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Er schloss gerade seine Praxis ab, als das Telefon klingelte. Bereits als er die Tür wieder öffnete, verfluchte er sich genau dafür. Warum tat er das? Eigentlich war er nicht mehr da. Nur einen Moment später hätte er das Telefon nicht mehr gehört.

Er griff über den Anmeldetresen und schnappte sich den Hörer.

„Gut, dass ich Sie noch erwische, Doktor, Luci Bauer, bin die Pflegerin von Frau Rahn. Es geht ihr nicht gut. Ich krieg sie nicht richtig abgesaugt. Können Sie kommen oder soll ich den RTW rufen?“

Warum konnte er nicht einfach die Finger vom Hörer lassen!?

„N´ Abend, Frau Bauer. Das war zu erwarten. Ist es akut? Ich bin gerade…“

„Sie muss unbedingt besser abgesaugt werden. Ich weiß, Sie haben ein Händchen dafür, Doktor. Wenn ich den Notarzt rufe, steckt er sie ins Krankenhaus...“

„Und Sie wissen, dass das ihr Ende wäre“, schwang in den drei unausgesprochenen Punkten mit. Leider gab es immer noch keine Patientenverfügung, mit der die Klinikeinweisung hätte verhindert werden können. Aber ohne das hatte er schlicht keine Wahl.

„Ich weiß was Sie meinen. Haben Sie vielen Dank für die Infos. Ich mach´ mich auf den Weg. Wollte sowieso gerade Schluss machen.“

„Ist gut, ich warte so lange, damit ich Sie hereinlassen kann.“

Er hatte den Schwarzen Peter. Es würde also wieder spät werden. Aus dem Auto rief er kurz Pia an, um Bescheid zu geben, die ihn bat, noch Bio-Eier zu besorgen. Das Essen würde also noch länger auf sich warten lassen und ihm knurrte schon jetzt der Magen. Konnte Pia nicht einmal auf normale Eier zurückgreifen oder einfach improvisieren!?

Als er bald darauf mit dem Arztkoffer in der Hand auf das Mietshaus zuging, in dem Frau Rahn wohnte, winkte ihm die Pflegerin vom offenen Fenster zu und ließ den Türöffner surren, noch bevor Lucas auf die Klingel drücken konnte.

„Gut, dass Sie da sind, Doktor, ich bekomme ihre Atemwege einfach nicht frei. Es geht ihr jetzt doch viel schlechter.“

Die alte Frau war oft für Stunden allein, denn die Tochter nebenan arbeitete und die Enkelin ging zur Schule. Im Grunde war die Situation unhaltbar. Aber keiner in der Familie war bereit, über einen Heimplatz auch nur nachzudenken.

„Ich werd´ sie mir mal ansehen“, sagte Lucas, während er an Luci vorbei die Wohnung betrat.

Er war zwei Wochen nicht mehr hier gewesen. Es roch penetrant nach Eukalyptus und Waschlotionen, die den Geruch von Sputum, Inkontinenz und alten Polstermöbeln nur unzureichend überdeckten. Lucas war diese Kombination an Gerüchen bereits so vertraut, dass selbst der frische Eukalyptus für ihn nach Verfall und Tod roch.

Im Flur war es eng und stockfinster. Am seinem Ende zweigte das Wohnzimmer ab, in dem Isabella Rahn in ihrem Pflegebett lag. Er hörte ihr hilfloses Röcheln.

Sie hatte schwer nachgelassen seit seinem letzten Besuch. Zwischen Kissen, Beatmungsgerät und Schläuchen war sie kaum zu erkennen. Er stellte seine Tasche ab und nahm einen frischen, steril verpackten Absaugkatheter heraus.

„Ähm, Herr Doktor“, sprach ihn Luci Bauer von hinten an, „ich bin schon sehr spät dran und habe noch vier Patienten vor mir. Kommen Sie alleine zurecht?“

„Wie? Ja, ja... Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte Lucas, „Ich komme schon klar, vielen Dank. Wiedersehen.“

Sie konnte hier nichts mehr tun. Er hatte in seiner Klinikzeit so viele Atemwege abgesaugt, dass es ihm keine große Mühe bereitete. Für die meisten Pflegenden war es hingegen der reinste Horror. Denn die Erstickungsängste während der Prozedur konnte auch eine leidgeprüfte Patientin wie Isabella Rahn nicht unterdrücken.

„Hallo, Frau Rahn“, sagte er sanft und legte eine Hand auf ihren mageren Unterarm, „Ich bin es, Doktor Robert.“

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und schloss für einen Moment die Augen. Ihr Mund formte ein paar stumme Worte. Er beugte sich ein wenig zu ihr herab und nahm den süßlichen Geruch der kranken Lunge wahr. Aber außer den rasselnden Sekreten in ihren Lungen konnte er nichts hören. Sie würde es nicht schaffen. Ein paar Tage noch, vielleicht zwei oder drei Wochen, höchstens, dann hatte sie endlich Frieden.

„Ich muss Sie noch mal absaugen“, sagte er.

Frau Rahns Augen sahen ihn flehend an. Sicher hatte die Pflegerin es auch schon einige Male versucht. Er musste es jetzt richtig machen.

„Sie wissen, es führt kein Weg daran vorbei. Mir ist klar, dass Sie das sehr mitnimmt, Frau Rahn. Ich werde es so kurz wie möglich machen.“ Ihr Blick war so traurig.

Es war grausam. Er wusste, was er tun würde, wenn es mit ihm jemals so weit käme – sofern er es dann noch selbst in der Hand hätte. Frau Rahn hatte diese Gelegenheit jedenfalls schon verpasst.

Er verband den Katheter mit dem Absauggerät und schaltete es ein. Ein zischendes Geräusch zeigte den Sog auf dem dünnen Schlauch an. Lucas nahm die Sauerstoffsonde von ihrer Nase und bat sie, den Mund zu öffnen. Als sie nicht gleich reagierte, übernahm er es mit routinierten Handgriffen selbst. Die alte Frau war nur noch ein armseliges, wehrloses Geschöpf. Er schob den Schlauch in ihren Mund und gleich zügig weiter vor, um in die Luftröhre zu gelangen. Frau Hahn würgte kurz und wurde dann sehr unruhig, während der Schlauch bereits zähen, gelben Schleim förderte, den die Patientin aus eigener Kraft nicht mehr abhusten konnte. Danach würde sie wieder für einen Tag etwas Ruhe haben, dachte Lucas, und schob den Schlauch noch weiter vor. Sie versuchte zu husten, Tränen traten ihr in die Augen, wegen der Reizung, wegen des Leids oder wegen beidem. Mehrfach bäumte ihr Körper sich auf. Die ganze Prozedur dauerte keine Minute, für Isabella Rahn eine halbe Ewigkeit. Dann zog Lucas den dünnen Schlauch wieder heraus.

„So, Sie haben es überstanden. Jetzt ist es wieder besser, oder?“

Das Rasselgeräusch aus ihrer Lunge war deutlich schwächer. Frau Rahn sah wieder etwas wacher aus, aber das war eher ihrer Anstrengung und der Angst zuzuschreiben als der verbesserten Atmung.

Professionell lächelte Lucas sie an, während er das Absauggerät ausschaltete und den Katheter entsorgte. Isabella Rahn versuchte erneut, etwas zu sagen. Lucas beugte sich abermals zu ihr hinunter.

„Ich kann das nicht mehr“, hörte er sie schwach sagen, „Helfen Sie mir!“

Er wollte etwas Aufmunterndes erwidern, wie er es immer tat, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Er schaute in ihre Augen. Da war dieses Flehen, das ihm schon vor dem Absaugen aufgefallen war.

„Bitte!“, sagte sie laut und deutlich und ihm war mit einem Mal klar, was sie wollte und dass es ihr ernst war. Nicht dass es ihn gewundert hätte… Jeder konnte es sehen und jeder dachte, der Tod ist eine Erlösung für sie. Aber zum ersten Mal spürte er, dass er es auch tun wollte, er sah es deutlich vor sich.

Sie waren allein. Niemand konnte etwas sehen. Und ob Sie heute oder zwei Tage später sterben würde, machte nur für sie selbst einen Unterschied. Sie hatte ihre Wahl getroffen.

Ohne ein weiteres Wort, ohne noch einmal nachzudenken, hob er vorsichtig ihren Kopf an und zog das große Kissen hervor. Er nahm es fest in beide Hände und drückte es auf ihr Gesicht. Er hörte ein kurzes, schwaches Stöhnen, dann war es still. Die ersten Sekunden waren ganz leicht. Als ihm bewusst wurde, was er tat, kroch ein Glühen langsam seinen Rücken hinauf. Sein Atem ging immer schneller, der Druck auf das Kissen erhöhte sich. Er war kurz davor aufzuhören, als die alte Frau plötzlich begann, um sich zu schlagen und mit den Beinen zu strampeln. Ihr Infusionsschlauch trommelte in einem bizarren Rhythmus gegen den Nachtschrank. Verschiedene Pflegeutensilien und das Notrufgerät auf dem Tisch setzten sich in Bewegung und drohten, vom Tisch zu fallen. Einmal traf ihn ihre Hand, und er glaubte einen Moment lang, dass ihn die Infusionskanüle auf ihrem Handrücken am Auge verletzt habe. Lucas erhöhte abermals den Druck und stützte sich jetzt mit seinem ganzen Gewicht auf das Kissen, das ihr Gesicht vollständig unter sich begrub. Sein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung, er atmete schwer. Das Glühen hatte zu einem Brennen unter seiner Schädeldecke geführt. Endlich ließ das Schlagen und Strampeln nach, um dann abrupt zu enden.

Er hätte unmöglich sagen können, wie lange es gedauert hatte. Es konnte kaum mehr als eine Minute gewesen sein, vielleicht weniger, aber er fühlte sich wie nach einem Tausendmetersprint. Langsam nahm er den Druck vom Kissen und hob es von ihrem Gesicht ab.

Ihre Augen waren weit aufgerissen und starr, der Mund stand weit offen. Ein Büschel grauer, dünner Haare klebte auf ihrer Stirn fest. Lucas wich ein Stück zurück. Den Anblick hatte er erwartet – und erhofft. Er hielt immer noch das Kissen in beiden Händen, und noch während er sie ansah, dachte er daran, ihren Tod noch medizinisch korrekt überprüfen und dokumentieren zu müssen.

Er hatte gerade das Kissen auf das Bett gelegt, als Frau Rahn sich leicht aufrichtete und einen lauten und tiefen Seufzer tat.

Lucas schrie auf, Adrenalin jagte durch seinen Körper. Er griff sofort nach dem Kissen und drückte es wieder auf ihr Gesicht, jetzt mit aller Kraft, die er hatte. Er drückte und presste, fluchte und schimpfte, als ginge es um sein eigenes Leben. Sein Herz schlug und hämmerte wie wild, er schwitzte und fror zugleich. Seine Körpertemperatur musste deutlich gestiegen sein. Nach weiteren endlosen zwei Minuten ließ er von ihr ab. Er war vollkommen außer Atem. Als er das Kissen wieder fortnahm, hatte sich ihr Gesicht abermals verändert. Augen und Mund waren geschlossen, so als schliefe sie tief – und friedlich.

Lucas ließ sich auf einen Stuhl fallen und begrub sein Gesicht in den Händen. Er roch seinen eigenen Stressschweiß.

Er war völlig durcheinander. Was hatte er nur getan!? Hatte sie es wirklich gewollt? Aber natürlich. Sie konnte nichts anderes gemeint haben, und dass sie sich wehrte, war eine Reaktion ihres Stammhirns, ihres ganzen Körpers, für den der Tod keine Option war. Während er sich allmählich wieder beruhigte, dachte er nach, versuchte sich darauf zu konzentrieren, was jetzt zu tun war, keine Fehler zu machen. Aber wer sollte auch schon vermuten, dass hier etwas anders als erwartet verlaufen war?

Lucas fühlte sich, als habe jemand an beiden Ohren eine Tür geöffnet, wodurch sein Gehirn in einem regelrechten Durchzug stand. Seine Gedanken waren mit einem Male so klar, so scharf und hell. Er war absolut beschwingt, er hätte Bäume ausreißen können! So musste es auch nach nach einer Achterbahnfahrt oder nach einem Bungee-Sprung sein. Ein irres Gefühl, ein wahrer Rausch, und Lucas hatte Mühe, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Er erschrak über sich selbst und versuchte, ein bedrücktes Gesicht zu machen, so als wäre jemand im Raum, den es von seiner Unschuld zu überzeugen gelte.

Als er sich wieder beruhigt hatte, untersuchte er das Kopfkissen von allen Seiten, ob sich vielleicht irgendwelche Blutspuren darauf fanden. Aber da war nichts. Er legte das Kissen wieder zurück unter ihren Kopf und tat das so vorsichtig, als könnte Frau Rahn noch etwas spüren. Dann schloss er ihre Lider und zog die Decke über ihr Gesicht.

Er nahm an dem Tisch mit der Brokatdecke in der Zimmermitte Platz. Um den Totenschein ausfüllen zu können, musste er zunächst Absaugkatheter, ungeöffnete Post und ungelesene Zeitungen zur Seite räumen.

Lucas trug Frau Rahns Personalien ein, schrieb die wichtigsten Diagnosen auf und kreuzte „natürliche Todesursache“ an. Damit war die Sache mit Sicherheit erledigt. Eine Obduktion gab es nur, wenn er „nichtnatürliche Todesursache“ angekreuzt hätte. Dann wäre die Polizei gekommen, um Ermittlungen anzustellen, und man hätte den Leichnam der Länge nach aufgeschlitzt. Der Erstickungstod hinterließ keine allzu offensichtlichen Spuren. Manchmal konnte man an der Bindehaut der Augen oder an den Schleimhäuten von Mund und Rachen kleine punktförmige Blutungen entdecken. Doch dafür musste man speziell nach ihnen suchen, wenn sie in diesem Fall überhaupt vorhanden waren. Genau das wäre auch sonst Lucas Aufgabe als Arzt gewesen, der einen Todesfall dokumentiert. Er drückte noch einmal die Lider der toten Augen auf. In der Tasche des rechten Unterlides fand sich eine kleine Blutung, aber das bewies gar nichts, selbst wenn sie jemand entdecken sollte.

Er drückte alle weiteren Gedanken beiseite und gab sich den Routineaufgaben hin. So benachrichtigte er zunächst Frau Rahns Tochter über Handy. Dabei gab er vor, ihre Mutter läge noch im Sterben. Als die Tochter eine Viertelstunde später eintraf, war es dann leider bereits zu spät. Er versicherte ihr, dass die Mutter ganz friedlich eingeschlafen sei. Er berichtete, dass der Pflegedienst sich Sorgen gemacht hatte und seine Ankunft noch abgewartet habe. Er selbst habe gleich gesehen, dass es zu Ende ging.

„Sie konnte nichts mehr sagen. Aber ich weiß, wie sehr sie Sie und auch ihre Enkelin geliebt hat und wie dankbar sie dafür war, dass Sie sie weiter zu Hause pflegten. Ich glaube, dass sie es trotz ihrer schweren Krankheit hier bei Ihnen sehr gut gehabt hat.“ Lucas nahm die Frau in den Arm und tröstete sie etwas. Bald schon würde die Erleichterung die Oberhand gewinnen.

Doktor Robert

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