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Jetzt war die alte Rahn also unter der Erde und er musste nicht mehr tun, als niemals jemandem davon zu erzählen. Es gab keinen Menschen, der auch nur im Entferntesten daran gedacht hätte, von einer Tötung auszugehen. Warum auch? Alle, einschließlich ihrer selbst, hatten sich den Tod für sie als Befreiung von ihren Leiden gewünscht.

Abgesehen von der Beerdigung war es ihm ganz gut gelungen, nicht ständig darüber nachzudenken, was er getan hatte. Er hatte einfach weiter gemacht, als sei nicht mehr und nicht weniger als der erwartete Tod eines Patienten eingetreten.

An diesem Nachmittag standen wieder verschiedene Hausbesuche auf dem Programm, die er routiniert erledigte. Einer davon führte ihn zu Paul Krott. Die Wohnung lag in der Mitte eines Laubengangs.

Lucas klingelte kurz. Eine kleine, runzelige Frau mit gescheitelten, strähnig grauen Haaren öffnete prompt und schaute Lucas misstrauisch an. Sie trug eine Wolljacke, deren Knöpfe schon mehrfach ausgetauscht worden waren. Etwas ungeschickt hatte sie Make-up auf ihre Wangen gelegt. Lucas war kurz versucht, den Finger auszustrecken, um die Tünche besser zu verteilen.

Statt dessen stellte er sich vor. „Ich bin Doktor Robert und möchte gerne zu Ihrem Mann.“

„Ach, Sie sind das. Wie nett, dass Sie Zeit gefunden haben. Bitte kommen Sie doch herein.“ Ihre Züge hellten sich auf, und mit kleinen Trippelschritten rückwärts machte sie Platz, um Lucas einzulassen.

Es hing noch der Geruch nach Braten und irgendeinem Gemüse in der Luft, das Lucas gerade nicht zuordnen konnte.

Sie führte ihn durch den Flur in ein kleines Wohnzimmer mit zwei großen Fernsehsesseln vor einer Regalwand aus Eiche. Über einen verblichenen Perserteppich gelangten sie in das Schlafzimmer, wo Herr Krott das große Ehebett ganz für sich alleine hatte. Es roch etwas muffig. Offenbar war den ganzen Tag über noch nicht gelüftet worden. Neben dem Bett stand ein Infusionsständer, da Krott viele Medikamente über einen Zugang bekam. Gelegentlich lief darüber auch eine Nährlösung.

„Herr Doktor. Gut, dass Sie da sind.“ Krott war ein kleiner, hagerer Mann mit wenigen dünnen und grauen Haaren, der übel gelaunt aussah. Lebermetastasen störten seinen Galleabfluss, die Galle trat ins Blut über und seine Augen und seine Haut waren ganz gelb. Ein Versuch, sich aufzurichten, blieb im Ansatz stecken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiel er wieder zurück. Lucas nahm seine Hand und drückte sie mit beiden Händen. Sie waren gleichmäßig warm, die Kraft normal.

„Hol dem Doktor mal ’nen Stuhl“ knurrte Krott seine Frau an. Frau Krott holte einen Stuhl herbei, und Lucas setzte sich an die Seite des Bettes.

„Ach, würden Sie vielleicht einen Moment das Fenster öffnen“, bat Lucas die alte Frau so normal wie möglich.

„Selbstverständlich“, murmelte sie. Sie schritt rasch zum Fenster, riss die Vorhänge auf und öffnete dann beide Flügel. Ein kühler Wind ließ die Vorhänge weit in den Raum hineinwehen.

„Das zieht!“, rief Krott seiner Frau vorwurfsvoll entgegen.

Rasch drückte Sie beide Fensterseiten wieder zu und kippte sie statt dessen.

„Drehen Sie sich bitte mal zur Seite“, sagte Lucas, zog Krotts Nachthemd bis zur Schulter hinauf und begann, mit dem Stethoskop Herz und Lunge abzuhören.

„Wie fühlen Sie sich denn heute“, fragte Lucas, als er fertig war.

„Die Schmerzen sind auszuhalten, aber mit der Verdauung klappt es gar nicht mehr“, sagte Krott mit verkniffenem Gesicht, während er sich wieder zurückrollte.

Lucas war zum ersten Mal bei Krott zu Hause. Er hatte ihn erst vor wenigen Monaten von einem Kollegen übernommen, weil Krott der Weg zu seinem bisherigen Hausarzt zu weit geworden war. In der Praxis hatte er ihn ein paar Mal gesehen, aber jetzt benötigte er Hausbesuche. Er hatte höchstens noch wenige Wochen, aber ins Krankenhaus wollte er nicht. Da hätte man ohnehin nichts mehr für ihn tun können. Die Suche nach dem Primärtumor war schon frühzeitig aufgegeben worden. Die Verdauungsprobleme waren - wenig überraschend - den Morphinen geschuldet, die Krott gegen die Schmerzen erhielt. Das kannte jeder Junkie von der Straße.

„Ich werde Ihnen ein Abführmittel hier lassen. Sie sollten aber unbedingt versuchen, sich zu bewegen, auch im Bett. Damit beugen Sie der Verstopfung am besten vor. Vielleicht sollten wir aber trotzdem die Morphin-Dosis erhöhen.“

Die alte Krott stand am Fußende des Bettes und verfolgte das Gespräch.

Krott selbst blickte Lucas stumm an und schaute dann zu seiner Frau rüber, die nervös ihre Hände knetete.

„Martha, mach mir `nen Tee. Aber nicht so heiß!“, forderte Krott.

Wortlos verließ sie den Raum. „Und mach die Tür zu! Von außen!“

Lucas schaute ihr nach, wie sie wie ein Kind gehorchend den Raum verließ und die beiden alleine ließ.

Krott wandte sich wieder Lucas zu.

„Ich muss mal mit Ihnen alleine sprechen.“

Er winkte Lucas näher zu sich heran. Lucas beugte sich etwas vor.

„Ich mach´ mir keine Illusionen über meinen Zustand. Ich bin jetzt 84, und wenn ich nicht todkrank wäre, würde ich wohl gar nicht mehr leben. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange habe, und, um ehrlich zu sein, auf den Rest bin ich nicht mehr scharf, wenn Sie wissen, was ich meine. Mit Doktor Siem konnte ich darüber nicht sprechen. Er hat immer abgewunken. Aber Sie scheinen irgendwie aus einem anderen Holz zu sein. Helfen Sie mir!“

Lucas zuckte zusammen. Ein Kribbeln durchströmte ihn von oben bis unten. Er hatte das Gefühl, rot zu werden. „Tut mir leid“, sagte er, „Ich kann Ihnen da nicht helfen. Ich darf das nicht. Außerdem haben wir die Möglichkeiten Ihrer Schmerzbehandlung noch nicht ausgeschöpft.“

„Ihre Schmerzbehandlung ist mir scheißegal!“, rief Krott mit nur mühsam unterdrückter Stimme und schmiss die Tageszeitung im hohen Bogen durch die Luft. „Ich krepiere! Ich verlasse dieses Zimmer nur noch im Leichenwagen, das wissen Sie so gut wie ich. Als Arzt haben Sie die verdammte Pflicht zu helfen. Also helfen Sie jetzt gefälligst mir!“

Lucas schluckte. Mit der professionellen Distanz war es vorbei. Wut stieg in ihm hoch. Er atmete kurz durch und hoffte, dass Krott seine Gefühlswallung nicht mitbekommen hatte.

„Aber Herr Krott“, sagte er und legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm, „mit einer Dosiserhöhung können Sie noch ein paar schöne Wochen erleben.“

Lucas hatte „Monate“ sagen wollen, ganz sicher, aber es waren „Wochen“ daraus geworden. Es klang für ich selbst schon wie bitterer Hohn. Eigentlich wunderte sich Lucas, dass Krott überhaupt noch lebte, in diesem Alter mit dieser Krankheit, aber der Mann war ein zäher Hund.

Krott hielt sich einen Moment lang mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch, aber er hätte Lucas auch einfach ins Gesicht spucken können, das hätte keinen Unterschied gemacht.

Der kleine, quittengelbe Greis starrte ihn drohend an und ballte beide Fäuste in der Bettdecke.

„Ich verlange, dass Sie beim nächsten Mal etwas mitbringen! Ich zahle auch dafür“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Ein volles Tablett mit den Händen balancierend kehrte seine Frau wieder in das Schlafzimmer zurück. Lucas sprang auf, um ihr zu helfen.

„Trinken Sie eine Tasse mit uns?“, fragte sie mit ausgesuchter Freundlichkeit.

„Der Doktor muss schon wieder los“, bellte Krott, bevor Lucas auf andere Gedanken kommen konnte.

„Tja, leider“, bestätigte Lucas, „ich muss schon wieder.“ Er notierte rasch die Erhöhung der Morphindosis auf einem Zettel, „Aber ich komme übermorgen wieder. In der Zwischenzeit passen Sie die Dosis so an, wie ich es hier aufgeschrieben habe.“ Er kramte ein stärkeres Abführmittel aus der Tasche und reichte es Frau Krott zusammen mit dem Zettel. Dann räumte er seine Sachen wieder in die Tasche und war bereit zu gehen.

„Ich bringe Sie noch zur Tür.“

„Und denken Sie daran, mir etwas von diesem neuen Medikament mitzubringen“, rief Krott ihm hinterher.

Als Frau Krott die Tür geöffnet hatte, trafen sich ihre Blicke für einen Moment. Lucas hatte den Eindruck, dass sie noch etwas sagen wollte, doch sie blieb stumm.

„Also, wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich einfach an. Sonst sehen wir uns übermorgen. Auf Wiedersehen.“

Jahrelang war er darum herumgekommen, sich mit dem Thema Sterbehilfe auseinandersetzen. Unter seinen Kollegen wurde es gerne gemieden. Jeder kochte da sein eigenes Süppchen. Doch jetzt, wo er es einmal getan hatte, war es, als stünde es mit Großbuchstaben auf seiner Stirn.

Krott hatte es einfach gefordert, als hätte er ein Recht darauf. Lucas war stinksauer. Er knallte die Tür seines Wagens zu und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Er hasste es, herumkommandiert zu werden. Er war der Arzt. Der Patient hatte sich nach ihm zu richten und nicht umgekehrt. Außerdem hatte er keinen Bock, sich strafbar zu machen. Mit der Rahn war das etwas Anderes gewesen. Das war spontan, von einem Moment auf den anderen. Aber das hier wäre eine geplante Geschichte mit richtiger Vorbereitung. Vorsatz, kein Affekt, wenn es so etwas bei Sterbehilfe überhaupt gab.

Sein Vorgänger hatte es schließlich auch nicht gemacht. Ihm gegenüber war Krott sicher nicht so frech geworden. Wahrscheinlich hielt er ihn für einen Grünschnabel, der vor ihm kuschen würde. Aus Krotts greiser Perspektive mochte das ja so sein, aber so ließ Lucas nicht mit sich umspringen. Er lamentierte eine Weile gegen das Autoradio an. Dann beruhigte er sich etwas. Was sollte er tun?

Am ersten Stopplicht überlegte er, dass sich die Frage in ein paar Wochen sowieso erledigt hatte. Man konnte Geld darauf setzen, dass Krott den nächsten Jahreswechsel nicht mehr erleben würde, aber keiner der bei Verstand war, würde dagegen halten.

Doch bereits an der zweiten roten Ampel zog der Hai wieder durch seinen Verstand. Daa-damm, daa-damm, da-damm, da-damm, dadamm-dadamm…! Doch Lucas wollte mehr. Er gab dem Hai,der sein Maul weit aufgerissen hatte, um ihn zu verschlingen einen Hieb auf die Nase (das hatte er mal in einem Survival-Buch gelesen), und er drehte ab. Lucas wollte der Herr über seine Gedanken und Fantasien sein, nicht ihr Spielball. Und der Gedanke, den autoritären Greis mit Gewalt ins Jenseits zu befördern, war keine üble Fantasie. Ein wenig Demut stünde ihm sicher ganz gut zu Gesicht, bevor er seinem Schöpfer gegenübertrat. Allerdings eignete sich ein erfüllter Wunsch nur schlecht als Denkzettel, so bizarr er auch war.

Als Lucas schließlich endgültig im Feierabendstau feststeckte und es weder vor- noch zurückging, gab er sich den Gedankenspielen hin. So etwas wie bei der alten Rahn ginge nicht. Sie war allein und schwach gewesen. Krott hingegen war zwar todkrank, aber im Vergleich viel stärker. Er würde in der Agonie reflexartig um sich schlagen, wenn man ihm ein Kissen aufs Gesicht drückte. Außerdem wäre seine Frau zumindest in der Nähe, was diesen Plan undurchführbar machte. Man würde also auf einen tödlichen Medikamentencocktail zurückgreifen, wie es bei der Sterbehilfe in anderen Ländern gemacht wird. Ein Barbiturat oder Insulin in entsprechender Dosierung wäre wohl geeignet.

Doktor Robert

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