Читать книгу Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit - Marta Fata - Страница 12
1.2 Erklärungsmodelle, Forschungsansätze und Theorien
ОглавлениеDie Zeiten des obrigkeitlichen Beobachtens und Beschreibens von Wanderungsbewegungen wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr durch das wissenschaftliche Interesse an Ursachen und Formen der Migration abgelöst. Ein Anstoß hierzu ging von den staatlichen Bestrebungen aus, zunehmende Wanderungsbewegungen besser zu verstehen, um diese zugleich im Dienst der eigenen ökonomischen und nationalen Ziele lenken zu können. Der deutsche Kartograf und Demograf Ernst Georg Ravenstein, zwischen 1855 und 1875 im topografisch-statistischen Amt des britischen Kriegsministeriums in London tätig, formulierte 1885 die These, dass sich Wanderungen zwischen Migranten abgebenden und Migranten aufnehmenden Regionen abspielen und bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen.[9] Diese fasste er in sieben Beobachtungen zusammen:
1.
Die Mehrheit der Wanderer legt nur eine kurze Entfernung zurück.
2.
Migration erfolgt in Etappen, und jede Etappe führt den Wanderer in Richtung eines Gravitationszentrums. Landbewohner ziehen demzufolge in die nächstgelegene Stadt mit einem schnellen ökonomischen Wachstum. An die Stelle jedes Abwanderers rückt zugleich ein Zuwanderer, wobei Migration – analog zu den Gravitationsgesetzen – mit zunehmender Distanz vom Herkunftsort abnimmt.
3.
Ab- und Zuwanderungen weisen ähnliche Charakteristika auf.
4.
Jeder Migrationsstrom wird durch eine Gegenströmung kompensiert.
5.
Wanderer, die weite Entfernungen zurücklegen, wenden sich in der Regel den sich dynamisch entwickelnden Industriezentren zu.
6.
Bewohner der Städte wandern weniger als die Landbevölkerung.
7.
Frauen sind unter den Kurzstreckenmigranten häufiger zu finden als Männer.
Aufgrund dieser Gesetzmäßigkeiten machte Ravenstein fünf Migrantengruppen aus, die von ihm als regionale Migranten, Kurz- und Langstreckenmigranten, Etappenmigranten und temporäre bzw. saisonale Migranten typologisiert wurden. Die Frage, warum Menschen von ihrem Herkunftsort an einen anderen Ort wandern, beantwortete er im Fall der Binnenmigration mit der Hoffnung der Menschen auf einträgliche Arbeit in Gebieten mit besser entwickelten Ressourcen. Im Fall der grenzüberschreitenden Abwanderung beantwortete er dies dagegen mit der Überbevölkerung, welche die Wanderer in der Hoffnung auf eine einträgliche Arbeit in Gebiete mit unterentwickelten Ressourcen führt.
Ravenstein gab mit seinem zweipoligen Gravitationsmodell zwischen Ab- und Zuwanderung grundlegende Impulse für die sich allmählich etablierende Wanderungsforschung, die seitdem versucht, Ausmaße, Richtungen, Ursachen und Folgen von Wanderungen mithilfe von allgemein gültigen Modellen und Theorien zu beschreiben und zu begründen. Rekurrierend auf das Ravenstein’sche Modell ging die Forschung lange von der Annahme aus, dass Wanderungen durch die Diskrepanz zwischen negativen Push-Faktoren in der Herkunftsregion und positiven Pull-Faktoren in der Zielregion ausgelöst werden. Doch trotz der zweifelsohne vorhandenen Abstoßungs- und Anziehungsfaktoren weisen die Wanderungsursachen eine überaus große Variabilität auf, sodass das Push- und Pull-Modell als Erklärung heute als nicht ausreichend bewertet wird.
Die Migrationstheorien der Gegenwart stellen Phänomene wie ökonomische und gesellschaftliche Asymmetrie, soziale Netzwerke oder individuelle Lebensplanung in den Vordergrund. Allerdings geben auch die neuen Erklärungsversuche keine befriedigenden Antworten auf die Frage, warum manche Menschen migrieren, andere aber wiederum nicht. Ein alles erklärendes Modell der Wanderungen gibt es nicht und wird es auch in der Zukunft nicht geben: Denn Migration stellt einen komplexen sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozess dar, in dem Raum, Zeit und Mensch als variable Faktoren eine gleich wichtige Rolle spielen, auch wenn am Ende der Überlegungen für oder gegen die Wanderung die individuellen Faktoren ausschlaggebend zu sein scheinen. Denn schlussendlich ist das Individuum selbst, das sich dafür oder dagegen entscheidet. Eine Ausnahme hierbei stellt nur die Zwangsmigration dar. Die aus religiösen, ethnischen, sozialen oder politischen Ursachen durchgeführten Vertreibungen und Deportationen wie auch die ökologischen Katastrophen lassen den Betroffenen in der Regel keine oder nur sehr begrenzt eine Wahl zwischen Bleiben und Abwandern.
Außer der Komplexität des Migrationsprozesses scheint ein weiteres, wissenschaftsimmanentes Hindernis für die Generalisierbarkeit von Aussagen über Migration eine Rolle zu spielen. Migrationstheorien haben sich in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen – so etwa in der Demografie, Geografie, Ethnologie, der Wirtschafts-, Rechts-, Politik-, Geschichts- oder Erziehungswissenschaft – entwickelt, und die einzelnen Disziplinen haben zur Erforschung von Migrationsbewegungen eigene Teilbereiche hervorgebracht: u. a. die Migrationssoziologie, Migrationsgeografie, die Migrationslinguistik, Migrationspädagogik oder die Historische Migrationsforschung. Alle Teildisziplinen fragen zwar grundsätzlich nach den drei Hauptthemenfeldern der Migration: den Ursachen der Wanderungen, dem Wanderungsgeschehen und den Folgen der Wanderungen. Gemeinsam ist den Teildisziplinen auch, dass sie ihre Beobachtungen auf der makro-, der meso- und der mikroanalytischen Ebene durchführen. Dennoch kann von der Migrationsforschung als einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin nicht gesprochen werden, da sämtliche Teildisziplinen mit Fragestellungen und methodischen Zugriffen ihrer eigenen Disziplin an die Erforschung der Wanderungsprozesse herangehen. Aufgrund dieser mehrfachen disziplinären Verankerung nimmt die Migrationsforschung die Stellung einer Diagonalen in der Forschung ein, wodurch sie nach Michael Bommes als ein „multi- und interdisziplinäres Konglomerat an Forschungen“ zu definieren ist.[10]
Zur Migration gibt es heute eine kaum mehr überschaubare internationale und interdisziplinäre Forschungsdiskussion. Trotz aller Unterschiede ist diesen zahlreichen theoretischen Ansätzen gemeinsam, dass sie nur bestimmte Teilaspekte des Migrationsgeschehens, so die Migrationsursachen, die Auswirkungen der Migration oder Fragen der Integration, ins Visier nehmen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Forschungsansätze zu diesen drei Teilaspekten im Überblick skizziert werden.
Bereiche der Wirtschaftswissenschaft und der Soziologie setzten sich mit Migrationsphänomenen schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kontinuierlich auseinander und haben sich nicht nur wechselseitig, sondern auch die Beschäftigung anderer Disziplinen mit der Migration, darunter die Geschichtswissenschaft, stark beeinflusst. Infolge der Ausweitung der internationalen Migration in den 1960er-Jahren widmeten sich vor allem Vertreter der klassischen und neoklassischen Ökonomie und der Wirtschaftssoziologie den Ursachen und Folgen von Wanderungsbewegungen. Zurückgreifend auf das Push-Pull-Modell von Ravenstein erklärten Everett S. Lee [11] und Michael P. Todaro [12] Wanderungen als Ergebnis der Differenz zwischen Nachfrage und Angebot der Arbeitskräfte in den einzelnen Ländern und der zwischen den einzelnen Ländern bestehenden Lohndisparität. Todaro führte die Überlegungen in seiner Wert-Erwartungstheorie fort, wonach Abwanderungswillige diejenige Alternative wählen, die sie mit dem größten Nutzen, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit dessen Eintretens, verbinden.[13] George J. Borjas wies wiederum darauf hin, dass trotz der real bestehenden Lohndiskrepanz zwischen Abwanderungs- und Zuwanderungsgebiet und trotz des erwarteten Mehrwerts in der Ferne nur bestimmte Personen abwandern.[14] Die Ursache dafür erkannte er in den selektiven Merkmalen der Menschen wie z. B. Alter, Beruf oder Familienstand.
Kritisiert wurden diese mikroökonomischen Ansätze vor allem deshalb, weil sie den Migranten einseitig als homo oeconomicus in den Mittelpunkt stellten und die Wanderungsentscheidung auf eine individuelle Nutzenbilanzierung zurückführten. Neue Ansätze versuchten dagegen die Migrationsentscheidung in gesellschaftliche Strukturen, soziale Beziehungen oder ökonomische Verflechtungen einzubinden. So rückte Michael J. Piore mit seiner Segmentationstheorie die Vorstellung in den Mittelpunkt, dass Arbeitsplätze je nach Tätigkeit den Beschäftigten Prestige und Status verleihen.[15] Der Arbeitsmarkt in den Industriegesellschaften ist einerseits in qualifizierte und gut bezahlte, andererseits in unqualifizierte und schlecht entlohnte Arbeitsplätze geteilt. Da einheimische Arbeitskräfte die schlecht bezahlten und wenig angesehenen Arbeitsplätze in der Regel vermeiden, ist man bei deren Besetzung auf die Anwerbung von solchen Immigranten angewiesen, die bereit sind, diese Stellen anzunehmen, die sie zu Hause nie akzeptieren würden.
Andere systemisch-strukturelle Migrationstheorien wie u. a. von Oded Stark bestimmten dagegen die privaten Haushalte als Motor der Migration.[16] Die Wanderungsentscheidung findet demnach innerhalb der Haushalte als gemeinsamer Entschluss statt. Nicht der individuelle Nutzen des Einzelnen, sondern die kollektive Nutzenmaximierung des Haushaltes steht im Vordergrund. Familienmitglieder, die an der Arbeitsmigration beteiligt sind, wirken nach dieser Auffassung nicht nur der Verarmung der Familie entgegen, sondern tragen zugleich zur Maximierung des Einkommens und schließlich sogar der Umwandlung des ländlichen Haushaltes zu einem kapitalistischen Betrieb bei.
Die vom Sozialgeografen Akin L. Mabogunje entworfene Theorie des Migrationssystems untersucht hingegen den engen Austausch von Informationen, Gütern, Kapital und Personen, die zwischen bestimmten Ländern oder Regionen stattfinden.[17] An diesen Austauschprozessen nehmen zahlenmäßig viele Migranten teil, und deren Migration, die verschiedene Formen wie z. B. Arbeitsmigration, Bildungsmigration, Familienzusammenführung und Touristenströme annimmt, erfolgt über einen längeren Zeitraum. Zwar ist das so entstandene Wanderungssystem das Ergebnis ungleicher Entwicklungen, dennoch verläuft die Migration zwischen den beiden Ländern oder Regionen nicht nur in eine Richtung. Es finden vielmehr wechselseitige Zuwanderungen wie auch Rückwanderungen statt. Voraussetzungen für ein solches Migrationssystem sind historische, kulturelle und wirtschaftliche Verbindungen. Eine geographische Nähe ist dagegen nicht zwingend.
1974 entwickelte der Soziologe Immanuel Wallerstein seine Theorie über das Weltsystem,[18] die u. a. dem Konzept einer frühneuzeitlichen kapitalistischen Weltökonomie des französischen Historikers Fernand Braudel verpflichtet ist. Nach Wallerstein entstand bereits im 16. Jahrhundert ein Weltmarktsystem, in dem Zentren, Peripherien und Zwischenregionen in einem arbeitsteiligen Netz ökonomischer Tauschbeziehungen eng miteinander verbunden waren.
Mit der Weltsystemtheorie argumentierten auch Alejandro Portes und John Walton in ihrer 1981 veröffentlichten Untersuchung dahingehend, dass die innerhalb der Weltwirtschaft bestehende Ungleichzeitigkeit und die strukturelle Abhängigkeit zwischen Zentren und Peripherien dazu führen, dass kapitalistische Verhältnisse aus den Zentren in die peripheren, nicht-kapitalistischen Gesellschaften eindringen und dort eine breite Bevölkerung zur Auswanderung verleiten.[19]
Die Historische Migrationsforschung hat die systemtheoretischen Konzepte aufgreifend, mehrere Migrationssysteme im Laufe der Geschichte herausgearbeitet. Jan Lucassen [20], Leslie P. Moch [21] und Dirk Hoerder [22] beschrieben in ihren Arbeiten für das frühneuzeitliche Europa mehrere Systeme, darunter
1.
das System des auf die Hafen- und Handelsstädte und deren Hinterland gerichteten Ostseeraums,
2.
das System des auf die urbanen Niederlande gerichteten Nordseeraums und
3.
ein System, das Zentralfrankreich als Arbeitskräftereservoir mit dem Zentrum der Iberischen Halbinsel verband.
4.
Südosteuropa war Teil des den östlichen Mittelmeerraum umfassenden Migrationssystems des Osmanischen Reiches.
5.
Ein weiteres System verband das Zarenreich mit Mitteleuropa durch eine West-Ost-Wanderung von Experten und Kolonisten.
Infolge der sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts wandelnden politischen und ökonomischen Voraussetzungen veränderten sich diese Migrationssysteme. Während das Nordseesystem erhalten blieb, entstanden neue regionale und überregionale Wanderungssysteme, die vor allem auf die urbanen Zentren Europas ausgerichtet waren. Die kontinentalen Wanderungssysteme wurden ab 1500 außerdem durch ein erstes, aus Südwesteuropa auf Zentral- und Südamerika gerichtetes, dann durch ein zweites, aus Nordwesteuropa auf Nordamerika gerichtetes transatlantisches System erweitert.
Themenfelder der ökonomischen Migrationsforschung sind heute viel mehr als früher an den Schnittstellen zu anderen Disziplinen angesiedelt und greifen sozio- und verhaltensökonomische Aspekte auf. Die Öffnung geht nicht zuletzt auf die Adaptierung der von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu 1979 aufgestellten These zurück, der neben dem ökonomischen Kapital auf die Bedeutung des sozialen und kulturellen Kapitals beim Zusammenhalt von Großgruppen hingewiesen hat.[23] Eine Vielzahl der Theorien geht davon aus, dass das soziale Kapital, die Verankerung der Menschen in Werte-, Verhaltens- und Solidaritätsgemeinschaften, eine unverzichtbare Ressource der Migranten darstellt.
Vertreter der entscheidungs- und handlungstheoretischen Ansätze in der Soziologie wie Charles Tilly [24] entwarfen in den 1970er- und 1980er-Jahren die Theorie der Migrationsnetzwerke. Sie gingen davon aus, dass die Migranten bevorzugt jene Zielgebiete wählen, über welche sie durch bereits dorthin ausgewanderte Familienmitglieder, Freunde und Bekannte informiert sind und wo sie nach der Auswanderung mit einem helfenden Netzwerk rechnen können. Netzwerke stellen eine Form von akkumuliertem Sozialkapital dar, so Douglas S. Massey, und erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Migration und beeinflussen zugleich deren Ausrichtung.[25] Dabei entstehen Ketten von Migrationen, bei denen Nachwanderer die Beziehungen zu Vorausgewanderten als potentielle Ressource nutzen, um die Reise, die Suche nach Arbeit und die Eingliederung im Aufnahmegebiet erfolgreich vorbereiten und abwickeln zu können. Die Nachwanderung kann sogar eine Eigendynamik annehmen und ohne konkrete Migrationsursache, allein durch das Weiterwirken der Netzwerke ausgelöst, erfolgen. Diese Migrationsströme lassen sich nur schwer kontrollieren und regulieren. Eine Kettenmigration speist sich allerdings nicht immer aus dem Netzwerk im Einwanderungsgebiet. Auch der Rückgang und das Fehlen sozialer Beziehungen im Herkunftsort, verursacht durch die starke Aus- und Abwanderung von Verwandten und Bekannten, können die Kettenmigration für längere Zeit aufrechterhalten.
Mehrere Disziplinen widmen sich neben den Ursachen auch den weitreichenden Folgen der Migration sowohl für die Ab- und Zuwanderungsgesellschaften als auch für die Migranten selbst. Integrationsprozesse standen vor allem in klassischen Einwanderungsgesellschaften wie den USA von Anfang an im Mittelpunkt der Forschungen. Der erste Lehrstuhl für Soziologie wurde 1892 in Chicago gerade mit dem Ziel eingerichtet, Lösungen für jene sozialen Probleme zu finden, die infolge der Masseneinwanderung im 19. Jahrhundert entstanden waren.
Vertreter der Chicago-Schule wie Robert E. Park [26] entwickelten in den 1920er-Jahren die Theorie der Assimilation. Sie gingen davon aus, dass die Einwanderer sich allmählich in vier Stufen an die Zuwanderungsgesellschaft anpassen: Auf die Kontaktaufnahme zwischen Einheimischen und Einwanderern folgt zuerst die Phase des Wettbewerbs um Ressourcen wie etwa Arbeitsplatz und Wohnort. In einer nächsten Phase geht der Wettbewerb zu Konflikten zwischen Alteingesessenen und Migranten über, in deren Folge die Migranten zunächst Nischen der Gesellschaft zu besetzen versuchen. Mit der Zeit beginnen die Einwanderer sich der neuen Umgebung anzupassen, indem sie die grundlegenden Strukturen der Einwanderungsgesellschaft akzeptieren. Schließlich kommt es zu einem Ausgleich zwischen den miteinander konkurrierenden Gruppen von Einwanderern und Einheimischen. Das Endergebnis ist nicht eine einseitige Akkulturation der Einwanderer, sondern die Verschmelzung zu einer neuen, homogenen Gesellschaft. Die Häufigkeit und Intensität der sozialen Kontakte bestimmen, wie schnell und umfassend dieser Verschmelzungsprozess stattfindet. Für die Immigranten geht die Assimilation nach Park mit einer schmerzvollen Erfahrung einher, weil sie zunächst ein Leben in zwei Kulturen bewältigen müssen, zu denen sie nicht mehr bzw. noch nicht gehören. Park fasste diesen Zustand in dem Konzept des marginal man zusammen.
Die Assimilationstheorien der Chicago-Schule erwiesen sich sehr fruchtbar und wurden in den 1960er-Jahren wieder aufgegriffen. So beschrieb Milton M. Gordon Assimilation nicht nur als einen kulturellen, sondern zugleich einen sozialen Prozess, weil er davon ausging, dass die Identität der Immigranten vorrangig nicht durch ihre ethnische Herkunft, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse geprägt ist.[27] Die Assimilation setzt die Übernahme der Handlungsmuster der Mehrheitsgesellschaft durch die Einwanderer voraus und erst die strukturelle Assimilation eröffnet den Weg zur Akkulturation. Eine erfolgreiche Assimilation schafft Wertediskrepanzen und kulturelle Konflikte ab. In Deutschland vertritt Hartmut Esser ein in Grundgedanken ähnliches Assimilationskonzept, wonach erst der Erwerb kultureller Muster und die strukturelle Eingliederung der Migranten zu einer umfassenden Integration führen. Esser spricht in diesem Prozess dem Spracherwerb eine Schlüsselrolle zu.[28]
Gegenüber Gordon vertraten Nathan Glazer und Daniel Moynihan die Ansicht, dass sich ethnische Einwanderergruppen nur marginal unter dem Einfluss der Aufnahmegesellschaft verändern und dass sie, ohne die eigenen Identitäten ganz aufzugeben, mit der Zeit einen kulturellen Pluralismus entwickeln.[29] Dieser Prozess dient nicht nur ihrer Integration, sondern trägt zugleich zu einer kulturell pluralen Gesellschaftsordnung bei. Die Arbeiten von Glazer und Moynihan stellen einen Wendepunkt in der Forschung dar, weil sie das bis dahin vorherrschende Konzept des kulturellen Schmelztiegels widerlegten und anstelle der Assimilationstheorie eine nicht mehr unidirektionale und an die nationalstaatlichen Grenzen gebundene Theorie des Pluralismus in der Integrationsforschung einführten.
Diese Gedanken aufgreifend entwickelten die Ethnologinnen Linda Basch, Nina Glick Schiller und Cristina Blanc Szanton das Konzept der transnationalen Migration.[30] In ihren Arbeiten wandten sie sich jenen Migranten zu, die zwischen ihrem Herkunfts- und Zuwanderungsland pendeln und im herkömmlichen Sinne weder als permanente noch als temporäre, sondern vielmehr als zirkulierende Migranten zu beschreiben sind. Die Migranten schaffen über nationale Grenzen hinweg soziale Verbindungen, die durch ihre familiären Bindungen und vielfältigen ökonomischen, politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Aktivitäten voneinander entfernte geografische Standorte zu einem eigenen sozialen Raum verdichten. Mithilfe ihrer Netzwerke in den Herkunfts- und Zuwanderungsländern bewegen sich diese Migranten in transnationalen sozialen und kulturellen Räumen und entwickeln transnationale Identitäten. Das transnationale Konzept ermöglicht, neben den Migranten auch die Daheimgebliebenen stärker in den Blick zu nehmen, zu denen die Migranten weiterhin enge Beziehungen pflegen.
In der deutschen Migrationsforschung hat Ludger Pries den Forschungsansatz der Transnationalität eingeführt.[31] Nach ihm sind die dauerhaften Ortswechsel der Migranten in einem pluri-lokalen, transnationalen Sozialraum sowohl als räumliche Bewegungen als auch als soziale Wechsel zu verstehen. Die Raumerfahrung der Migranten variiert stark, abhängig von ihrer jeweiligen Chancen- und Ressourcenausstattung: Denn während kosmopolitische Jet-Setter den Raum als eine pluri-lokal oder international zusammenhängende Einheit erfahren, leben etwa Flüchtlinge in einer räumlich gespaltenen Welt, in der ihre weit entfernte Herkunftsgemeinde viel bedeutsamer sein kann als ihre Ankunftsregion.
Kritik erfuhr das Konzept der Transnationalität, weil es ihm trotz des erklärten Ziels nicht gelungen war, den nationalstaatlichen „Container“ zu verlassen. Vorgeschlagen wurde deshalb, den Blick von den geografischen und sozialen Räumen mehr auf die Differenziertheit und Komplexität der Kulturen zu verlagern. Das Konzept geht davon aus, dass Kulturen nicht homogen und klar voneinander abgrenzbar sind, sondern einander durchdringen. Migranten werden als transregionale oder translokale Akteure bewertet, die kulturelle Verknüpfungen hervorbringen. Aus der Interaktion zwischen Einheimischen und Migranten entstehen kulturelle Ausdrucksformen, die nicht einfach nur international oder transnational, sondern auch transkulturell gekennzeichnet sind. Der Philosoph Wolfgang Welsch, der den Begriff in den 1990er-Jahren in Deutschland eingeführt hatte, hob hervor, dass die durch die globale Migration hervorgerufene und immer häufigere Begegnung unterschiedlicher Kulturen zu einer Verwischung oder sogar zu einer Aufhebung der kulturellen Grenzen führt.[32] Die Folge ist eine Transkulturalität, die allerdings nicht mit einer Globalkultur oder uniformen Weltkultur gleichzusetzen ist. Vielmehr bildet sich eine Vielheit neuen Typus, die durch hybride Kultur- und Identitätsformen gekennzeichnet ist. Nichts ist gänzlich Fremdes und auch nicht gänzlich Eigenes mehr.
Andere Ansätze in der Forschung heben dagegen hervor, dass Migration eine existenzielle Erfahrung der Diversität, der Differenz oder der alltäglichen Konfrontation mit dem Anderen bedeutet. Untersucht wird deshalb die Frage, wie Gesellschaften mit der wachsenden kulturellen und religiösen Vielfalt umgehen, die durch die Einwanderungen entsteht. Da die Zuwanderung von Fremden auch für die Sesshaften eine ungeahnte kulturelle Herausforderung darstellt, stellen sich zudem die Fragen nach den sich verändernden Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung zu Immigration bzw. nach den Kompetenzen und dem Mehrwert des Immigranten für die Zuwanderungsgesellschaft.
Migration wurde lange Zeit als ein androzentrisches Phänomen betrachtet, bei dem Frauen lediglich als Anhängsel wandernder Männer oder als Zurückgebliebene wahrgenommen wurden. Seit den 1980er-Jahren etablierte sich ein Forschungsansatz, der Fragen der Migrations- und Frauenforschung miteinander verbindet. In zahlreichen Studien, darunter in den Arbeiten von Hasia R. Diner, wurde seitdem die Annahme widerlegt, dass Frauen weniger mobil seien als Männer.[33] Allerdings konzentriert sich die Forschung auch in diesem Bereich weitgehend auf die Zeit seit der Industrialisierung. Die geschlechtertheoretische Migrationsforschung greift transkulturelle und intersektionale Perspektiven auf, wodurch verschiedene Kategorien wie etwa Geschlecht, Ethnie und Alter mit dem Ziel in die Untersuchungen einbezogen werden, multiple Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse zu analysieren.
Infolge der globalen Zunahme von Wanderungsbewegungen und des gleichzeitigen Wunsches, Migration zu steuern und zu lenken, wurden in der Politikwissenschaft Theorien zu Governance und Management von Migrationen entwickelt. Ansätze dieser Theorien wurden auch von der Historischen Migrationsforschung aufgegriffen und weiterentwickelt, indem Migranten nicht ausschließlich als Objekte betrachtet werden, sondern auch als handelnde Subjekte. Im Fokus des Forschungsansatzes „Migrationsregime“ stehen Fragen nach den staatlichen Praktiken, Organisationen und Institutionen einerseits und den Handlungsmöglichkeiten der Migranten andererseits. Damit versucht das Konzept des Migrationsregimes – anders als alle anderen Konzepte –, einen komplexen Zugriff auf sämtliche Teilaspekte des Migrationsprozesses zu gewinnen.
Nach Jochen Oltmer, der sich in Deutschland dezidiert diesem Forschungsansatz widmet, erfolgt Migration immer unter bestimmten Kontroll-, Steuerungs- und Kategorisierungsmaßnahmen, an deren Bestimmung und Durchsetzung mehrere Akteure beteiligt sind.[34] So versuchen institutionelle Akteure bei der angestrebten Regulierung der Wanderungs- und Niederlassungsvorgänge ihre eigenen Normen, Gesetze und Strategien durchzusetzen, können aber die spezifischen Merkmale oder Interessen der Migranten nicht ignorieren. Diese entwickeln nicht selten eigene Strategien, um Einfluss auf die Praktiken der staatlichen Institutionen zu nehmen. Migration ist deshalb immer auch als ein Aushandlungsprozess zu definieren. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Gestaltung ist nicht nur von den Interessen der Akteure, sondern auch von politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Verwaltungstechniken und Steuerungsinstrumenten stark beeinflusst.
Nach dieser kursorischen Darstellung der wichtigsten theoretischen Ansätze zur Erklärung von Migrationen kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sie stets aus den aktuellen Herausforderungen ihrer Zeit entstehen und somit immer im zeitlichen Kontext ihrer Entstehung zu beurteilen sind. Ihre Übertragbarkeit auf aktuelle oder historische Migrationen ist deshalb auch nicht immer möglich, doch ihre zentralen Aussagen behalten meist ihre Gültigkeit.