgischen Fächer für Lucas zu einer No-go-Area.

Er beendete seine Sprechstunde pünktlich und entließ die Mitarbeiter nach Hause. Dann kontrollierte er in Ruhe seine Arzttasche. Infusionsbesteck und Totenschein waren da und auch eine Packung mit Barbiturat-Ampullen. Er war gespannt, ob Krott immer noch bereit war und ob es mit seiner Frau keine Probleme geben würde. Er spürte, wie sich sein Herzschlag langsam beschleunigte und sein Blutdruck stieg. Er wurde jetzt richtig heiß auf den Kick. So fühlte sich vielleicht jemand, dem sein erster Bungee-Sprung bevorstand. Die Adrenalindepots waren prall gefüllt, und es fehlte nur noch der letzte Anstoß, um den ganzen Körper damit zu fluten. Sein Stammhirn hatte die Herrschaft übernommen. Lucas bewegte sich wie von selbst. Er hatte gar nicht mehr das Gefühl, anders handeln zu können. Warum sollte er auch? Solange er seine Sterbehilfe gegenüber sich selbst und anderen rechtfertigen konnte, spielte es doch keine Rolle, ob er Vergnügen daran hatte oder nicht. Schließlich konnte er in seinem Kopf machen, was er wollte. Und dass ein baldiger schmerzloser und friedlicher Tod für Krott ein Segen war, stand außer Frage.

Als Lucas den Laubengang des Hauses betrat, sah er sie bereits in der Tür stehen. Sie trug einen Mantel und hielt eine Einkaufstasche in der Hand.

„Endlich sind Sie da.“ Sie trat aus der Tür und hielt sie für Lucas fest, bis er übernehmen konnte. „Ich muss rasch noch etwas besorgen. Er will heute Abend unbedingt Spargelcremesuppe“, sagte sie etwas gereizt und verdrehte dabei leicht die Augen.

„Ist gut, vielen Dank. Lassen Sie sich nur Zeit, ich bin ja jetzt da.“

Als Lucas die Tür hinter sich schloss, blieb er einen Moment stehen und horchte in die Wohnung hinein. Es war schon jetzt totenstill. Erst als er beinahe in Krotts Zimmer stand, hörte er dessen flache Atmung. Viel war nicht mehr los mit ihm. Er tat ein gutes Werk.

Krotts Augen waren halb geschlossen. Offenbar döste er. Als Lucas seine Tasche leise abstellte, schlug Krott die Augen auf und blickte ihn an. Lucas spürte die Erregung in sich aufsteigen.

„Da sind Sie ja“, sagte Krott und versuchte, sich aufzurichten.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Lucas trat an das Bett, fasste Krott unter den Armen und zog ihn ein Stück herauf. Dann erhöhte er das Kopfteil des Bettes so, dass Krott eine halbsitzende Position einnahm.

„Aufgeregt, was?“

„Wieso?“

„Kalte Hände haben Sie, ganz kalt! Und feucht sind sie auch. Pah! Dabei müsste wohl ich es sein, der aufgeregt ist.“

Lucas hatte sich seiner Tasche zugewandt.

„Ich habe mir den Tod immer als großen schwarzen Mann vorgestellt, der mit seinen knöchrigen Fingern nach mir greift.“ Krotts Finger versuchten, dieses Bild zu imitierten, was – abgesehen von seiner unwirklich gelben Hautfarbe – auch gut gelang. „Und eine große Kapuze trägt er, sodass man den Kopf nicht erkennen kann, aber man weiß genau, dass einen die Fratze eines Totenschädels angrinst. Huuuh!“ Er begann ein wenig irre hin- und her zu schaukeln. Lucas kramte immer noch in der Tasche. Die Infusion und das zugehörige Besteck hatte er bereits herausgeholt, aber die Packung mit den Barbiturat-Ampullen war leer. Er brauchte das Zeug so selten, und nach dem letzten Mal hatte er wohl vergessen, die Schachtel wieder aufzufüllen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wozu er sie überhaupt gebraucht hatte. Aber das war jetzt auch nicht wichtig.

„Statt dessen ist der Tod ein Grünschnabel, der sich gleich vor Angst in die Hose macht! Haha!“

Er konnte jetzt unmöglich einen Rückzieher machen. Krott begann, aus dem Ruder zu laufen und mit seiner Ruhe war es für Lucas jetzt auch vorbei. Er fühlte sich eher, als hätte er einen Finger in der Steckdose. Immer hektischer suchte er in den tiefen seines Arztkoffers nach Ampullen, die vielleicht aus der Packung gefallen waren oder wenigstens eine Packung Tabletten mit dem gleichen Wirkstoff. Die hätte er dann auflösen können. Aber nichts von alledem war zu finden.

„Möchten Sie nicht vielleicht doch warten, bis Ihre Frau wieder da ist?“, fragte Lucas, während er weiterkramte.

„Bloß nicht! Das Theater möchte ich nicht erleben!“

„Was soll ich ihr denn sagen?“

„Sagen Sie, was Sie wollen. Aber wenn Sie nicht bald anfangen, sterbe ich vorher noch eines natürlichen Todes!“ Dann setzte ein wieherndes Lachen ein, dass in einen Hustenanfall überging. Dann war es wieder still. Krott musste sich erholen.

Er würde eben improvisieren müssen, dachte Lucas. Es hatte ja genug Zeug dabei, mit denen man jemanden umbringen konnte, vor allem genug Insulin. Krott würde zwar nicht direkt einschlafen, aber zumindest nach recht kurzer Zeit ins Koma fallen. Sein Gehirn würde in kürzester Zeit den Hungertod sterben. Er steckte also das Infusionsbesteck in eine kleine Plastikflasche mit Kochsalzlösung und hing die Infusion an den Infusionsständer, der neben seinem Bett stand. Mit einer Spritze zog er alles an Insulin auf, was er dabei hatte. Letztlich waren es wohl mehrere tausend Einheiten, das war nicht zu überleben.

„Sind Sie bereit?“, fragte Lucas dann.

„Sie glauben gar nicht, wie bereit!“, rief Krott und riss die Augen weit auf.

Lucas ließ einiges von der Infusionsflüssigkeit in eine Tasse auf dem Nachttisch laufen, damit in der Falsche genug Platz für das Insulin war.

„Dann schließe ich jetzt die Infusion an“, sagte er und vermied es, Krott dabei anzusehen.

„Nun machen Sie schon!“

Mit zittrigen Händen schraubte er den Verschluss des Zugangs auf und verband ihn mit dem Infusionsschlauch.

„Ich öffne jetzt die Infusion“, sagte Lucas mit klopfendem Herzen.

„Sie langweilen mich noch zu Tode!“

Lucas stellte auf maximale Geschwindigkeit, und die Tropfen rannen wie auf eine Kette gereiht aus der Flasche in die Tropfkammer. Krott hustete.

„Mein Kopf brummt“, sagte Krott nach wenigen Momenten und fasste sich mit einer Hand an die Stirn, „Ist es das schon...?“

Lucas starrte gebannt auf Krott. Immer wieder flog sein Blick zu der Tropfkammer. Die Infusion leerte sich zusehends. Nur noch eine halbe Minute, dann hatte er die gesamte Insulindosis im Körper. Krott starrte an die Decke. Mit der rechten Hand tastete er die Bettdecke ab, als suche er irgendetwas.

„Da ist, da ist...“ Er deutete in den Raum hinein. Lucas drehte sich um, aber da war nichts. „Wilma, bist du das!? Wie kommst du denn hierher?“

Krott begann zu halluzinieren. So deutlich hatte Lucas das nicht erwartet.

„Wilma, was machst du denn da!?“ Ein bizarres Grinsen huschte über Krotts Gesicht. „Wilma, nicht, wenn meine Frau kommt...... Ohhh, oh, ja... ja mach weiter....“

Lucas hielt sich eine Hand vor den Mund. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Infusion war durchgelaufen. Krott stieß seltsame Laute aus, ein wenig wie ein Schimpanse.

„Mein Junge, natürlich hat Papa dich lieb. Du glaubst gar nicht wie sehr....“, murmelte er. Seine Augen waren geschlossen. Er schien seinen Sohn zu sehen. Dann wurde sein Körper ganz steif, ein Krampf setzte ein. Die Arme begannen starr ausgestreckt an seinen Körper zu schlagen. Der Infusionsschlauch schlug wild umher. Lucas griff nach Krotts rechtem Arm, um den Zugang wieder abstöpseln zu können, als er hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde.

Das ganze Bett wackelte unter Krotts heftigen Zuckungen. Lucas wollte wegrennen, aber es war zu spät. Die alte Frau Krott stand bereits in der Schlafzimmertür und blickte auf ihren Mann, dessen Gehirn gerade auf dem Weg über einen epileptischen Anfall seinen Dienst einstellte. Dann sah sie zu Lucas. Der blieb für einen Moment wie versteinert stehen, während nur das Klappern des heftig schaukelnden Bettgestells zu hören war. Frau Krott schrie auf und ließ ihre Einkaufstasche fallen. So schnell es ihr osteoporotisches Skelett zuließ, eilte sie zum Bett.

„Es ist soweit“, sagte Lucas und versuchte, irgendwie die Situation zu retten. „Ich habe gerade noch eine Infusion angehängt, aber ich schätze, es ist zu spät.“

„Mein Gott, Paul!“, rief sie und legte beide Hände um den schmutzig-gelb gefärbten Kopf ihres Mannes. Dann streckte Paul Krott ein letztes Mal alle seine Glieder steif von sich und erschlaffte im nächsten Moment vollständig.

„Paul! Paul!!“, schrie Frau Krott und begann, bitterlich zu schluchzen. Es war geschafft. „Hättest du nicht noch eine Viertelstunde warten können!?“, rief sie und trommelte mit ihren kleinen, schwachen Fäusten auf der gelben Brust ihres Mannes herum. Lucas legte vorsichtig seine Hände auf ihre Schultern. Es fiel ihm extrem schwer, beruhigend auf sie einzuwirken. In ihm tobte es. Der Tod war wohl doch nicht so leicht zu beherrschen. Faszinierend. Als Frau Krott sich an seiner Brust ausweinen wollte, gab er vor, erst seiner ärztlichen Pflicht nachkommen zu müssen. Er wollte ihren Kopf jetzt nicht an seinem Herzen haben, das wie wild schlug. Erneut holte er sein Stethoskop hervor, beugte sich über Krott und horchte Lunge und Herz auf Lebenszeichen ab, tastete an verschiedenen Stellen nach Krotts Puls und leuchtete ihm mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen, um den Pupillenreflex zu überprüfen. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, stellte er fest, was längst feststand: „Ihr Mann ist tot. Es tut mir sehr leid.“

Die alte Frau Krott schluchzte auf, blieb aber wie verloren am Bett stehen und starrte immer noch auf den toten Körper, während sie sich in ihren Handrücken verbiss.

„Möchten Sie jemanden anrufen? Vielleicht Ihren Sohn?“

„Wie? Ja, Sie haben Recht.“

Unsicher wackelte sie aus dem Zimmer. Während Lucas den Totenschein ausfüllte, auf dem er „natürlicher Tod“ ankreuzte, hörte er Frau Krott mit ihrem Sohn sprechen, immer wieder unterbrochen von einem zunehmend verrotzten Schluchzen.

Dann kehrte sie zurück. „Er wird in einer halben Stunde hier sein“, sagte sie schwach.

„Gut, Sie sollten jetzt auch nicht alleine bleiben.“

„Wie geht es denn jetzt weiter?“

Lucas erklärte ihr den weiteren Ablauf mit Bestattungsunternehmen, Gästeliste für die Beerdigung und so weiter. Es war gut, wenn die Trauernden etwas zu tun hatten. Er versuchte, das Gespräch lange genug aufrecht zu erhalten, bis ihr Sohn da war. Aber nachdem sich sein Adrenalinspiegel wieder etwas normalisiert hatte, kehrte mit der verzweifelten, alten Frau und dem gelben Leichnam eine graue und deprimierende Stimmung ein, der Lucas gern entflohen wäre. Als endlich der Sohn eingetroffen war, packte er rasch seine Sachen, erzählte etwas von Mitgefühl und gab vor, dringend zu einem anderen Patienten zu müssen. Typisch Arzt, von einer guten Tat zur nächsten.

Doktor Robert

Подняться наверх