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1.4 Die Typologie der Migration

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Kategorisierungen und Typologisierungen sind Konstruktionen, mit deren Hilfe die Vielzahl der Migrationsformen überschaubar gemacht werden kann. Von den zahlreichen Kriterien, wonach Migrationsbewegungen unterschieden werden können, sollen hier lediglich drei grundlegende Kriterien, nämlich das zeitliche, räumliche und kausale, vorgestellt werden.

Betrachtet man den zeitlichen Aspekt, wie etwa Dauer und Verlauf von Migration, so ist zwischen dauerhaften Aus- und Abwanderungen einerseits und saisonalen und mehrjährigen Wanderungen andererseits zu unterscheiden. Im ersten Fall hat man es mit einem endgültigen Wechsel des Lebensmittelpunktes zu tun, im zweiten Fall handelt es sich um eine Migration, bei der der Wechsel des Lebensmittelpunktes nur für eine bestimmte Dauer entweder einmalig oder in sich regelmäßig wiederholenden zeitlichen Abständen erfolgt. Zählten in der Frühen Neuzeit zu der ersten Gruppe etwa die Amerika-Auswanderer, so gehörten deutsche Studenten an ausländischen Universitäten oder Wanderhändler beispielsweise aus Savoyen in Süddeutschland zur zweiten Gruppe.

Unter dem räumlichen Aspekt kann Migration als Nah- oder Fernwanderung typologisiert werden. Dabei wurden in der Frühen Neuzeit Verwaltungs-, Herrschafts- oder Territorialgrenzen passiert und sogar kontinentale Grenzen überschritten. Unterscheiden kann man auch nach der Bewegungsrichtung der Migranten, und zwar zwischen einer unidirektionalen, einer etappenweise erfolgten Wanderung mit Zwischenaufenthalten, einer zirkulären Wanderung und schließlich der Rückwanderung. Für den ersten Fall stehen etwa Siedlungsmigranten in Brandenburg-Preußen, für den zweiten jene Hugenotten, die zunächst in die Schweiz flüchteten und von dort in einen der deutschen Territorialstaaten weiterwanderten. Für die zirkuläre Wanderung mit mehr oder minder regelmäßigem Wechsel zwischen zwei Räumen können exemplarisch jene Saisonarbeiter aus Westfalen genannt werden, die jedes Jahr in die Niederlande als Torfstecher oder Grasmäher zogen. Dagegen sind für die Rückwanderer all jene Auswanderer zu nennen, die von den Verhältnissen in der Ferne enttäuscht in die alte Heimat zurückkehrten.

Thomas Klingebiel hat auf die Bedeutung der räumlichen Dimension der frühneuzeitlichen Migration hingewiesen.[36] Von der räumlichen Entfernung zwischen dem Herkunfts- und Zielort hing es in der Regel ab, ob ein Migrant in seinem gewohnten sozialen und kulturellen Milieu bleiben konnte oder ob er sich einer fremden Umwelt anpassen musste. Nähe und Ferne waren allerdings relative Größen, denn die Überschreitung einer politischen, sprachlich-kulturellen oder religiös-konfessionellen Grenze bedeutete auch bei einer kleineren geografischen Distanz viel mehr Ferne als eine große geografische Entfernung innerhalb des eigenen territorialen, sprachlichen oder konfessionellen Raumes.

Fragt man nach den Hintergründen und Motiven von Wanderungen, so sind wiederum zwei Formen auszumachen: die unfreiwilligen und die freiwilligen. Im Fall der unfreiwilligen Migration spielt Gewalt, die als eine durch Gesellschaft und Herrschaft historisch und kulturell variable Form körperlicher oder psychischer Aggression zu definieren ist, die zentrale Rolle. Verbunden mit der Migration manifestierte sich Gewalt im Verlauf der Geschichte in Form von Deportation, Vertreibung, Ausweisung, Abschiebung oder Zwangsumsiedlung. Flucht und Exil waren Reaktionen auf die drohende bzw. reale Gewalt. In der Frühen Neuzeit reichte die Bandbreite der Zwangsmigration von der Verschleppung und Versklavung von Millionen von Afrikanern über die Vertreibung von nicht staatskonformen religiösen Gruppen oder die Ausweisung von nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechend handelnden Bürgern bis hin zur Abschiebung von unerwünschten Bettlern, Armen und Vaganten. War die Zwangsmigration im Fall der Sklaven mit dem Hauptziel verbunden, die eigenen ökonomischen Ressourcen zu erweitern und die Versklavten als billige Arbeitskraft einzusetzen, so wurden die Vertreibung und Abschiebung von Einzelpersonen und Gruppen aus dem eigenen Untertanenverband als Strafe für die Betroffenen, aber auch als Abschreckung der Gebliebenen angewandt. Wurden als Ketzer und Häretiker diffamierte Andersgläubige wie etwa Protestanten in katholischen Ländern als Hindernis bei der Durchsetzung der konfessionellen Homogenisierung des frühneuzeitlichen Staates betrachtet und deshalb vertrieben, so war im Fall von fremden Bettlern und Vaganten wiederum ihre nicht-sesshafte Lebensform der Grund für ihre Abschiebung.

Eine große Vielfalt ist auch den freiwilligen Wanderungen zu eigen, die aus der Erwartung des Migranten auf eine neue Lebenschance oder die Verbesserung seiner Lebenslage oder wenigstens deren Aufrechterhaltung erfolgen. Die Erwartungen können wirtschaftlich, sozial, politisch, religiös oder persönlich motiviert sein; nicht selten treten mehrere Motive gleichzeitig und miteinander eng verflochten auf. Wirtschaftlich und sozial motivierte Wanderungen, die man zusammenfassend auch als markt- und lebensweltbedingte Migrationen bezeichnen kann, wurden auch in der altständischen Gesellschaft einerseits durch Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften bzw. Berufsanforderungen des merkantilistischen Marktes, andererseits durch spezifische Lebenserwartungen der Menschen ausgelöst. Die Formen reichen von der Wanderung von Experten mit Spezialkenntnissen über saisonale Wanderarbeit, Gesindedienst leistende Knechte und Mägde bis hin zur Heiratswanderung. Zu den freiwilligen Wanderungen sind auch die Einwanderungen aus dem ländlichen Bereich in die Städte oder die staatlich gelenkten und mit Privilegien geförderten Siedlungsmigrationen zu zählen. Auch ausbildungsbedingte Migrationen gehören dazu, so etwa die Migration von Studenten oder jungen Adeligen auf Kavalierstour.

Wie fließend allerdings die Grenzen zwischen den einzelnen Wanderungsformen waren, zeigt das Beispiel der Hugenotten. Anders als etwa die Lutheraner im Kirchenstaat Salzburg, die aufgrund eines Ausweisungserlasses von 1731 ihre Heimat verlassen mussten, wurden die Calvinisten aus Frankreich nicht ausgewiesen. Das königliche Edikt von Fontainebleau von 1685 verbot sogar den Hugenotten die Auswanderung bei gleichzeitiger Zusicherung des Bleibe- und Besitzrechts, wenn sie darauf verzichteten, ihre Konfession auszuüben. Damit gerieten ihrem Glauben treue Hugenotten in eine Zwangslage, weshalb viele von ihnen Frankreich fluchtartig verließen, während andere den Glaubenswechsel oder ein Leben im Untergrund wählten.

Ebenso fließend konnten die Grenzen bei Wanderungen sein, die infolge von Kriegen, Epidemien oder Naturkatastrophen ausgelöst wurden, denn die Menschen auf der Flucht wählten in der Ferne häufig die dauerhafte Ansiedlung und kehrten nach Normalisierung der Verhältnisse in ihren Heimatregionen nicht wieder zurück. Selbst zu Friedenszeiten praktizierte Migrationsformen konnten einen gewissen Zwangscharakter tragen. Oft ließen sich beispielsweise von ihren Zünften zur Walz verpflichtete Handwerksgesellen während ihrer Wanderschaft in einem der aufgesuchten Orte nieder, der für sie anders als ihr Heimatort sichere Arbeits- und Niederlassungsbedingungen eröffnete. So wurden aus den temporären Migranten Auswanderer.

Die Typologisierung wirft zugleich die Frage auf, inwieweit eigens für die Zeit von 1500 bis 1800 charakteristische Migrationsformen ausgemacht werden können. Auf den ersten Blick gibt es kaum solche Formen, die es nicht schon im Altertum oder im Mittelalter gab. Kriege und Eroberungen oder die Ausweitung der herrschaftlichen Gewalt konnten schon vor 1500 zu Flucht, Vertreibung oder Zwangsumsiedlungen führen. So hatte etwa Karl der Große die Zwangsumsiedlung rebellischer Sachsen angeordnet, deren Zahl nach dem Biografen des Kaisers, Einhard, 10.000 Männer samt ihren Frauen und Kindern betrug.[37] Auch religiös motivierte Flucht und Zwangsmigrationen gab es bereits im Mittelalter, wie das Beispiel der aus den Alpentälern durch Herzogin Jolante von Savoyen in den Jahren 1475/76 vertriebenen Waldenser zeigt. Die abwechselnden Vertreibungen von Hussiten und Katholiken in Böhmen zwischen 1419 und 1437 stellen sogar eine erste Form von Vertreibung konfessioneller Art dar. Neu in der Frühen Neuzeit war allerdings die Verbindung der staatlichen Homogenisierungsbestrebungen mit der gegenseitigen Bekämpfung der gerade im 16. Jahrhundert entstandenen Konfessionen, wodurch sich eine spezifische Konstellation der Hintergründe für die religiös/konfessionell motivierte Flucht und Vertreibung ergab.

Auch im Fall der freiwilligen Wanderungen ist es schwer, eine Form auszumachen, die es nicht schon vor 1500 gab. So wurden schon im Altertum Städte und Kolonien mit planmäßigen Siedlungen auch in großer Entfernung von dem Mutterland gegründet oder im Mittelalter zahlreiche Auswanderer aus den italienischen, wallonischen und deutschen Gebieten im Rahmen der sogenannten Ostkolonisation in der östlichen Hälfte Europas mit weitreichenden Privilegien angesiedelt.

Auch bei den berufs- oder marktbedingten Wanderungen gab es zahlreiche Handwerker, die ihren Wohnsitz über territoriale Grenzen hinaus wechselten. Ebenso gab es schon im Mittelalter Kaufleute, Faktoren und Lehrlinge, die längere oder kürzere Zeit im Ausland verbrachten, so etwa an der Fondaco dei Tedeschi in Venedig oder an den Hansekontoren in Bergen, Brügge, Nowgorod oder London. Und bereits im Mittelalter verließen zahlreiche Bauern ihre Dörfer, um sich in einer Stadt niederzulassen. Sogar gewisse Formen saisonaler Arbeitsmigration sind auszumachen, wie etwa im Fall der Seeleute entlang der Meeresküsten oder jener Viehtreiber aus den Rinder züchtenden polnischen und ungarischen Regionen, die jedes Jahr große Ochsenherden auf die Märkte von Wien bis Frankfurt am Main im Auftrag von Grundbesitzern und Viehbauern trieben. Auch Gelehrte und Studenten waren zwischen königlichen und fürstlichen Residenzen oder zu Orten der Gelehrtheit in Europa unterwegs.

Die frühneuzeitlichen Migrationsformen stellen gegenüber den früheren Formen dennoch eine neue Qualität dar. Die Grundlage dafür waren Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, die dazu führten, dass mehr Menschen an den Migrationsprozessen beteiligt waren. An den Nah- und Fernwanderungen nahmen alle sozialen Schichten der Gesellschaft teil – selbst die Schollengebundenheit der ländlichen Bevölkerung stellte hierbei kein Hindernis dar, wie die Auswanderer, die Heirats- und Arbeitsmigranten oder die Kaufleute aus dem dörflichen Milieu belegen. Darüber hinaus waren zahlreiche überregionale und großräumige und sogar Kontinente miteinander verbindende Migrationsbeziehungen entstanden. Die regelmäßigen und dauerhaften grenzüberschreitenden Migrationsbeziehungen zwischen den an Arbeitskräftemangel leidenden entwickelten Regionen und den über freie Arbeitskraft verfügenden wirtschaftlich eher rückständigen Regionen in Europa führten zugleich dazu, dass sich Wanderungsräume und -systeme herausbildeten. Ebenso kam es auch zu intensiven Migrationsbeziehungen im kulturellen Bereich, so etwa in der Elitenwanderung oder der studentischen Peregrination. Hierbei hatten konfessionelle Zugehörigkeit und im Namen des gemeinsamen Bekenntnisses praktizierte Solidaritätsgemeinschaft eine raumbildende Funktion. Es wurden auch Praktiken und Methoden zur Kontrolle und Regulierung von Migrationsbewegungen entwickelt. Auch kam es zur Verbesserung der Transport- und Reisemittel, die eine schnellere Mobilität ermöglichten. Insgesamt bewirkte die Vermehrung von Bevölkerung, Migrationsbeziehungen und Verkehrswegen eine Verdichtung sozialer und gesellschaftlicher Interaktionen.

Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit

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