Читать книгу Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit - Marta Fata - Страница 7
I. Einführung
ОглавлениеZwei Abbildungen – eine Aufnahme des ungarischen Pressefotografen Zsolt Reviczky im Sommer 2015 (vgl. Abb. 1) und ein Kupferstich des Augsburger Künstlers Elias Bäck (vgl. Abb. 2), erschienen 1733 – stellen Migranten in verblüffend ähnlicher Art und Weise dar. Ein langer Zug von Menschen mit wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken oder in der Hand bewegt sich auf einer Landstraße irgendwo in Europa.
Das Pressefoto hielt fest, womit ganz Europa seit 2015 elementar konfrontiert ist: die weltweite Fluchtbewegung, verursacht durch Krieg, Verfolgung, Klimakatastrophen und Armut. Umfasste die Gruppe der Asylbewerber in der Europäischen Union 2014 noch rund 627.000 Personen, so verdoppelte sich deren Zahl 2015 auf über 1,3 Millionen. Die hohe Zahl von Migranten löste in der Staatengemeinschaft eine bis heute andauernde und kontrovers geführte Debatte aus. Eine der Ursachen dafür ist das lückenhafte Völkerrecht. So definiert etwa die Genfer Flüchtlingskonvention diejenige Person als Flüchtling, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt […].“[1] Die Erklärung bezieht sich allerdings nicht eindeutig auf Menschen, die vor kriegerischen Auseinandersetzungen oder Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure wie Rebellen oder Milizen fliehen, und lässt somit Interpretationsspielräume zu. Deren negative Folgen müssen Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak erfahren, die nicht generell unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, und deren Anträge auf Asyl deshalb einzeln geprüft werden müssen.
Abb. 1 Zsolt Reviczky, Flüchtlinge in Ungarn im Sommer 2015.
Abb. 2 Elias Bäck, Einzug der Salzburger Emigranten in Memmingen 1731.
Anders als die vor Krieg Geflüchteten haben die in Massen vor allem vor Not und Chancenlosigkeit aus den afrikanischen Ländern Fliehenden in der Regel keine Aussicht, den Asylantenstatus zu erhalten. Dies hält sie allerdings von der gefahrenreichen Flucht aus ihren Heimatländern nach Europa nicht ab. Bei der Überquerung des Mittelmeeres geraten sie immer wieder in Seenot, und nicht wenige von ihnen finden auf dem Meer den Tod. Ein allgemein gültiges internationales Recht für schiffbrüchige Geflüchtete gibt es jedoch nicht. So gilt in ihrem Fall „lediglich“ die ethisch-moralische Pflicht eines jeden Menschen, seinen Mitmenschen zu helfen und sie vor dem Tod zu retten. Aber gerade dies wird mit der Einstellung der staatlich geförderten Rettungsaktionen in Frage gestellt.
Leidenschaftlich diskutiert wurde in den letzten Jahren nicht nur über die Aufnahme, sondern auch über die Verteilung der Migranten innerhalb der Staatengemeinschaft. Auf dem Höhepunkt der Migration 2015/16 zeigte sich, dass die EU über keine einheitliche und gut funktionierende Migrationspolitik verfügt. Laut dem EU-Vertrag von Dublin ist nämlich immer derjenige Mitgliedsstaat für einen Migranten und seinen Asylantrag zuständig, in den er zuerst eingereist ist. So sind schon seit Langem die Staaten an den Außengrenzen der Union, vor allem Italien und Griechenland, durch die Aufnahme der Migranten belastet. Als 2015 Ungarn die durch Griechenland auf der Balkan-Route in das Land illegal eingereisten Migranten nicht weiterfahren lassen wollte und sich gegen ihre Aufnahme entschied, handelte es nach international geltendem Recht. Die EU-Kommission, die zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermitteln versuchte, konnte allerdings auch schon deshalb keinen Erfolg erzielen, weil Ungarn wie auch die dem ungarischen Beispiel folgenden anderen ostmitteleuropäischen Staaten ihre einzelstaatlichen Interessen höher einstuften als die gesamteuropäischen. Ihre Haltung ist deshalb von den meisten Regierungen und der öffentlichen Meinung in den westlichen Mitgliedsstaaten unter europapolitischen und moralischen Gesichtspunkten negativ bewertet worden.
Besonders eklatant traten die Gegensätze zwischen Ungarn und Deutschland zu Tage, in denen zwei der am weitesten auseinanderliegenden Positionen der gesamten Debatte zum Tragen kommen. Ungarn argumentiert auf der Grundlage der nationalstaatlichen Souveränität und setzt dazu Mittel wie die Grenzsicherung durch den Bau von Zäunen ein. Es folgt darüber hinaus einer Zukunftsvorstellung, die den demografischen Rückgang nicht mit Einwanderung, sondern mit einer großzügigen Familienpolitik zu lösen versucht. Die Arbeitswanderung der Ungarn in die westlichen EU-Staaten bei gleichzeitiger Einwanderung von Gastarbeitern nach Ungarn zeigt allerdings, dass diese Politik nicht ausreicht und die Verschleierung von ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen durch Nationalismus kein geeigneter Weg sein kann.
Die Position in Deutschland dagegen basierte noch bis vor kurzem ausschließlich auf der Idee, dass Wohlstand und freie Grenzen für alle einander nicht ausschließende Kriterien seien. Doch allmählich wurde dieser Standpunkt durch die Diskussionen über die Grenzen des Wohlfahrtsstaates und das Erstarken skeptischer und antidemokratischer Haltungen innerhalb der Bevölkerung abgelöst. Während viele in Deutschland und in Europa der Meinung sind, dass mithilfe der weltweiten Migranten dem Fachkräftemangel und der demografischen Alterung der Bevölkerung vorzubeugen ist, betrachten nicht wenige die Zuwanderung als Bedrohung. Sie befürchten durch die Aufnahme von mehrheitlich armen und weniger gut ausgebildeten Migranten mit muslimischer Religionszugehörigkeit ökonomische Belastungen und politische Instabilität sowie eine kulturelle Überfremdung. Sie sehen auch die Gefahren eines staatlichen Kontrollverlustes und einer um wirtschaftliche und soziale Ressourcen geführten Konkurrenz zwischen Einheimischen und Zuwanderern.
Der Kupferstich von Bäck stellt den Einzug der Salzburger Exulanten in der evangelisch-lutherischen Reichsstadt Memmingen im Jahre 1732 dar. Zwischen November 1731 und August 1732 waren etwa 20.000 Migranten aus dem Fürsterzbistum Salzburg in den verschiedenen Territorien des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und einige bald auch in die britische Überseekolonie Georgia unterwegs. Den Anlass zu ihrer Migration bot der Ausweisungserlass des Landesherrn Leopold Anton von Firmian vom 31. Oktober 1731.
Der seit 1727 regierende Fürsterzbischof war ein entschiedener Gegner des Protestantismus, der mit seiner Aktion zur Aufspürung und Missionierung der Geheimprotestanten in den Jahren von 1728 bis 1730 seine nicht katholischen Untertanen herausforderte. Als wegen dieser konfessionellen Bedrückung evangelisch-lutherische Familien auswandern wollten, aber dazu die Genehmigung nicht erhielten, wurde im Juni 1731 eine „Supplikation der Lutherischen Saltzburger Paurn“ im Namen von etwa 18.500 Personen an das Corpus Evangelicorum, die gemeinsame Körperschaft der lutherischen und reformierten Reichsstände im Heiligen Römischen Reich, geschickt. Darin baten die Bauern die Reichsstände um Hilfe bei der Durchsetzung ihrer Forderung, entweder ihre Religion frei ausüben oder frei auswandern zu dürfen. Das Corpus Evangelicorum nahm Verhandlungen mit den katholischen Reichsständen auf und verlangte, das Patent im Sinne der Beschlüsse der Westfälischen Friedensverträge von 1648 abzuändern; es war jedoch an Kompromissen und nicht an der Entfachung von konfessionellen Gegensätzen im Reich interessiert.
Der Erzbischof, der die Ausweisung beschloss, hatte mit dem Emigrationspatent die formale reichsrechtliche Regelung des Friedens auf seiner Seite. Er konnte sich darauf beziehen, dass in seinem Land die katholische Konfession stets die einzig approbierte Religion war und auch im Sinne der sogenannten Normaljahrregelung des Friedens im Fall von Salzburg den Protestanten weder das Recht der öffentlichen noch der privaten Religionsausübung zustand. Und weil der Erzbischof die Geheimprotestanten deshalb nicht als religiöse Gemeinschaft, sondern als politische Rebellen betrachtete, räumte er ihnen auch nicht eine längere Abzugsfrist ein, die Auswanderern aus Glaubensgründen im Sinne des Westfälischen Friedens zustand, um ihr Hab und Gut veräußern zu können.
Mit seinem Vorgehen löste Firmian diplomatische Querelen im Reich aus. Die ersten Vertriebenen, die zur Schicht des besitzlosen Gesindes gehörten, hatten ihre Heimat innerhalb einer Woche am 24. November 1731 bei Kälte und Schnee zu verlassen, und weil der Fürstenstaat mit Bayern im Vorfeld keine Gespräche über den Durchzug der Vertriebenen geführt hatte, mussten diese an der Grenze wochenlang warten. Auch war man nirgendwo auf ihren Empfang vorbereitet, sodass sie zunächst ziellos in Süddeutschland umherirrten. Bauern und Handwerker, denen wiederum eine Frist von bis zu drei Monaten eingeräumt wurde, konnten dagegen aufgrund des Einladungspatentes des preußischen Königs vom 2. Februar 1732 bereits in 16 geordneten Zügen direkt nach Preußisch-Litauen auswandern. Damit rettete Friedrich Wilhelm I. nicht nur die Emigranten vor dem Abgrund, sondern zugleich auch das Reich vor einer politischen Krise.
Die Salzburger Emigranten zogen unter Jubel durch die protestantischen Städte und Gebiete in ihre neue Heimat, „worinnen Milch und Honig der Evangelischen Wahrheit fliesset“ – so der Untertitel des 1733 in Augsburg mit den bildlichen Darstellungen von Bäck erschienenen Buches. Die Vertriebenen wurden unterwegs von einer Welle der Hilfsbereitschaft getragen. Sie galten als Vorbilder für Glaubensfestigkeit, weshalb ihr Schicksal auch propagandistisch in zahlreichen Schriften, Flugblättern, Liedern und bildlichen Darstellungen benutzt wurde, um die Stimme gegen die Vertreibung aus religiösen Gründen zu erheben.
Allerdings war die aufgrund religiöser Solidarität geleistete Hilfe für die Salzburger nicht mit einer allgemeinen Bereitschaft der protestantischen Fürsten gleichzusetzen, die vertriebenen Glaubensgenossen aufzunehmen. Besonders aufschlussreich ist die unterschiedliche Haltung von Brandenburg-Preußen und Württemberg. Der württembergische Herzog Eberhard Ludwig zeigte sich gegenüber den Vertriebenen restriktiv. Es wurde zwar bei der herzoglichen Regierung eine Deputation eigens für die Vertriebenen eingerichtet und die Beamten wurden angehalten, ihnen den Durchzug zu erleichtern. Doch dauerhaft aufgenommen werden sollten nur jene wenigen Migranten, bei denen ein besonderer ökonomischer Nutzen zu erwarten oder spezifische handwerkliche Fertigkeiten vorhanden waren. Andere sollten dazu bewogen werden, weiterzuziehen und das Land zu verlassen. Dagegen erklärte sich der preußische König bereit, die Mehrheit der Vertriebenen aufzunehmen, um seine unter Arbeitskräftemangel leidenden Gebiete in Preußisch-Litauen voranzubringen. Nicht die Solidarität mit den eigenen Glaubensgenossen, sondern eigene, ökonomische Anliegen standen in beiden Fällen an erster Stelle: in Württemberg der Blick auf die begrenzten eigenen Ressourcen, die keine Aufnahme von Einwanderergruppen ermöglichten, in Preußen die Unterbevölkerung des Landes, die eine solche Aufnahme erforderten.
Durch gewisse Ähnlichkeiten der hier skizzierten aktuellen und historischen Migrationsereignisse drängt sich die folgende Frage regelrecht auf: Welchen Mehrwert besitzen historische Untersuchungen über Wanderungsbewegungen? Migration gehört zum Wesen des menschlichen Lebens oder wie Klaus J. Bade, der Begründer der Historischen Migrationsforschung in Deutschland, formulierte: „Migration ist ein Konstituens der Conditio humana wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod. Die Geschichte der Wanderungen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte; denn der Homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet.“[2] Historische Darstellungen rufen somit in Erinnerung, dass Menschen seit jeher aus den unterschiedlichsten Gründen freiwillig oder unfreiwillig wanderten.
„Trotz dieser Tatsache wird nach wie vor am Mythos der Sesshaftigkeit der (Welt-)Bevölkerung festgehalten“, schreibt Sylvia Hahn in ihrem Beitrag über die allgemein verbreitete Ansicht, dass es in der Vergangenheit noch nie so viele Wanderungsbewegungen gab wie heute.[3] Die Ursache für dieses Bild sieht Hahn historisch begründet: Denn im 19. Jahrhundert, als die großen Massenauswanderungen und die durch die Industrialisierung und Urbanisierung hervorgerufenen Wanderungen breite Bevölkerungsschichten verunsicherten, wurde Sesshaftigkeit zu den „wichtigsten socialen und wirtschaftlichen Tugenden“[4] erhoben. Nicht anders verhielt es sich in der Frühen Neuzeit, insbesondere zur Zeit der regen Binnenwanderungen und beginnenden Massenauswanderungen im 17. und 18. Jahrhundert, als die Policeyordnungen die Sesshaftigkeit zur Norm erhoben haben. Sesshaftigkeit wurde immer mehr zu einer positiven gesellschaftlichen Errungenschaft, während Mobilität als eine negative, ja in vielen Fällen sogar deviante Verhaltensweise galt. In der heutigen Angst vor Migrationen steckt auch diese, in der kollektiven Erinnerung verankerte historische Bewertung. Untersuchungen über historische Wanderungsbewegungen können helfen, diese Angst zu nehmen, damit aktuelle Herausforderungen mit der erforderlichen Nüchternheit betrachtet werden.
Innerhalb der Geschichtswissenschaft setzt sich die Historische Migrationsforschung als eine noch immer wachsende Teildisziplin zur Aufgabe, räumliche Bevölkerungsbewegungen in der Geschichte zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. Jochen Oltmer hat diese Aufgabe in elf Punkten konkretisiert.[5] Die historisch ausgerichtete Migrationsforschung fragt demnach
1.
nach den Hintergründen und Bedingungen von Migrationsentscheidungen,
2.
den Mustern räumlicher Bewegungen zwischen Herkunfts- und Zielgebieten im Kontext der Wechselbeziehungen zwischen den beiden Räumen,
3.
den Netzwerken und Organisationen von Migrationen,
4.
den Erwartungen und Erfahrungen von Migranten,
5.
den Dimensionen, Formen und Folgen von Migrationen,
6.
den Lebensverhältnissen und Lebensverläufen von Migranten,
7.
der Identitätsbildung im Prozess von Migration und Integration,
8.
den Bemühungen und Einflussmöglichkeiten von Obrigkeiten, Staaten und Institutionen um Migration und Integration,
9.
der Wissensproduktion über Migration,
10.
der Genese von Migration als Medienereignis und
11.
den Rückwirkungen der Abwanderung auf Menschen und Strukturen in den Ausgangsräumen.
Eine besondere Herausforderung von migrationshistorischen Darstellungen lautet, diese Fragen in dem jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zu beantworten. Zur Zeit der Salzburger Exulanten bedeutete dieser Kontext: Ständegesellschaft, ein vormoderner Staat, nicht vorhandene Rechtsgleichheit, fehlende universelle Menschen- und Freiheitsrechte; heute bedeutet er: Rechtsgleichheit, Menschenrechte und starke, im Sinne einer Staatsverfassung wirkende staatliche Institutionen.