Читать книгу Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit - Marta Fata - Страница 11
1. Begriffe, Theorien und Typologien 1.1 Der Migrationsbegriff im Wandel der Zeit
ОглавлениеSucht man nach dem heute allgemein verbreiteten Wort und Begriff „Migration“ in der Vormoderne, so entpuppt sich dieses Vorhaben als keineswegs einfach. Einer der Gründe dafür ist im historischen Wandel des Begriffs selbst zu suchen.
In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen lateinischen Schriften fehlte das Wort migratioim Sinne einer räumlichen Bewegung. Dagegen stand vagatio in der Bedeutung von Herumschweifen, womit das „fahrende Volk“ und Bettler am Rande der Gesellschaft gemeint waren. Das Wort peregrinatio wiederum bezeichnete sowohl den inneren Lebensweg des Menschen als auch die konkrete Pilgerschaft zu heiligen Orten und zu Orten der Wissenschaft mit dem Ziel des Studiums in der Fremde. Wie das von Johann Heinrich Zedler redigierte und zwischen 1732 und 1754 herausgegebene Universallexikon, das wichtigste Nachschlagewerk des deutschen Sprachraums während der Aufklärungszeit, belegt, wurde migratiosehr lange in der aus dem römischen Recht übernommenen Bedeutung des Auszugs aus einem Pacht- und Mietverhältnis verwendet.[6] Das Wort „Wanderung“ wurde im Lexikon unter dem Lemma „Reisen“ als Synonym aufgeführt, das das Bereisen fremder Orte aus unterschiedlichen Gründen – von Neugier bis zum Erwerb neuer Kenntnisse – bezeichnete. Lediglich im Zusammenhang mit dem Eintrag „Zug“ tauchte die spätantike Völkerwanderung auf. Auch im „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart“ von Ernst Johann Christoph Adelung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war „Wanderung“ in der Bedeutung der Völkerwanderung aufgeführt.[7] Die im Wörterbuch erfassten Verben „auswandern“, „einwandern“ und „fortwandern“ stellten wiederum zwei für die Zeit typische Formen der Migration in den Vordergrund: die Walz der Gesellen und die grenzüberschreitende Wanderung der Untertanen.
Bis heute gibt es keine kohärente Definition von Migration. Zwar wurde der Begriff als Entlehnung der angelsächsischen Forschung im Zuge der Etablierung einer modernen Migrationsforschung gebräuchlich, doch wird unter Migration im engeren Sinne häufig nur der dauerhafte Wohnortwechsel, also die grenzüberschreitende Aus- und Einwanderung verstanden. Im weitesten Sinne subsumiert man dagegen unter Migration jeden ständigen und vorübergehenden Wechsel des Wohnsitzes wie etwa das Pendeln zur Arbeit und Ausbildung oder die saisonale Arbeitswanderung.
In Anbetracht der Vielschichtigkeit der Bedeutung und der Vielfalt der Formen erscheint der von der Soziologie angewandte Doppelbegriff „Mobilität und Migration“ als eine sinnvolle Überbrückung der Definitionsdefizite. In der Soziologie wird zwischen horizontaler, d. h. räumlicher, und vertikaler, also sozialer Mobilität unterschieden. Unter räumlicher Mobilität versteht man jede Bewegung im Raum, während Migration im Sinne der dauerhaften Verlegung des Lebensmittelpunktes als ein Sonderfall der Mobilität gilt. Jochen Oltmer hat, diese soziologische Definition aufgreifend, Migration für die historische Forschung konkretisiert und wie folgt beschrieben:
Migrationen sind Formen der Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert. Migration kann das Überschreiten politisch-territorialer Grenzen bedeuten. Aber auch räumliche Bewegungen innerhalb eines staatlichen Gebildes lassen sich als Migration fassen; denn auch sie können es erfordern, dass Migrantinnen und Migranten sich mit wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinandersetzen, die sich zum Teil erheblich von denen des Herkunftsortes unterscheiden.[8]