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Am nächsten Tag meldete Evelyn, dass Dina Merkel wieder unter den Wartenden war. Kein gutes Zeichen. Als Lucas einen anderen Patienten mit ins Sprechzimmer nahm, lächelte er sie kurz an. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend.

Als sie ihm später gegenüber saß, war es wie noch wenige Tage zuvor. Unter ihrem rechten Auge war die Wangenpartie geschwollen und die Haut darüber etwas aufgerissen – eine typische Fausthiebverletzung.

Nach wenigen Worten flossen ihre Tränen reichlich. Sie hatte es ein zweites Mal gewagt, mit Ewald über Scheidung zu sprechen. Er hatte sie geschlagen und alles seinem Vater erzählt. Der hatte getönt, er würde sie enterben und wenn sie die Jungs mitnähme, würde er sie auch enterben.

„Ich käme schon irgendwie über die Runden, aber den beiden will ich das nicht antun. Sie könnten mit dem Erbe mal ein ziemlich sorgenfreies Leben führen. Aber ich halte das einfach nicht mehr aus. Die beiden übrigens auch nicht. Die bleiben auf jeden Fall bei mir, und bald wären sie ohnehin aus dem Haus. Dabei fänd´ ich es besser, wenn sie noch ein bisschen länger bei mir blieben. Sie können beide noch ein wenig Sicherheit gebrauchen.“

„Die Jungs würden doch einen Pflichtteil bekommen.“

„Er sagte, er hätte genügend Möglichkeiten, sein Vermögen so zu verteilen, dass gerade die Parkgebühren für den Termin bei der Testamentseröffnung herausspringen würden.“

„Und was willst Du tun?“

„Ich weiß es nicht.“ Gedankenverloren wog sie einen Brieföffner in den Händen, den sie von Lucas Schreibtisch aufgelesen hatte. Lucas registrierte das aufmerksam. „Ich müsste ihn irgendwie davon abbringen, das Testament zu ändern. Wenn ich Gewissheit hätte, dass die Jungs es mal gut haben, wäre mir alles andere egal.“

„Du willst also noch mal mit ihm sprechen?“

„Ich glaube, das hat wenig Sinn. Verstockter alter Sack! Und auf seinen lieben Sohn lässt er natürlich nichts kommen. Wenn ich mich scheiden lasse, bin ich die Schlampe. Aber das bin ich ja auch jetzt schon...“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Lucas.

Er dachte einen Moment nach und seine Gedanken verselbstständigten sich. Da war es wieder, das Kribbeln, der Blutdruckanstieg, die Hitze in seinem Rücken. Vielleicht konnte er helfen.

„Gibt es denn schon einen Notartermin?“

„Nein, soweit ich weiß nicht. Aber der Alte droht nicht nur. Er wird es tun, da kannst du Gift drauf nehmen.“

Gift? Interessantes Stichwort. Lucas ging im Kopf einige Möglichkeiten durch.

„Was weißt Du eigentlich über seine Gesundheit?“

Dina blickte ihn fragend durch ihre verheulten Augen an.

„Ich meine, welche Tabletten gibst du ihm zum Beispiel?“

„Etwas fürs Herz. Er hatte doch vor ein paar Jahren einen Infarkt, aber das scheint er überstanden zu haben.“

„Und wie heißt das Medikament?“

„Hmm, Digi... Digi... Irgendwas mit „Digi“.“

„Digitalis vielleicht?“

„Nein, das ist doch Fingerhut. Aber so ähnlich. Digi...“

„Na, ist auch gleich. – Wer ist denn sein Hausarzt?“

„Doktor Bartels, aus unserem Viertel.“

Ein scharfer Hund, dachte Lucas. Er kannte ihn flüchtig von den Treffen der niedergelassenen Ärzte, wo es um die Sicherung oder auch Ausweitung der Pfründe ging.

„Ein guter Arzt. – Gibt es irgendwelche Unterlagen über seine Krankheiten?“

„Nicht das ich wüsste. Ich meine, wahrscheinlich hat er irgendwo etwas aufgehoben, aber ich weiß nicht genau, wo. – Worauf willst du hinaus?“

„Nun, ich dachte, dass eine vorübergehende Verschlechterung seines Gesundheitszustandes ihn mit großer Wahrscheinlichkeit etwas demütiger machen dürfte. Der Mann ist doch ein herzloser Despot. Wenn er einen kleinen Vorgeschmack auf das bekäme, was ihm natürlicherweise ohnehin bevorsteht, wird ihn das für eine Weile so beschäftigen, dass eine Testamentsänderung zunächst mal vom Tisch ist.“

„Meinst du? Kann ich mir kaum vorstellen. Der ist boshaft bis zum letzten Atemzug.“

„Dina, glaub´ mir. Ich hab schon ganz andere Leute im Angesicht des Todes winseln, betteln und flehen gehört. Die meisten verkaufen die eigene Mutter, wenn es um ihre kümmerliche Existenz geht. Die Helden kannst Du Dir im Kino ansehen – seltene Ausnahmen bestätigen die Regel und tauchen dann später namentlich als Kalenderblatt auf.“

Dina schwieg und schien nachzudenken. Ihre Tränen waren für den Moment versiegt.

„Was schlägst Du vor?“

„Wenn er Digitalis nimmt, wäre eine leichte Überdosierung eine gute Möglichkeit. Es wäre einfach durchzuführen, gut zu steuern, und er würde einen Schreck bekommen, der sich gewaschen hat.“

„Aber das kann ich nicht! Was, wenn etwas schief geht!? Ich bin doch keine Ärztin!“

„Du müsstest ihm nur zum richtigen Zeitpunkt, wenn Du mit ihm allein bist, die richtige falsche Dosis geben. Er würde Symptome bekommen, und Du würdest dann dafür sorgen, dass ich hinzukommen kann, um die Situation zu beherrschen. Ruf mich einfach an, wenn Du soweit bist. Mittwochs wäre gut.“

Wie leicht ihm ein solcher kleiner Plan inzwischen fiel … Aber er hatte inzwischen auch einiges an Wissen gewonnen und dazugelernt. Er traute sich die Durchführung eines solchen Plans inzwischen zu. Wenn er erst einmal das Vertrauen des Alten gewonnen hatte, dann ging ja vielleicht noch mehr – auch in Dinas Interesse. Aber das behielt er besser für sich.

„Meinst du nicht, das könnte auffallen? Er ist erst vor wenigen Wochen untersucht worden. Laborwerte, der Medikamenten-Spiegel, EKG und solche Sachen. Da war offenbar alles in Ordnung.“

„Wieso weißt Du so genau, was gemacht wurde?“

„Das steht alles auf der Rechnung. Mein Schwiegervater ist Privatpatient.“

„Das ist ja wunderbar!“, sagte Lucas, „Wenn du die Rechnung noch findest, hätte ich bestimmt genug Informationen, um einen Eindruck von seinem Zustand zu bekommen.“

Dina zögerte, aber das war keine Überraschung. Das Eis, auf dem sie sich bewegten, wurde allmählich dünner.

„Ich glaube, ich muss mir das noch überlegen.“

„Natürlich musst du das“, sagte Lucas, während er aufstand und um den Tisch herum zu Dina ging. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Aber warte nicht zu lange. Wenn Du wirklich die Trennung willst – und das solltest Du, das sage ich dir vor allem als Freund –, dann besteht die Gefahr, dass er tatsächlich zum Hörer greift und den Notar anruft. Und wenn dann plötzlich etwas passiert, machen wir uns vielleicht noch verdächtig.“

Dina schaute erschrocken zu ihm auf.

„Nein, hab´ keine Angst. Am besten ist es, wenn Du mir zunächst einmal einige Informationen zukommen lässt. Ich muss genau wissen, seit wann er welches Medikament in welcher Dosierung nimmt. Dann muss ich wissen, wie groß und wie schwer er ist. Außerdem benötige ich die Rechnung. Du kannst alles einfach in die Praxis faxen. Ich überlege mir dann genau das weitere Vorgehen. Und falls du dich dafür entscheidest, habe ich schon einen Plan in der Tasche. Falls nicht, dann ist nichts passiert. Am besten rufst du mich auf dem Handy an. Die notwendige Dosierungsänderung gebe ich dir mündlich durch. Und bitte, mach keine Notizen!“

Lucas lächelte Dina an. Der Gedanke, vielleicht doch etwas etwas gegen ihre missliche Lage unternehmen zu können, war für sie tröstlich. Sie lächelte zurück.


Am Abend lag Lucas mit einem mäßig spannenden Krimi im Bett, ohne etwas vom Inhalt mitzubekommen. Er starrte durch die Seiten und dachte darüber nach, wie das wohl laufen würde, wenn er Merkel nur einen Schreck einjagen wollte. Eigentlich war es ihm schon klar, was passieren würde. Er gab Pia einen flüchtigen Gutenachtkuss, schaltete das Licht aus und starrte in das Dunkel.

Er hatte sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Er hatte mit einem Male ein Thema, das ihn nicht in Ruhe ließ, eine Aufgabe. Es fiel ihm schwer, mal an etwas anderes zu denken. Die Beschäftigung mit dem Töten wurde ihm Antrieb, Ablenkung und Freude zugleich. Vielleicht hätte er einen Psychiater aufsuchen sollen, vielleicht hätten das ja schon seine Eltern machen sollen.

Jahrelang, ach was, jahrzehntelang hatte er sich verbogen und verleugnet. Er war immer intelligent genug gewesen, diese bizarre Lust in sich zu unterdrücken, zu leugnen und zu überspielen. Er erinnerte sich noch gut an den Vogel, der verletzt im Garten seines Elternhauses gelegen hatte. Er muss damals vielleicht acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Lucas hatte sich vorsichtig dem Vogel genähert, der reglos neben einer Hecke auf der Wiese mit ausgebreiteten Flügeln da lag. Es war eine junge Amsel. Lucas erwartete mit jedem Schritt, den er näher kam, dass der Vogel aufgeschreckt davonflattern würde. Aber nichts geschah. Lucas hockte sich vor den Vogel, der einmal kurz den Schnabel öffnete, ohne einen Laut preiszugeben. Wahrscheinlich krank, vielleicht etwas gebrochen. Mit den ausgebreiteten Flügeln fühlte sich Lucas an das allgegenwärtige Folterbild der Christenheit erinnert und ihm kam ein spannender Gedanke. Er erhob sich vorsichtig, um den Vogel nicht doch noch in letzter Sekunde zu verschrecken. Mit vorsichtigen Schritten ging er zur Gartenbude, wo neben den üblichen Werkzeugen für die Gartenarbeit und seinem Draußenspielzeug auch ein paar Heringe lagen, mit denen er sonst das Federballnetz spannte, wenn es mal windstill war, und sich die Gelegenheit für ein Spiel bot.

Dann näherte er sich wieder dem Vogel, diesmal etwas beherzter, zumal dieser keinerlei Anstalten machte, sich in Sicherheit zu bringen. Lucas hatte bisher her schon mal Insekten und Würmer aufgespießt. Faszinierend, wie sich vor allem die Würmer wanden. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass zwei geteilte Würmer für sich weiterleben würden. Was Kinder so alles glauben… Heute wusste er natürlich, dass nur der Kopfteil weiterlebte, und auch nur, wenn der Rest nicht zu kurz abgetrennt wurde. Lucas war gespannt, was der Vogel machen würde. Ein bisschen aufgeregt war er schon, als er den Leib des Vogel packte, ihn kurzerhand auf den Rücken warf und in einer sehr schnellen Bewegung einen Flügel mit einem Hering in der Wiese feststeckte. Lucas schrie kurz auf, als der jetzt aus seiner Starre erwachte Vogel nach ihm pickte und seine Hand traf, doch schon im nächsten Moment hatte Lucas auch den zweiten Flügel im Boden fixiert. Die Amsel zirpte jetzt etwas, riss den Schnabel auf, wirkte aber insgesamt doch recht schwach. Lucas konnte sich an das Bild noch gut erinnern, und noch heute gruselte es ihn bei dem Gedanken daran, aber da war auch diese Faszination.

Er muss damals mehrere Minuten so da gestanden haben. Er erinnerte sich noch, wie plötzlich, wie aus dem Nichts, seine Mutter neben ihm gestanden hatte und irgendetwas zu ihm sagte. Dann war sie wieder gegangen und kehrte mit einer großen Schaufel zurück, mit der sie einmal kurz und sehr kräftig auf den gekreuzigten Vogel geschlagen hatte. Dann hatte sie ihm eine Ohrfeige verpasst und war wortlos wieder gegangen und hatte nie mit ihm darüber gesprochen.

Er wusste schon damals, dass es schräg war, aber das sich windende Tier hatte ihn nicht mehr losgelassen. Fortan hatte er solche Gedanken und Fantasien mit großer Kraft weggedrängt. Dann hatte er sich bei anderen abgeschaut, wie man Begeisterung und Leidenschaft für andere Dinge zeigte, damit niemand dachte, er hätte keine. Manchmal dachte er, dass andere solche Emotionen bei Konzerten, in den Fußballstadien oder bei Abenteuern einfach nur spielen würden. Und so hatte er begonnen, es ihnen gleich zu tun und es darin zu einer kleinen Meisterschaft gebracht. Allenfalls der Sex riss ihn manchmal wirklich etwas mit. Aber das hier war echte Leidenschaft.

Doktor Robert

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